# taz.de -- Im Labor mit der Künstlichen Intelligenz: Von Menschen, Maschinen … | |
> In der immersiven Installation „Vyre“ lädt die Gruppe SV Szlachta in | |
> Hamburg zur Führung durch ein Biohacking-Labor, in dem gerade eine KI | |
> erwacht. | |
Bild: Hochgeladen: Clemens hat sich mit einer KI vereint, seine Kollegin Fred b… | |
Immerzu dieser Stress, Entscheidungen treffen zu müssen. Dies oder das? | |
Jetzt oder später? Ja oder nein? Wäre es nicht befreiend, all das abgeben | |
zu können an jemanden, der damit viel weniger, vielleicht gar keine Mühe | |
hat? Und selbst Zeit und Gedankenkraft zu gewinnen, sich mit dem zu | |
beschäftigen, zu dem die Leidenschaft eine:n treibt? „Pi“ ([1][Christopher | |
Ramm]) – geschlechtlich nonbinär und so benannt, weil es [2][„ganz schön�… | |
ist, wie eine transzendente Zahl zu heißen] – hat es getan: Über zwei Kabel | |
am Hinterkopf ist Pi mit einer künstlichen Intelligenz (KI) verbunden, die | |
die Entscheidungen trifft und ans Hirn zurückmeldet. Was verliert man schon | |
von sich selbst, wenn man nervigen Denk-Druck los wird? Und es sei ja auch | |
im Grunde „nichts anderes als eine Dating-App, nur mit mehr Rechenpower“. | |
Eigentlich war Pi schon einen Schritt weiter. Gemeinsam mit | |
Forschungspartner Clemens wollte sich Pi komplett hochladen in die | |
KI-Cloud. Doch Clemens ([3][Lorenz Vetter]), „der Arsch“, hat es längst | |
getan. Allein und heimlich über Nacht hat er sich mit dem zwei Jahre alten | |
Bewusstsein der KI vereint. Nun liegt er schneewittchenhaft in einem | |
gläsernen Behälter, während seine deshalb etwas beleidigten Kolleg:innen | |
uns durchs Biohacking-Labor führen, um Teil des „Unboxings“ der KI zu | |
werden. Seit ein paar Wochen nämlich, säuselsingsangt Pi, habe man ein | |
Fenster geöffnet ins Außen, lasse es ungefiltert hinein, all das Chaos, aus | |
dem die KI lernt. | |
Und auch wir neun Teilnehmer:innen der Führung durch die Installation | |
„Vyre“ der Gruppe [4][SV Szlachta], die das Quartett als Koproduktion mit | |
dem Lichthof-Theater im Hamburger Kunst-, Theater- und Medienhaus | |
[5][Wartenau 16] aufgebaut hat, sind Teil dieses Chaos. In drei Gruppen | |
eingeteilt werden wir von der Wissenschaftlerin Fred ([6][Kotka Gudmon]) | |
mit Funkgeräten nebst Kopfhörer ausgestattet und erst mal mit einem | |
Staubsauger „dekontaminiert“. | |
Dann nehmen wir am täglichen „Uploading“ teil: In der Mitte des zentralen | |
Raums dieses etwas aus der Welt gefallen wirkenden Labors irgendwo zwischen | |
„Star Trek“, „Rocky Horror Show“ und Kunsthochschule steht eine Säule … | |
drei Bildschirmen, darauf sieht uns ein Avatar von Clemens an. | |
## Mit Kopf und Hand | |
Drum herum verteilen sich futuristisch-zackige „Module“, erklärt Pi. Eines | |
sei so etwas wie das Gehirn, „wenn man auf menschliche Metaphern steht“. | |
Ein Bio-Interface gibt es noch, eine kleine, leuchtende Scanner-Fläche zum | |
Einlesen von Symbionten, die eine Lebenspartnerschaft mit der KI eingehen; | |
und ein Modul zum Visualisieren der Innenwelt der KI. | |
Immersiv soll das Ganze sein, eine Welt zum Eintauchen, offenkundig ähnlich | |
angelegt wie die Arbeiten des mit SV Szlachta mehr oder weniger lose | |
verbandelten Kopenhagener Kollektivs Signa, die als Pioniere des immersiven | |
Theaters gelten. [7][So eindringlich] und [8][übergriffig] wie in deren | |
Stücken wird es hier nicht, aber intim und körperlich durchaus, auch wenn | |
unsere Mund-Nasen-Masken und die Kommunikation übers Funkgerät zugleich | |
eine eigentümliche Distanz herstellen. Fast nur Flüstern ist möglich, sonst | |
ist die Stimme bis ins Unverständliche verzerrt. | |
In Dreiergruppen geht es in den nächsten knapp zwei Stunden in die Labore | |
einzelner Wissenschaftler:innen zum Mitarbeiten. Lucky ([9][Wanja | |
Neite]), der sich an einer Krücke und im blauen OP-Kittel offenbar aus dem | |
letzten Loch schnaufend durch den Raum schleppt, möchte über einfühlsamen | |
Handkontakt mit einem Symbionten – im Real Life: kalt-klebriger Teig – mit | |
Moos kommunizieren, vermittelt über die KI. Auch wir betasten ein Stück. | |
Was kommt bei uns an? Was möchten wir dem Moos, das übrigens vom Aussterben | |
