# taz.de -- Debütroman von Thomas Melle: Vom Hipster zum Sickster | |
> Pop, Psychosen, Projekte: Der feiernswert reichhaltige Debütroman | |
> "Sickster" von Thomas Melle will sehr viel auf einmal. Aber er liefert | |
> auch. | |
Bild: Zuerst hip, dann sick. | |
Nicht zu früh lachen, mahnt der Prolog, und recht hat er: Nicht zu früh | |
urteilen und auf gar keinen Fall zu früh weglegen diesen Roman, der - | |
versprochen! - nie bloß ist, was er an jeweils erreichter Stelle scheint. | |
Jedenfalls ist er schon mal gleich gar nicht, was der Umschlag suggeriert: | |
ein weiterer dick aufgetragener Sex-und-Drogen-Roman aus den Tanzkellern | |
und Kokstoiletten zwischen Nobelgymnasium und Berghain. Obwohl - das ist er | |
schon auch und kennt alles und spielt auf alles an, was sich da seit den | |
Beat Poets zwischen "Less Than Zero", der Krachtschen Barbourjacke und den | |
unreifen Lurchen getan hat. | |
Von Beginn an ist dabei ein entschiedener Wille zur Verdichtung am Werk, zu | |
originellen Formulierungen, neuen Metaphern, zum One-Liner, zur Liste und | |
zum poetischen Kunststück. Auch das Zitat wird nicht gescheut, straight | |
oder verballhornt, von Goethe, Brecht und Benn bis in die Tiefen des | |
Indie-Rock. Dazu die Ingredienzien des avancierten Popromans: | |
Theoriekompetenz, narratologische Vielfalt, World Wide Web und | |
Selbstreflexion sowieso. Mit anderen Worten: Sickster will sehr viel auf | |
einmal. Aber er liefert auch. | |
Zum Beispiel grandiose Szenen aus der Welt des Marketings, in der sich zwei | |
Bonner Canisius-Schüler Jahre nach dem Abi wiedertreffen. "Dass Tankstellen | |
und Energy Drinks auf so extreme Weise voneinander profitieren, läge an | |
mehreren Faktoren, erklärte Thorsten" - und der Text enthält sie uns nicht | |
vor, sondern breitet sie genüsslich aus, alle fünf, mit Begründung und | |
Klarnamen, und das zwischen Sexfantasien, platonischer Jugendliebe und | |
Plänen für den großen Film (der das Buch dann am Ende auch irgendwie ist). | |
## Thorsten trinkt, Laura ritzt | |
Friesenrock und Webcam, Timotei und Distelmeyer, Fukuyama, Cassavetes und | |
die Wirkung der Times New Roman, alles welthaltig erzählt, pointiert, | |
gesättigt mit Gegenwart - aber na ja, dass hier entfremdetes Leben und | |
Reden parodiert wird, ist dann auch schnell klar, und die Katastrophe kommt | |
nicht unerwartet. Aus Hipstern werden Sickster: Thorsten trinkt (Red Bull | |
Jägermeister), seine Freundin Laura ritzt, und der Feingeist Magnus Taue, | |
der "als der nervöse Supertasker, der er war", dem Leser besonders ans Herz | |
wächst (bitte bei der Verfilmung unbedingt mit Lars Eidinger besetzen!), | |
rutscht in die Psychose. | |
"Ihr naht euch wieder, krankende Gewalten -". Doch auch hier kneift der | |
Text nicht. Er gibt diesen mentalen Grenzzuständen der Sickster Raum, | |
erfindet ihnen Texturen, verwandelt sie, man muss es so sagen, in | |
Literatur. Taues Paranoia etwa, "der Krebs des Verstehens", wird vorgeführt | |
als eine verdichtete Stadtsemiotik Berlins, in der die zunehmende | |
Komplexität der Codierungen mit dem poetischen Projekt derart identisch | |
ist, dass man am Ende nicht mehr weiß: Dient hier die Poesie der | |
Darstellung des Wahns oder der Wahn dazu, Poesie hervorzubringen? | |
Bleibt der Roman, mit anderen Worten, letztlich realistisch (womöglich als | |
Illustration der These, diese kapitalistische virtuelle Welt sei ihrem | |
Wesen nach psychotisch), oder kippt er in ein qualitativ Neues, wie das die | |
alten Avantgarden zwischen Expressionismus und Surrealismus mit ihrer | |
revolutionären Irrenprosa bezweckt hatten? | |
## Das hier ist Pop | |
Melles Roman findet zu dieser literaturgeschichtlich spannenden Alternative | |
des vergangenen Jahrhunderts einen dritten Weg. Bei aller Literarizität - | |
das hier ist Pop, also: Nicht zu früh nicht lachen! Denn hier gibt es, was | |
den Wahnsinn angeht, zum Glück nicht nur das Innere und den Diskurs, | |
sondern auch den Raucherraum der psychiatrischen Station, und dort trifft | |
man sich wieder, um Pläne auszuhecken. In der jüngeren Popliteratur ist | |
schon länger eine gewisse Tendenz erkennbar, die literarische Fantasie zur | |
absurden Praxis zu machen (z. B. bei Uschmann, Schamoni, Horzon). | |
Und auch hier gerät die surrealistische Idee, die Irren auf die Normalen | |
loszulassen, um diese mit dem Gen des Auch-anders-Möglichen zu infizieren, | |
zum Hoax, zum Happening um die Einführung eines fiktiven Kraftstoffs, zum | |
praktischen Witz, der die reale Psychose für einen gleißenden Moment mit | |
der psychotischen Realität kurzschließt. Godspeed you, Sickster! | |
So kann am Ende einerseits die Fiktion einen Sieg feiern, andererseits | |
dürfen die Kranken, anders als bei Carl Einstein oder André Breton, in die | |
Klinik zurück. "Und schlussendlich waren sie auch ganz froh darum." Genau | |
wie wir um diesen feiernswert reichhaltigen Erstlingsroman: hoher Anspruch, | |
gute Sätze, punktgenaue Landung - eine echte Perspektive für die deutsche | |
Literatur! | |
Thomas Melle: "Sickster". Rowohlt.Berlin, Berlin 2011, Seiten, 19,95 Euro | |
14 Oct 2011 | |
## AUTOREN | |
Moritz Bassler | |
## TAGS | |
Thomas Melle | |
Surrealismus | |
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