# taz.de -- Philosophisches Musiktheater: Die Suche nach der Triebfeder | |
> Die Gruppe Kommando Himmelfahrt wühlt im Müllhaufen der Geschichte. In | |
> Hamburg lädt sie jetzt in die „Geisterbahn“ ein. | |
Bild: Szene aus „Paradise lost“ von Kommando Himmelfahrt | |
Hinein geht’s durch eine barocke Malerei, eine zur Schaubühnenfassade | |
vergrößerte Papierkrippe. Aber da, wo der Heiland liegen müsste, klafft nur | |
ein großer Schlund. Das ist der Eingang in die „Geisterbahn“, eine | |
begehbare Installation der freien Musiktheater-Gruppe Kommando Himmelfahrt, | |
die ab Donnerstag (28. April 2016) auf Kampnagel in Hamburg ihre Türen | |
öffnet und anschließend auf Tour geht. | |
Drinnen liegt ein eigenartiger Geruch in der Luft. Ein bisschen muffig und | |
staubig, kompostierendes Laub mischt sich mit dem Duft, den alte technische | |
Geräte über die Jahre entwickeln, wenn man sie in Kisten vergisst, um sie | |
später überrascht wiederzuentdecken: die funktionieren ja noch! | |
Aber dazwischen ist auch dieser Baumarktgeruch nach frischer Farbe und | |
Hartfaserplatten. Eine merkwürdige Gleichzeitigkeit von Vergessenem, | |
Verfallendem, Wiederentdecktem und neu Zusammengesetztem kann man da | |
riechen. Mit einem Organ, das im Musiktheater sonst selten mehr wahrnimmt | |
als Trockeneisnebel. | |
Die Bilder-Collage an der Wand unterstreicht diese Mischung. Ernst Haeckels | |
ikonische Pflanzenzeichnungen hängen direkt neben einem Foto des | |
US-Militärroboters „Atlas“. In einer Ecke stehen alte Bücher, daneben | |
hängen Zeitungsartikel über Gentechnologie oder Künstliche Intelligenz. Ein | |
altes Cembalo steht da, aber darauf sind selbstgebaute Platinen angebracht, | |
die Tasten durch Drehschalter ersetzt. Und dann erklingt aus lauter | |
Apparaten eine Musik, in der ebenfalls unterschiedliche Epochen und Stile | |
aufeinandertreffen: ein unsichtbares Musiktheater aus Chansons, von Carl | |
Phillip Emanuel Bach inspirierter Instrumentalmusik, Musikzitaten und | |
Geräuschen. | |
## Aufrecht kriechende Maschinen | |
Beschworen werden soll in dieser „Geisterbahn“ der Geist des französischen | |
Arzt und Philosophen La Mettrie, ein Enfant terrible der französischen | |
Aufklärung, das heute längst vergessen ist. La Mettrie war der wohl erste | |
Kybernetiker und Posthumanist: Menschen und Tiere waren für ihn „aufrecht | |
kriechende Maschinen“, die „selbst ihre Triebfedern aufziehen“. Ein | |
ungeheurer Angriff auf die Selbstherrlichkeit des Menschen und alles, was | |
ihm lieb und teuer ist, war das: Vernunft, Geist, Seele, Leiblichkeit, | |
Moralität und Freiheit. | |
Der lebendige Mensch, er spukt denn auch nur noch herum in diesem | |
unheimlichen mechanischen Theater, darf Gast sein unter den Gespenstern aus | |
Vergangenheit und Zukunft. Ab und an muss er noch einen Knopf drücken, aber | |
die wahren Protagonisten, das sind die menschengemachten Maschinen, die | |
technische und wissenschaftliche Entwicklung – keiner Moral mehr | |
unterworfen, nur der Wahrheit verpflichtet. Der Mensch im Zeitalter des | |
Posthumanismus: einer, der sich überflüssig gemacht hat und sich selbst auf | |
den Müllhaufen der Geschichte wirft? | |
Es ist dieser Müllhaufen der Geschichte, der für Kommando Himmelfahrt zum | |
Garten wird, in dem das Neue wächst, auf dem die Spinner, die Fehler, die | |
Verworfenen und Weggeworfenen verrückte Blüten treiben: unmöglich, die | |
Vergangenheit hinter sich zu lassen, wenn alles immerzu wiederkehrt. | |
## Verrückt Blüten treiben | |
Seit acht Jahren betreibt das Trio, bestehend aus dem Hamburger Komponisten | |
Jan Dvořák, dem Berliner Regisseur Thomas Fiedler und der | |
Produktionsleiterin und Dramaturgin Julia Warnemünde, eine ganz eigene Form | |
