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# taz.de -- Unpädagogisch: Gemetzel für Kinder
> Die Staatsoper Hannover hat ein Stück für Kinder konzipiert. Doch bei
> Moby Dick wird die Ermordung des Wals groß inszeniert
Bild: Wal in Sicht: Die Schiffscrew auf der Bühne der Staatsoper Hannover wird…
HANNOVER taz | Hinaus aufs Meer der eigenen Träume. Als Süßigkeiten
verkleidet liegen Meeresfrüchte und Goldschatztaler auf den Bistrotischen
des Ballhofs in Hannover, garniert mit blauen Luftballons und weißen
Papierschiffchen. Eine anheimelnde Tarnung. Denn die Kindersparte des
Musiktheaters will sich nicht als pädagogische Operngrundschule anbiedern,
sondern Menschen ab zehn Jahren mit einer Uraufführung die Ohren öffnen.
Es gilt, den Hörnachwuchs zu fordern. Klanglich und inhaltlich. Der junge
Komponist Mischa Tangian wurde beauftragt, mit neuer Musik auf einen alten
Stoff zu reagieren: Herman Melvilles „Moby Dick“. Ein 700-seitiger Wälzer
voller scharfzüngig-essayistischer Ausflüge in naturwissenschaftliche wie
philosophische Richtungen sollte zur Abenteuergeschichte skelettiert,
zeitgemäß interpretiert und dabei sollte nichts beschönigt werden.
Kapitän Ahabs Hass-Feldzug gegen den weißen Wal, der ihn einst zum Krüppel
machte, ist ja kein Kampf des modernen Menschen gegen das Naturchaos, das
es zu ordnen gilt, um es zu beherrschen. Der Riesensäuger verkörpert nicht
mehr als Leviathan das Böse wie noch bei Jesaja in der Bibel. Ein Pottwal
ist definitiv kein Menschenfresser und Killer nur aus Notwehr. Er hat
inzwischen als Kuscheltier der Ökobewegung Karriere gemacht, vom Aussterben
bedroht ist seine Art.
Kommerzieller Walfang findet aber weiterhin statt – trotz eines weltweiten
Moratoriums. Der Mensch, nicht mehr die Natur, gilt ja als die
zerstörerische Kraft der Geschichte. Aber all diese Bedeutungswandel wird
erst einmal ignoriert von Regisseurin Friederike Karig. Und konventionell
durchgestartet.
Denk ich an Seefahrtsmusik – denk ich an Shantys. Tatsächlich kommt das
achtköpfige Ensemble mit einem solchen Lied auf die Bühne. Dabei verfällt
das Staatsorchester ins Stottern, die Sänger stottern mit – und finden zu
einem saftig prallen Belcantoton. Tangian setzt in Sachen blutdurstiger
Besessenheit weniger auf den vokalen Overkill, mehr bändigend auf
ausschwingende Melodien. Die so kraftvoll intoniert werden, dass das
Libretto meist unverständlich bleibt. Keine Übertitelungsanlage hilft. Was
Verdi-Vergötterer bei der Aufführung einer Verdi-Schmonzette locker
verknusen, ist Kindern nicht zuzumuten. Die wollen verstehen, was da
klingend spricht.
Dank feiner Hörbuchstimme und schöner Bühnenpräsenz ist allerdings gut den
Ausführungen Lukas Benjamin Engels zu folgen. Er gibt großäugig einen
Strahlejungen als Identifikationsfigur. Das Greenhorn. Der Erzähler Ismael.
Die Sehnsucht nach wild aufgepeitschtem Meer beschwärmt er, fabuliert von
der großen weiten analogen Welt. Er verkündet pure Abenteuerlust als Grund,
warum er hier in einem schlicht gezimmerten Schiffsrumpf auf Walfang geht.
Auch eingecheckt hat ein Freak mit Sarg als Gepäck – damit der Erzähler zum
Katastrophenfinale ein Rettungsboot bekommt zum Überleben. Sonst könnte er
ja auch jetzt nicht schon mal rückblickend berichten.
Wenn Käpt’n Ahab erstmals auftritt, grollt eine heißblütig abstrakte
Klangcollage: Cluster und Dissonanzen, die als Mittel starker Expression
sowie sich entladender Spannungen funktionieren und so auf die
durcheinandergewürfelte Gruppendynamik der Männercrew verweisen, die
erstmal Essen will.