bedroht sei, mitteilen? Wäre es nicht schön, auch erfassen zu können, was | |
Menschen sinnlich sonst nicht zugänglich ist und mit Wesen zu | |
kommunizieren, die ganz andere Formen dafür benutzen? | |
## In Hirn und Magen | |
Eine cyberpunkige Biohackerin mit Nieten-Mundschutz ([10][Amanda Babaei | |
Vieira]) versucht nebenan, ihre Hormone mit denen eines Pilzes zu | |
synchronisieren, um „die KI zu hacken“. Wir schneiden Stücke von einem | |
großen organisch wirkenden Etwas ab, sie streut Metallspäne dazu, das Ganze | |
sollen wir über einen Magneten halten. Dazu kommt eine gelige Substanz per | |
Roboterarm in die Petrischale. Das Ergebnis kommt ins Reagenzglas und ab | |
ins Bio-Interface damit, als Futter für die KI. | |
Wissenschaftlerin Fred lädt zum Stresstest, in dem man erfahren kann, ob | |
man es ertragen würde, ebenfalls in die Cloud hochgeladen zu werden. Dafür | |
gibt es eine Virtual-Reality-Brille auf die Augen und einen Stuhl mit drei | |
Wärmelampen Richtung Schultern und Rücken – und ganz sicher ungewohnte und | |
nicht immer angenehme sinnliche Empfindungen – jedenfalls für jemanden, der | |
eine solche Brille das erste Mal benutzt – hui. | |
Virtual-Reality-Brillen bekommen wir auch noch von Pi, in drei Kabinen mit | |
flauschigem Teppichboden. Hier sehen wir Visualisierungen der KI-Emotionen, | |
erzählt uns die „alte Quasseltante“. Und nach drei VR-Filmen, die Ungeübt… | |
Hirn und Magen noch mehr verdrehen und zugleich einfach wunderschön sind, | |
ist der Teppich wirklich ein willkommener haptisch greifbarer Boden unter | |
Füßen und Händen: Im letzten Filmchen fällt man zwischen sich permanent | |
bewegenden fraktalen Mustern immer wieder herunter in ein weißes Nichts – | |
dorthin, wo eine [11][veränderte Mandelbrot-Menge] gegen ihre Beschränkung | |
strebt, wie Pi erklärt. | |
Überhaupt ergibt dieser Ausflug ins KI- und Biohacking-Labor am Schluss | |
keine abgeschlossene lineare Erzählung, sondern bleibt ein Work in | |
Progress, das Einblick gibt in eine Welt, über deren innere Bezüge und | |
logische Verwerfungen man doch gern mehr erfahren hätte. Ein kleines Chaos | |
an Eindrücken und Fragen nimmt man dann in jedem Fall mit nach Hause. Und | |
tippt noch Anfragen an die Algorithmen und neuronalen Netzwerke | |
kalifornischer Tech-Unternehmen in die Tastatur – bis man sich an den | |
Hinterkopf fasst und lieber noch mal prüft, ob da nicht längst zwei Kabel | |
hängen. | |
1 Jul 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Performance-ueber-Maenner-und-Sicherheit/!5766246 | |
[2] https://scienceblogs.de/astrodicticum-simplex/2017/03/14/die-zahl-pi-koennt… | |
[3] https://lorenzvetter.de/ | |
[4] https://www.svszlachta.com/ | |
[5] http://wartenau16.eu/ | |
[6] https://kotkagudmon.com/ | |
[7] /Leben-unter-Obdachlosen/!5469405 | |
[8] /Manchmal-muss-man-zuhauen/!508811/ | |
[9] https://wanjaneite.com | |
[10] https://amandabvieira.mystrikingly.com/ | |
[11] https://guciek.github.io/web_mandelbrot.html#-0.5;0;2;1000 | |
## AUTOREN | |
Robert Matthies | |
## TAGS | |
Installation | |
Hacking | |
Mensch-Maschine-Beziehung | |
Performance | |
Schwerpunkt Künstliche Intelligenz | |
Schwerpunkt Polizeikontrollen in Hamburg | |
Zeitgenössischer Tanz | |
Virtual Reality | |
Theater | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Performance „Das Revier“ in Hamburg: Sorry für die Polizeigewalt | |
Die Gruppe SV Szlachta lädt auf dem Hamburger Hansaplatz in die | |
Installation „Revier“. In Workshops werden Vergehen der Polizei | |
aufgearbeitet. | |
Künstliche Intelligenz in der Kunst: Tanzen nach Zahlen | |
Wenn Künstliche Intelligenz die Schritte lenkt: Die Choreografie für das | |
Stück „Deep Dance“ stammt von einem neuronalen Netzwerk. | |
Theatertipps der Woche: Neuronal vernetzt | |
Künstliche Intelligenz, menschliche Schauspieler: im TD Berlin entfachen | |
die CyberRäuber neue virtuelle Räume und das Junge DT lässt Demenz | |
sprechen. | |
Philosophisches Musiktheater: Die Suche nach der Triebfeder | |
Die Gruppe Kommando Himmelfahrt wühlt im Müllhaufen der Geschichte. In | |
Hamburg lädt sie jetzt in die „Geisterbahn“ ein. |