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# taz.de -- Premiere in der Komischen Oper Berlin: Wir schaffen das
> Barry Kosky inszeniert die „Großherzogin von Gerolstein“ von Jacques
> Offenbach. Und demonstriert die Macht des Theaters über die böse
> Pandemie.
Bild: Eine Oktave tiefer als in der Partitur: Bariton Tom Erik Lie als „Die G…
War alles umsonst? So schien es, als letzten Mittwoch spät in der Nacht
Angela Merkel nach der Krisensitzung im Kanzleramt die Entscheidung bekannt
gab, dass auch Theater und Opern geschlossen werden. Gerade diese
Institutionen hatten mit penibel befolgten Hygieneregeln gezeigt, dass
mitten in der Pandemie Vorstellungen vor Publikum möglich sind, die allen
Maßstäben der Kunst genügen.
Sie waren Refugien des Geistes, und insbesondere die Komische Oper in
Berlin hatte mit Beckett, Schönberg und Dagmar Manzel ein eindrückliches
Beispiel dafür geliefert, wie mit minimalistisch reduzierten Mitteln
maximale Wirkungen erzielt werden können.
Nein, es war nicht umsonst. In den wenigen Herbstwochen vor dem Shutdown
hat Barrie Kosky eine Version von Jacques Offenbachs Kassenschlager „Die
Großherzogin von Gerolstein“ einstudiert, die womöglich noch darüber
hinausgeht. Es gibt kein Bühnenbild mehr, es gibt nur noch Kostüme.
## Kugelrund aufgepumpte Männer
Reifröcke von mehreren Metern Durchmesser für Frauen, Anzüge in absurder
Übergröße für kugelrund aufgepumpte Männer. [1][Koskys ständiger
Kostümbildner Klaus Bruns] hat sie entworfen, und sie sorgen dafür, dass
der verordnete Mindestabstand zwischen möglicherweise infizierten Personen
jederzeit eingehalten wird.
Auch im Orchestergraben diktiert das Virus die Regeln. Gerade mal 18
Musikerinnen und Musiker spielen nur die Instrumente, die unbedingt nötig
sind. Keine Stimme ist mehrfach besetzt, selbst die Streicher sind auf das
klassische Quartett reduziert, ein einsamer Kontrabass gibt den
harmonischen Grundton vor. Daraus entsteht ein Offenbach, der so wohl noch
nie zu hören war.
Es keineswegs eine der Not geschuldete Sparversion. Im Gegenteil, zu hören
ist das, was man die „Essenz“ nennen könnte, nämlich das, worauf es
wirklich ankommt in dieser Musik, auch dann, wenn sie mit großer Geste in
vollem Klang daherkommt.
## Lustig sind die Lieder
Musik ist selten in sich selbst komisch. Sogar in Mozarts Komödien sind die
Situationen und Personen komisch, nicht die Töne. In Offenbachs
„Großherzogin von Gerolstein“ ist es umgekehrt. Die Handlung ist ein
kompletter Unsinn. Eine alte Dame besucht ihre Soldaten auf der Suche nach
einem Liebhaber. Lustig sind daran nur die Lieder zwischen dem albernen
Gerede, wild durcheinander, mal tschingderassabumtätä, dann selig
schwelgend oder in Gruppen, die im Rossini-Groove zusammenkommen.
Der eigentlich dafür eingeplante Dirigent blieb in irgendeiner Quarantäne
stecken. Kurzfristig sprang die junge Russin Alevtina Ioffe für ihn ein.
Sie dirigiert das nun endlich in allen Einzelheiten durchhörbare Konzentrat
genialer Einfälle und Stilzitate so sicher und klar, dass auch die leise
Trauer über die Vergeblichkeit unserer Liebesmühen mitklingt, die zu jeder
echten Komik gehört, auch der innermusikalischen.
Darauf ließ sich großes Theater bauen, ein absolutes, universales Theater
sogar, das jede denkbare Pandemie tödlicher Viren weit hinter sich lässt.
Alles wird möglich. Der Bariton Tom Erik Lie zum Beispiel gehört seit
Jahren zum festen Bestand des Ensembles. Er ist jetzt die Großherzogin. Das
ist wörtlich zu nehmen. Er spielt keine Frau auf libidinösen Abwegen. Er
ist ein Mann, deshalb singt er eine Oktave tiefer, als die Noten es
vorsehen.
## Die Großherzogin spricht Norwegisch
Er singt großartig und kommt aus Norwegen. Wenn er nicht singt, spricht er
norwegisch. Das versteht hier niemand. Wozu auch? Die Großherzogin drapiert
ihre Riesenrobe um einen winzigen Kindersitz herum und setzt sich hin.
Minutenlange Generalpausen, die nicht in der Partitur stehen, erzeugen
immer wieder eine hochdramatische Spannung, die es eigentlich auch nicht
gibt.
Es ist Kindergeburtstag, Riesenpuppen führen Kriege, die es nie gab. Ivan
Turšic, der Tenor, hat sich verliebt, aber Alma Sadé, der Sopran, steckt im
Abstandsrock. Alles ist nur das, worauf es in jedem Theater ankommt, auch
wenn es anders aussieht, tragisch und tiefsinnig. Es muss immer ein Spiel
sein. Kann man bei Aristoteles nachlesen, bei Brecht auch. Bei Kosky kann
man es sehen.
Mag sein, dass die Pandemie tatsächlich ein Brennglas ist, das sichtbar
macht, was schon da war. Hier ist es kein Missstand, sondern ein Glück. Wir
haben vergessen, welche Macht in jedem Theater steckt, weil es halt oft
nicht so recht gelingt. Eine anrührend dankbare Stimmung lag über dem Saal,
als die Premiere zu Ende war. Wir schaffen das. Nicht Angela Merkel, aber
die Komische Oper. Sind nur ein paar Wochen Pause.
2 Nov 2020
## LINKS
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Klaus_Bruns
## AUTOREN
Niklaus Hablützel
## TAGS
Musiktheater
Komische Oper Berlin
Schwerpunkt Coronavirus
Musical
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