# taz.de -- Premiere an der Komischen Oper Berlin: Viel Zeit zum Nachdenken | |
> Tobias Kratzer hat für die Komische Oper Berlin den „Zigeunerbaron“ von | |
> Strauss neu bearbeitet und inszeniert. Zur Premiere kam Live-Publikum. | |
Bild: Szene mit Dominik Köninger als Graf Peter Homonay im „Zigeunerbaron“… | |
Acht Monate Quarantäne sind eine lange Zeit. Sie ist nun vorbei an der | |
Komischen Oper. Wer einen negativen Test, doppelte Impfung seit mindestens | |
14 Tagen oder eine Genesung von Covid-19 am Eingang nachweisen kann | |
(Personalausweis und FFP2-Maske nicht vergessen!), darf hinein und Platz | |
nehmen auf den reservierten Sesseln. Die hygienischen Lücken dazwischen | |
sind sichtbar, trotzdem wirkt der Saal ordentlich gefüllt. Wenn Schönberg | |
gespielt wird, ist es auch nicht besser. | |
Es kann also wieder losgehen mit der Oper, aber die ersten Schritte fallen | |
schwer. Alles sieht gewohnt und fremd zugleich aus, unwirklich. | |
Wahrscheinlich kann es nie wieder so sein wie vor der Pandemie. Die | |
Erfahrungen des Mangels und der Angst werden bleiben. | |
Barrie Kosky begrüßt uns glaubhaft herzlich und dankt uns dafür, dass wir | |
seinem Haus treu geblieben sind. Haben wir jemals einen Treueschwur | |
abgelegt? Wohl kaum. Wir wollten Opern haben, und Operetten natürlich auch. | |
Wir haben sie bekommen, hier meistens sogar besser als anderswo. Wollen wir | |
sie wieder haben? Und warum? | |
## Worüber es nachzudenken gilt | |
Darüber gilt es nachzudenken. [1][Tobias Kratzer gibt dafür die Zeit] und | |
den Raum. Lange vor der Generalquarantäne hat ihn Kosky für eine neue | |
Inszenierung einer Operette von Johann Strauss an sein Haus geholt, die | |
keinen besonders guten Ruf genießt: „Der Zigeunerbaron“. | |
Ein wenig reaktionär wurde die Geschichte um einen kakanischen Grafen, | |
einen hergelaufenen Großgrundbesitzer, einen Schweinezüchter mit Tochter | |
und Gouvernante und einer Zigeunerin mit besonders schöner Tochter schon | |
immer empfunden. Ein möglichst prächtig kostümierter Chor konnte daran auch | |
nichts ändern. Die Zigeuner sind am Ende die besten Krieger und retten | |
gleich das ganze Vaterland. | |
Braucht man nicht mehr, Operettensehnsucht hin oder her. Genau das hat | |
Kratzer interessiert. Inzwischen ist ja schon das Z-Wort skandalös. Das ist | |
gut so, meint der mit Preisen überhäufte, 41 Jahre alte Regisseur, der in | |
seiner Biografie unter anderem ein Studium der Philosophie angibt. Er hat | |
gelernt, Fragen eher zu stellen als zu beantworten. | |
## Selbstverständlich diskriminierend gemeint | |
Das Z-Wort im Titel, das auf dem Spielplan überflüssigerweise und | |
ungrammatisch allein in Anführungszeichen steht, ist noch das geringste | |
Problem. Selbstverständlich ist es diskriminierend gemeint. Dominik | |
Köninger rotzt in der Rolle des Grafen Homonay eine endlose Tirade an | |
Fremdenhass aus sich heraus, damit von Anfang an klar ist, worum es hier | |
geht. Um ein strukturelles Problem nämlich, das 1885, dem Jahr der | |
Uraufführung des Werkes, nicht viel anders aussah als heute. | |
Was kann man dagegen tun? Für Kratzer greift diese Frage viel zu kurz. Er | |
fragt vor allem in der Partitur von Strauss nach und hat dafür die | |
überlangen, gesprochenen Dialoge des originalen Librettos gekürzt und | |
zugespitzt. So rückt eine Musik ins Zentrum, die selbst immer nur Fragen zu | |
stellen scheint. | |
Ja, wunderbare Ohrwürmer klingen auf, aber sie führen nirgendwo hin, gehen | |
in Stilbrüchen unter und kommen nie zur Ruhe. Darum ist diese musikalisch | |
verwirrende Folge von Einzelnummern, Soli, Ensembles und Chören die | |
angemessene Form einer Gesellschaft, die niemals mit sich selbst in Frieden | |
leben kann. | |
## Der Rausch stellt sich nicht ein | |
Es ist wunderbar, den Klang von Singstimmen und Instrumenten endlich wieder | |
live zu hören, das Erlebnis des Rausches, den große Aufführungen auch von | |
Operetten vermitteln können, stellt sich jedoch nicht ein. | |
Das liegt nicht daran, dass das Orchester in den Bühnenhintergrund verbannt | |
ist, weil Kratzers Bühnenbildner Rainer Sellmaier den Graben mit einer | |
bespielbaren Treppe zugebaut hat. Stefan Soltés dirigiert mit souveräner | |
Eleganz und Achtsamkeit auf Brüche und Komplexität. Zu hören ist daher | |
keine Operette, sondern die Bühnenmusik eines Lehrstücks. | |
Kratzers theatralische Fantasie ist verblüffend. Auf der leeren Bühne vor | |
einem schwülstigen Palastportal bilden sich Gruppen, gesellschaftliche | |
Konstellationen. Philipp Meierhöfer bekommt als Schweinezüchter Zsupán ein | |
Videoporträt als Metzgermeister im eigenen Laden. Andere hantieren mit | |
Geräten, bauen Strandzelte auf. Mittendrin steht ein historisches | |
Trichtergrammofon für die alten Platten, die da immerzu wieder gespielt | |
werden: Patriotismus, Romantik und Ähnliches. | |
## Ein brechtsches Einfühlungsverbot | |
Es gibt die klassischen zwei Liebespaare, Alma Sadé und Julian Habermann | |
sind als Arsena und Ottokar das junge, Mirka Wagner und Thomas Blondelle | |
als Saffi und Barinkay das erwachsene. Sie singen sehr schön, rühren aber | |
niemanden. Kratzer hat ein allgemeines, brechtisches Einfühlungsverbot | |
verordnet, damit wir besser denken können. Die Frauen vor allem kämpfen | |
hart, aber vergeblich, um Anerkennung in dieser Welt der Macht, der Gier | |
und des Hasses. | |
Das ist nicht schön und kein Vergnügen, aber das Beste, was am Anfang der | |
Rückkehr ins Opernleben stehen kann. Mag sein, dass wir bald wieder | |
tragisch erschüttert oder fröhlich erheitert nach Hause gehen. Das | |
Nachdenken jedoch über die Gesellschaft der Werke muss bleiben, die hier | |
gespielt werden. Für Kratzers didaktische Art des Theaterspiels war die | |
willkürliche Dramaturgie der Pandemie ein Glücksfall. | |
Seine Lektion sitzt. Und auch Kossky nutzte den Augenblick. Er übergab die | |
sonst nur hausinternen Preise für die beste Leistung des | |
nichtkünstlerischen Personals dieses Mal öffentlich und im vollen | |
Rampenlicht auf der Bühne. Die Geehrten bedankten sich freundlich und der | |
Applaus im Saal war mindestens so laut wie zuvor. Großes Theater. | |
7 Jun 2021 | |
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[1] /Opernpremiere-in-Berlin/!5582765 | |
## AUTOREN | |
Niklaus Hablützel | |
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