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# taz.de -- Totenkult: Ein Requiem für die Lebenden
> Grell realistisch und poetisch, modern und archaisch: An der Staatsoper
> in Hamburg wird Toshio Hosokawas Fukushima-Oper „Stilles Meer“
> uraufgeführt.
Bild: Keine Zukunft für Strahlenopfer: In Japan gelten sie als ansteckend.
HAMBURG taz | Diesen Schrei vergisst man nicht. Den Zusammenbruch von
Claudia in Toshio Hosokawas Fukushima-Oper „Stilles Meer“, als sie von
Fischen singt. Den Fischen, die die angeschwemmten Körper der Tsunami-Opfer
von 2011 so zerfressen haben, dass man sie nicht mehr erkennt. „Bei ihrem
Anblick wünschten sich manche, man hätte die Ihrigen nie gefunden“, schreit
sie. Dann kippt sie auf den Boden und bleibt erst mal liegen. „Wir aber
durften nicht suchen“, sagt sie dann.
Tatsächlich konnten die Menschen die angespülten Toten nach dem Tsunami von
2011 anfangs noch bergen. Zwei Tage später kam die Kernschmelze der
Atomreaktoren, kamen Gau und Evakuierungsbefehl; alle mussten gehen.
Konnten ihre Toten noch beweinen, aber nicht mehr begraben, und das wiegt
schwer in einer Kultur, die viel auf Totenkult hält – der ein Gemisch aus
lokalen Bräuchen, Shinto und Buddhismus ist, die sich allesamt gut
vertragen.
## Unakzeptierbare Realität
Den Dorfbewohnern in der Oper, die am 24. Januar 2016 in Hamburg
uraufgeführt wird, sind nur die Laternen geblieben, die sie zum
Seelengeleit aufs Meer setzen. Für alle bis auf einen: Max, den kleinen
Sohn der Deutschen Claudia, die vor Jahren nach Fukushima heiratete und
Mann und Sohn verlor. Doch mit dem Tod des Sohnes findet sie sich nicht ab.
Immerhin hat man seine Leiche nicht gefunden – und vielleicht lebt er noch,
irgendwo da draußen.
Oder irgendwo im Jenseits, das ahnt sie, und minutenlang ist man nicht
sicher, ob sie irre oder Seherin ist, wenn sie, umringt von Trauernden, die
Szenerie betritt. Im Cinderella-Kleidchen steht sie da, eine verlorene
Prinzessin, die die Welt und sich selbst vergaß. Die versäumte
weiterzugehen. Voran in der Zeit, voran ins Akzeptieren der Realität. „Max
kehrt nicht zurück“, sagt ihre japanische Freundin Haruko. Damit müsse sie
sich abfinden.
Aber dieses Akzeptieren, was soll das sein? „Ich kann sie nicht sehen,
diese Wirklichkeit“, schreit sie. Und sie hat recht. Der Feind, die
Strahlung ist unsichtbar; es existiert kein klarer Beweis, dass die Natur
nicht mehr ist, was sie war. Sondern auf Jahrzehnte verstrahlt.
## Trauer, Sein und Schein
Ein knisternd spannendes Stück über Trauer, auch über Schein und Sein ist
diese Oper geworden, die Hamburgs neuer Opernchef Kent Nagano in Auftrag
gab. Zugleich hat der 1955 – rund zehn Jahre nach dem US-amerikanischen
Atombombenabwurf – in Hiroshima geborene Hosokawa ein Werk über die
japanische Gesellschaft komponiert, die sich zerreißt zwischen Archaik und
Moderne.
Denn viele Japaner praktizieren noch heute uralte, hilflos-zarte Kerzen-
und Laternenrituale, die nicht ankommen gegen die zerstörerische Kraft
eines AKW. Auch das in der Oper beschworene No-Ritual, das Protagonistin
Claudia von ihrem Trauma erlösen soll, wurde zuletzt im 16. Jahrhundert
praktiziert und funktioniert natürlich nicht. Sie will den Ort nicht
verlassen, an dem ihr Sohn starb, von dem sie penetrant in der Gegenwart
spricht, als stünde er live neben ihr.
