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# taz.de -- Theaterstück „Für immer ganz oben“: Haare in der Achselhöhle
> Pubertätsnöte am Pool: Abdullah Kenan Karaca inszeniert die Erzählung
> „Für immer ganz oben“ von David Foster Wallace in München.
Bild: Ein 13-Jähriger durchlebt auf einen Sprungturm die Ängste des Erwachsen…
„Bloß nicht zu warm anziehen“, lautet die Devise für diesen Theaterabend …
Pool. Am Spielort in der Schwimmhalle des Müller’schen Volksbads ist die
Luft 35 Grad warm und feucht. Eine Zuschauerin hat die nackten Füße auf den
mit Kunstrasen dekorierten Beckenrand gelegt und wedelt sich mit einem
Fächer angestrengt Luft zu.
Ein Schwimmbad ist ohne Zweifel der naheliegende Ort, um David Foster
Wallaces Kurzgeschichte „Für immer ganz oben“ als Singspiel zu inszenieren.
Denn diese nur zwölf Seiten lange Coming-of-Age-Geschichte, in der sich ein
13-jähriger Junge auf einen Sprungturm wagt und dabei die Ängste vor dem
Erwachsenwerden en miniature durchlebt, spielt in einem Freibad. Erschienen
ist sie 1999 im Erzählungsband „Kurze Interviews mit fiesen Männern“, neun
Jahre später nahm sich David Foster Wallace das Leben.
In diesem unfassbar dichten Text befinden wir uns im Kopf des Jungen, der
seinen 13. Geburtstag als Explosion der Sinneseindrücke erlebt. Es ist ein
fulminanter Text über die Metamorphose vom Kind zum Mann, die massiven
Veränderungen in Körper und Seele und das mühsame Finden einer eigenen
Identität. Ein Text, der eine extreme Nähe zulässt: Wir spüren fast selbst
die glitschigen Sprossen des Sprungsturms, die der Junge erklimmen muss. Er
registriert die körperliche Veränderung und durchläuft das volle Programm
von Teenage-Angst, feuchte Träume inklusive: „Du hast jetzt sieben Haare in
deiner linken Achselhöhle, zwölf in deiner rechten. In deinem Intimbereich
sind mehr gewellte Haare als du zählen kannst.“
Ebendiese Erzählung hat sich Abdullah Kenan Karaca, Hausregisseur des
Volkstheaters München, für seine Aufführung im Rahmen der Münchner Biennale
ausgesucht. Das von Hans Werner Henze gegründete Festival für neues
Musiktheater wird seit 2016 von den beiden Komponisten Daniel Ott und Manos
Tsangaris geleitet.
## A und O dröhnen unerträglich
Mit der Wahl des Ortes ist Karaca ein Coup gelungen, denn das Volksbad ist
keine gekachelte, nüchterne Badeanstalt, sondern ein Jugendstil-Kunstwerk
mit einer monumentalen Kuppel, die einen als Zuschauer allein schon wegen
des imposanten Raumes beeindruckt. In dieser Kulisse platziert der
Regisseur nun seinen Hauptdarsteller zu Beginn auf einer Empore über dem
Schwimmbecken, also über den Köpfen der anderen Darsteller, ganz so, wie es
David Foster Wallace mit dem Titel „Für immer ganz oben“ suggeriert.
Im Wasser plantscht eine Jungsschar in Gestalt des Münchner Knabenchors. Am
Beckenrand beobachten die Eltern das Treiben am Pool, dargestellt von
Oliver Möller und Mara Widmann als Klischeepaar: sie als quietschige
Blondine im rosafarbenen Bademantel, den sie für einen Sprung ins Wasser
nonchalant abstreift, er als schwarzhaariger Macker, der sie vor allem
deshalb geheiratet hat, weil sie mit ihrer Topfigur nach der Geburt des
ersten Kinds nicht aus dem Leim zu gehen drohte.
Die Komponistin Brigitte Muntendorf beschallt das feuchte Szenario mit
einer Geräuschkulisse, in der man schwerlich eine Melodie zu erkennen
vermag und die von einer Band mit Klavier, Synthesizer, E-Gitarre, Cello
und Schlagwerk interpretiert wird. Statt eines Textes singen die Jungen
jedoch nur Silben, lassen Vokale wie A und O bis ins Unerträgliche
anschwellen oder intonieren „Falling into the blue, into the white splash!“
## Seine körperliche Verletzlichkeit
Das Bühnenbild ist beeindruckend, der Klang auch, keine Frage.
Atmosphärisch und optisch ist diese 50-minütige Inszenierung durchaus
ansprechend. Der kristallklare Klang der Stimmen des Knabenchors bewirkt
eine sakrale Atmosphäre wie in einer Kirche. Auch die Aufreihung der
schmächtigen Jungskörper in Badehosen versinnbildlicht eben jene
körperliche Verletzlichkeit, die die Hauptfigur im verwirrenden Übergang
von Kindheit zu Adoleszenz so schmerzlich empfindet.
Schade allein, dass von der Sprache der Erzählung nicht mehr viel übrig
bleibt. Die Essenz der Geschichte wird in dieser Inszenierung allein auf
einer rein sinnlichen Ebene erfahrbar. Unverständlich bleibt zudem, wieso
Karaca einem klischeehaften Schlagabtausch zwischen den Eltern so viel Raum
gibt. Mutter und Vater reden lange gebetsmühlenartig auf den Sohn ein, das
kommt ziemlich seifenoperhaft daher.
Das Publikum ist dennoch sichtlich angetan. Mit lautem Applaus quittieren
die lediglich 120 Zuschauer den Abend – mehr passen nicht in die
Schwimmhalle. Am Morgen danach werden hier übrigens wie üblich wieder die
Schwimmer ihre Bahnen ziehen.
2 Jun 2016
## AUTOREN
Annette Walter
## TAGS
David Foster Wallace
Pubertät
Theaterstück
Junges Theater
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