# taz.de -- Barrie Koskys „La Cage aux Folles“: Accessoires zum Ausprobieren | |
> Nur einen Wimpernschlag entfernt liegen Ernst und Komik in „La Cage aux | |
> Folles“. Barrie Kosky hat das Musical an der Komischen Oper Berlin | |
> inszeniert. | |
Bild: Eine Utopie, in der Drag Queens zu triumphalen Primadonnen werden: Stefan… | |
Alten Ehepaaren ist es in der Welt der Oper nur selten vergönnt, Helden | |
einer Liebesgeschichte zu werden. Schon gar nicht, wenn es sich dabei um | |
zwei Männer handelt. Mit dem Musical „La Cage aux Folles“ von Jerry Herman | |
und in der Regie des ehemaligen Intendanten Barrie Kosky bringt die | |
Komische Oper schwulen Content auf die Bühne und setzt ein Zeichen für | |
Diversity. | |
Schauplatz des Musicals ist ein queerer Nachtclub in St. Tropez, La Cage | |
aux Folles. Sensation des Etablissements ist die Travestiekünstlerin Zaza | |
alias Albin (Stefan Kurt), langjähriger Lebenspartner des Clubbesitzers | |
George (Peter Renz). George und Albin sind ein ganz normales Paar. Sie | |
zanken sich, wenn Zazas Starallüren den Clubbetrieb aufhalten oder George | |
Zazas liebevoll zubereitetes Mittagessen verschmäht. Doch sie finden stets | |
wieder zueinander und singen wie frisch verliebt über das Meer und ewige | |
Jugend. | |
## Golden glitzernde Tänzer | |
Hintergrund ihrer rosaroten Romanze sind eine Armada golden glitzernder | |
Tänzer in Federboas sowie ein offensiv phallisches Bühnenbild, das unter | |
anderem aus einer Chaiselongue in Pimmelform und zwei gigantischen | |
Penisvasen aus Porzellan besteht, die Zaza liebevoll „Jules und Jim“ | |
getauft hat. Zwischendurch schwebt der rote Samtvorhang herab, und die | |
gewiefte Animierdame Zaza – in platinblonder Wasserwelle und weißer | |
Seidenrobe – erzählt im Scheinwerferlicht frivole Witze. | |
Mitten in Georges und Zazas Idyll platzt ihr Sohn Jean-Michel, Produkt | |
einer stürmischen Begegnung zwischen George und einem Showgirl. Jean-Michel | |
will heiraten, doch die Eltern seiner Angebeteten sind homophobe Hardliner. | |
Für den Besuch der Schwiegerfamilie soll sich George deshalb als hetero | |
ausgeben und Zaza soll sich am besten ganz verkrümeln. Die ist entsetzt, | |
lässt sich aber nicht kleinkriegen. Trotzig reißt sie sich die Perücke | |
herunter und stimmt den Ohrwurm des Abends an: „Ich bin, was ich bin“– ein | |
Song, dessen englisches Original in der Coverversion von Gloria Gaynor als | |
inoffizielle Hymne der queeren Bewegung gilt. Am Ende, wer hätte es | |
gedacht, vertragen sich alle und schunkeln gemeinsam zu beschwingten | |
Broadway-Schlagern. Von der Decke regnet es Glitzer in den Zuschauerraum. | |
## Snobismus gegenüber dem Musical | |
Warum hat sich Barrie Kosky für seine erste Inszenierung nach Ende seiner | |
Amtszeit als Intendant des Hauses ausgerechnet ein Musical ausgesucht? „Ich | |
bin immer etwas schockiert über den Snobismus vieler Deutscher gegenüber | |
dem Musical, wenn es doch die natürliche Fortsetzung der deutschen und | |
österreichischen Operette ist“, gibt er im Programmheft zu Protokoll. | |
Gerade in der Stadt Berlin erlebte die Operette wahre Sternstunden. In der | |
Weimarer Republik schrieben jüdische Komponisten wie Paul Abraham bissige | |
Gesellschaftssatiren, die schließlich von den Nazis verboten wurden. Ihre | |
Schöpfer flohen ins amerikanische Exil und brachten das subversive Erbe der | |
Operette in die Glitzerwelt des Broadway. | |
Das Musical ist mitnichten die arme Verwandte der Oper, sondern eine | |
komplexe Kunstform mit einer bewegten Geschichte. Das gilt auch für „La | |
Cage aux Folles“: Über seiner umjubelten Uraufführung im Jahr 1983 am | |
Broadway lag der Schatten des Aids-Virus, dem bereits nach Ende der ersten | |
Spielzeit knapp die Hälfte der ursprünglichen Besetzung zum Opfer gefallen | |
war. Nach und nach blieben auch die Zuschauer weg, denn die feucht- | |
fröhliche Darstellung schwuler Lebenslust wirkte angesichts der vielen | |
Todesfälle auf einmal morbide. | |
## Strapse, Highheels, falsche Wimpern | |
Das HIV-Virus ist durch neue Medikamente behandelbar geworden, doch queere | |
Identität ist unverändert prekär. Deshalb trifft „La Cage aux Folles“ au… | |
heute noch den Nerv der Zeit: Wenn Dragqueen Zaza in einsamen Momenten ihre | |
Mascara besingt, deren Verwandlungskräfte ihr dabei helfen, einer feindlich | |
gesinnten Außenwelt gegenüberzutreten, liegen Komik und Ernst nur einen | |
Wimpernschlag voneinander entfernt. Es wird klar, dass sie sich ihre | |
herrlich champagnerselige Tuntigkeit auf einem harten Leidensweg erkämpfen | |
musste. | |
Dieser Freiheitskampf steht stellvertretend für alle, denen die | |
gesellschaftlich zugeschriebenen Geschlechterrollen die Luft zum Atem | |
nehmen. Indem Dragqueens weiblich konnotierte Attribute bis ins Groteske | |
übertreiben, entlarven sie Strapse, Highheels und falsche Wimpern als das, | |
was sie sein sollten: Accessoires für alle, zum Ausprobieren und Spaßhaben. | |
Natürlich ist es kitschig, wenn das Ensemble am Ende des Abends aus voller | |
Kehle singt: „Ergreif den Augenblick, du lebst und liebst nie mehr so jung | |
wie heut.“ Doch dahinter verbirgt sich die Sehnsucht nach einer Utopie. | |
Eine Utopie, in der Dragqueens von gesellschaftlichen Außenseitern zu | |
triumphalen Primadonnen werden – ein bisschen wie in der weltberühmten | |
Reality-Show „RuPaul’s Drag Race“. La Cage aux Folles ist nicht nur ein | |
Nachtclub: Er ist ein sicherer Ort, wo Mauerblümchen und Paradiesvögel | |
ihren Frieden finden können. Ein Ort, an dem alle angstfrei sie selbst sein | |
können. | |
1 Feb 2023 | |
## AUTOREN | |
Anna Schors | |
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