musiktheatraler Archäologie von politischen, wissenschaftlichen und | |
künstlerischen Mythen und Zukunftsentwürfen. Gemeinsam mit einem fast schon | |
Familie gewordenen Netzwerk von Musikern, Sängern, Chören, Schauspielern, | |
Bühnenbildnern, Fotografen und Videokünstlern leuchtet es die Grenzbereiche | |
von Utopien aus, um ihr Potenzial zu untersuchen und auf die Gegenwart zu | |
projizieren. | |
Die Verschachtelung von theatralen und musikalischen Mitteln mit großen, | |
liegengebliebenen Fragen und der Kurzschluss von Zeiten, Ursprüngen und | |
Entwicklungen sind dabei zum Markenzeichen geworden. Mit belesener Inbrunst | |
und zugleich mit einer verspielten Lust, einfach mal zu sagen, was schön | |
wäre, probiert das Trio aus, wie man noch die theoretisch | |
voraussetzungsvollsten und kontraintuitivsten Ideen anschaulich auf eine | |
Bühne bringen kann, musikalisch, optisch und darstellerisch. | |
Immer wieder werden dabei die Grenzen zwischen zeitgenössischer Musik, | |
Theater, Revue, Lecture-Performance und Installation eingerissen, um ein | |
ebenso eigenständiges wie -williges und großformatiges Bilder-, Musik-, | |
Klang- und Ideentheater zu entwickeln. Das hebt erst dann so richtig ab, | |
wenn alle sorgsam zusammengesetzten Bestandteile miteinander ein Eigenleben | |
entwickelt haben: immer riskant, eine abenteuerliche Reise, ein | |
Himmelfahrtskommando in Richtung positive Utopie. | |
## Weitermachen nach dem Scheitern | |
Immer neu vermessen die Produktionen dabei ein Spannungsfeld zwischen | |
unterschiedlichen Polen. Beim „Hamburg Requiem“ geht es dabei um den | |
Untergang und die Wiederauferstehung einer ganzen Stadt; in John Miltons | |
„Paradise Lost“ um das Aufbegehren in eigentlich paradiesischen Zuständen | |
und das Weitermachen nach dem Scheitern und im „Leviathan“ um den | |
musikalisch-theatralen Gesellschaftsvertrag zwischen Bühne und Tribüne und | |
das große mythische Theater Staat | |
In „Die Speisung der 5000“ wurde das Motiv der Vervielfältigung in der | |
Bibel und im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit verknüpft. Wie | |
hängen die wundersame Vermehrung von Brot und Fisch durch den Heiland und | |
seine anschließende Flucht vorm Wunderdruck in eine Berglandschaft mit der | |
Erfindung von Vervielfältigungstechniken wie Wachswalze, Phonograf und Film | |
und dem Wunsch nach Rückzug in der digitalen Gesellschaft zusammen? | |
All das ist beeindruckend belesen und durchdacht, in allen Facetten | |
intensiv diskutiert und findet für die großen Fragen erstaunlich komplexe | |
Kombinationen von Bühnenformen: mal eine tösend-düstere Totenmesse mit | |
rasanten Beats, heulenden Gitarren und klagenden Chören, mal eine chorische | |
Performance mit Sprechern, Textgruppen, stummen Performancegruppen und | |
Geräuschgruppen, Blas- und Perkussionsensemble, mal eine Rockoper und dann | |
wieder eine perspektivisch verwinkelte und zerklüftete Kantate, die man als | |
ganzes Stück erst nach dem Theaterabend, an dem sie aufgenommen wurde, im | |
Internet hören kann. | |
Das ist kein verklausuliertes Diskurstheater, kein abgeklärtes Besserwissen | |
und ausgestelltes Besserkönnen, sondern ein im besten Sinne | |
überwältigendes, ansteckendes und anregendes Theater für alle und für alle | |
Sinne. Deshalb ist es erfreulich, dass sie für die „Die Speisung der 5000“ | |
gerade den Rolf-Mares-Preis der Hamburger Theater in der Kategorie | |
„Herausragende Inszenierung/Aufführung“ bekommen haben und nun auch für d… | |
George-Tabori-Preis nominiert sind. | |
28 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Robert Matthies | |
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Staatsoper Hamburg | |
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