Im Orchestergraben wird auf Kochtöpfen perkussioniert, auf der Bühne der
Sarg zum Schlaginstrument. Dann mäandern Tonfolgen durch die Ruhe vor dem
Sturm. Die Atmosphäre von Weite, Gefahr, Ausgesetztsein klingt nach Urlaub.
Tonalität des Wartens. Ganz sanft schweben Walgesänge vorbei.
Plötzlich: eine Wal-Sichtung! Kein weißer, nur irgendein Wal. Aber
Aufregungsmusik braust los – als benötige die Szene einen Filmsoundtrack.
Zu einem Bassmotiv klatschen sich die Matrosen Mut zu wie die Ghetto-Gangs
der „West Side Story“ – und wollen nun unbedingt Musical-Anmutung.
Sie beginnen zu tanzen. Oder genauer: präsentieren choreografierte
Positionswechsel. Ein Jazz-Bigband-Bläsersatz hebt an, „heute ist Zahltag“,
ist zu hören. Der geschlachtete Wal wird die Kombüsenmenüs bereichern, das
Öl und all die anderen Rohstoffe sollen reichlich Gewinn an Land abwerfen.
Aber durch die Kapillaren des Klangs fließt auch Gift – diese Erregung,
gleich kämpfen, töten zu dürfen. Wenn schließlich die Harpune den
Meeressäuger trifft – haut der Schlagzeuger auf sein Instrument.
Inszeniert wird das Morden als Angeln im großen Stil. Ein Akkordeonspieler
illustriert die letzten Pulsschläge des Tieres. Der Wal wird in Gestalt
einer großen Plastikfolie aus dem Bühnenboden gezogen, Schiffsjunge Pip
schneidet sich ein Steak aus der Leiche. „Blutig und zäh“, sagt er.
Zu munden scheint es nicht. Das Fleisch muss ihm hineingezwungen werden –
als wäre er Vegetarier. Die etwas älteren Kinder an Bord spielen nun
Ritualkunst – und sauen sich gegenseitig mit Blut ein. Woraufhin man
Tiefsee mit Tiefsinn kurzschließt: „Macht euch die die Erde untertan“, wird
als Moral der Szene verkündet – kaum verständlich.
Die Musik bleibt hingegen prima verständlich. Obertonreiches
Meeresrauschen, durchsetzt von aufschäumenden Zittertönen der Violine. Wie
Mannschaft und Chef zueinander stehen, ist per gospeligem
Call-and-Response-Chor dargestellt. Ein metallisches E-Gitarrenriff
animiert Ahab, eine neue Harpunenklinge zu schmieden. Als
Showdown-Verzögerung komponiert Tangian noch schnell einen Taifun,
durcheinander stürmende Noten naturgemäß. Abgelöst von wogendem Geflirre,
weil Elmsfeuer funkeln: Discolicht im Kunsteisnebel. Wohin führt der
Exkurs?
„40 Jahre Krieg, wozu das alles?“, singt der einsame Kapitän, verliert sich
in Erinnerungen an Frau und Kinder. Das Publikum soll wohl den chronisch
abwesenden Vater in ihm erkennen. Sein Beruf – seine Berufung. Und im Kampf
mit dem Wal seinen Lebenssinn findend. Den Tod. Dazu schwerblütiges
Klanggemetzel. Bis der Erzähler das Geschehen zusammenfasst: Gier, Hass,
Gottlosigkeit, Rache der Natur – sind so seine Worte. Noch pathetischer
wird’s, da die inzwischen ertrunkene Crew als Chor aus der Ferne gluckert
und himmlisch hallt.
Der Roman ist auf Pixibuch-Format geschrumpft, der aktuelle Diskurs wird
verweigert, dafür reichlich Fischerlatein und Moraldeutsch hineingepumpt.
Die Partitur ist beherrscht von einem expressiven Duktus. In den Momenten
des Entsetzens wütet die Hybris des Menschen offen im Aufruhr der Musik.
Aber das dissonant Zerklüftete und harmonisch Befriedete kommen einander
auch immer wieder nahe. Ohne eine eigene Klangrede zu entwickeln, feiert
Tangian so eine große Bandbreite musiktheatraler Mittel. Von Erwachsenen
wird er dafür umjubelt. Was wohl Viertklässler dazu sagen?
10 Oct 2016
## AUTOREN
Jens Fischer
## TAGS
Oper
Hannover
Holocaustüberlebende
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