Spürt sie ihn wirklich? Und wie kann es sein, dass sie gleich darauf in
jener krassen Alltagssprache, für die der Texter und Regisseur Oriza Hirata
bekannt ist, vom desolaten Zustand der Leichen spricht? Sie schreit es
heraus, versucht es abzuschütteln. Vergebens, der Schmerz hat sich
eingefräst, wird mehr. Die Freunde ertragen es nicht, schreien: „Hör auf“…
und genau in solchen Momenten hält der Komponist seinen Landsleuten den
Spiegel vor: „Ihr habt nur scheinbar akzeptiert“, scheint er zu sagen.
„Schaut diese Deutsche an, sie spricht aus, was unser aller Problem ist.“
## Verdrängtes Problem
Das ist es wirklich: Nicht nur, dass die Evakuierten von Fukushima – wie
schon jene von Hiroshima und Nagasaki – in Japan ausgegrenzt werden, weil
man ihre Verstrahlung für ansteckend hält. Auch begännen etwa die Tokyoter
Fukushima schon zu vergessen, berichtet der Tokyoter Hirata. „Genau das
haben die Fukushimaer befürchtet: dass man sich auf Olympia freut und den
Rest verdrängt“, sagt er.
Dabei können immer noch 150.000 Menschen nicht in ihre Heimat zurück,
50.000 werden es niemals können.“ Und die Höhe der Entschädigungszahlung
hängt davon ab, ob man in der – von der Regierung definierten – gefährdet…
Zone wohnt oder ein paar Kilometer weiter. Auch davon handelt diese Oper:
Sie spielt großteils in der „sicheren Zone“, aber zum Friedhof gehen die
Leute in Schutzanzügen; das ist integraler Bestandteil des Alltags.
Doch trotz ihres grellen Realismus atmet die Oper auch Poesie: Nicht nur,
dass der in Japan und Deutschland lebende Hosokawa einen Mix aus
europäischer und japanischer Musik erschafft: Er beschreitet auch elegant
den Grat zwischen Realität und Spiritualität, wenn er die Explosion – des
AKW? – von einem Schlagwerk spielen lässt, das Rhythmen und Furin-Glocken
buddhistischer Mönchsrituale aufnimmt – als sei der Gau eben doch
göttergemacht, vielleicht der Zorn der Götter?
Zudem hat Hosokawa einen Chor eingebaut, der irgendwo zwischen
Natur-Anrufung und Kommentar rangiert: „Vergehen die Berge? Das Meer? Der
Himmel?“, singen die Menschen; der Text bezieht sich auf ein japanisches
Gedicht des 7. Jahrhunderts, als man noch animistisch dachte und die
gesamte Natur als beseelt empfand.
Am Ende allerdings ändert sich der Text und gibt endlich Antwort: „Vergehet
der Himmel, so singet, ohne zu ruhen“, lauten die letzten Worte dieser
minimalistisch dekorierten Oper. Ja, singe, erzähle gegen das Vergessen an,
auch in dieser ganz konkreten Oper; eine kleine, bescheidene
Selbstrechtfertigung liegt darin, doch darunter wartet mehr: der Appell,
sich mit Werden und Vergehen zu versöhnen, wie es Hosokawas geschätzter
Buddhismus lehrt. Leben und Sterben gehören zusammen zum Leben, das bloße
Abfolge vergänglicher Augenblicke ist.
## Ehre für jeden Ton
Hosokawa übersetzt diese Erkenntnis in Musik: Sehr langsam kommen und gehen
seine Töne. Er will kein pompöses Klanggebäude schaffen, dem man später
nachtrauert. Der am Zwölftoner Pierre Boulez geschulte Hosokawa ehrt
vielmehr jeden einzelnen Ton. Der steht erst da, wandert einen Halbton
hoch, einen runter, flirrt, schwebt, verstummt. Das alles so langsam, wie
die menschliche Psyche arbeitet, die eben nicht „mal eben“ Tausende Tote
akzeptiert.
Claudia jedenfalls kann und will es nicht, vielleicht auf ewig; die Oper
endet offen. „Ich habe als Strahlenopfer keine Zukunft“, hat kürzlich eine
junge verstrahlte Fukushimaerin einer ganz realen japanischen Zeitung
gesagt. Und das ist das Furchtbare dieser Oper, in der man auch ein
bisschen weint: Da ist kein Wort erfunden. An diesem Requiem für die
Lebenden.
23 Jan 2016
## AUTOREN
Petra Schellen
## TAGS
Staatsoper Hamburg
Fukushima
Radioaktivität
Oper
Theater
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