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# taz.de -- Schriftsteller Thomas Melle: Der Versehrte
> Thomas Melle hat in seinem aktuellen Roman „Die Welt im Rücken“ über
> seine bipolare Störung geschrieben. Er musste, sagt er. Eine Begegnung.
Bild: Das Schreiben sei für ihn „die ideale Existenzform“, sagt Thomas Mel…
Thomas Melle, in ein schwarzes Hemd und einen anthrazitfarbenen Pullover
mit V-Ausschnitt gekleidet, trinkt während des 54:38 Minuten dauernden
Gesprächs im Außenbereich des Berlin-Kreuzberger Lokals „Zitrone“ eine
große Cola aus einem Glas, das er, um den herumschwirrenden Wespen das Ziel
zu nehmen, mit einem nachträglich georderten Bierfilz bedeckt, und raucht
mehrere Zigaretten, während am Nachbartisch ein Englisch sprechender Mann
sein Gegenüber über seine Wohnsituation in New York aufklärt.
Das alles ist wahr; und dann, könnte man ja annehmen, enthält es vielleicht
auch eine Wahrheit über den Schriftsteller Thomas Melle.
Der Punkt ist nur: Für Melle sind solche unförmigen, tagebuchhaften
Zusammenfassungen des Beobachtbaren nichts. Sagt er, wenn man ihn nach Karl
Ove Knausgård fragt, mit dem er in den vergangenen Wochen mehrmals in eine
Reihe gestellt wurde.
## Der Sog des Authentischen
Knausgård, der norwegische Schriftsteller, der mit seiner mehrbändigen
literarischen Aufbereitung eigener Versehrtheiten zu einem der
gegenwärtigsten Schriftsteller dieser Zeit wurde, stellt den Sog des
Authentischen – in den Literaturjurys in den vergangenen Jahren ebenso sehr
geraten sind wie viele Leser – unter anderem über die Fülle an Details her.
Melle aber schreibt in seinem nonfiktionalen Roman „Die Welt im Rücken“, er
glaube ihm „kein einziges Wort“.
„Roh, unbehauen, unförmig“ nennt Melle Knausgårds Schreiben. „Er tut ha…
so, als sei alles, was er schreibt, wirklich erinnert“, sagt Melle. „Dass
das zutrifft, muss man ohnehin nicht annehmen – und es spielt auch keine
Rolle. Mir geht aber einfach diese Detailversessenheit wahnsinnig auf die
Nerven. Ich möchte nicht wissen, welche Farbe die Tasse hatte, aus der er
vor zehn Jahren Kaffee trank, oder welches Gedicht er nur halb verstanden
hat in seinem Studium. Es wird langweilig und dadurch auch unwahr.“
Die Herstellung von Authentizität müsse durch die Formbildung gegangen
sein, sagt er. „Es kann nicht darum gehen, einfach Tagebücher zu
veröffentlichen, jedenfalls gerade nicht für mich.“
Fragt man Melle, warum er schreibt, ruft er als einen frühen Bezugspunkt zu
Büchern unter anderem Karl Mays Autobiografie „Ich“ auf. „Ich fand das
interessant, weil er vieles beschönigt, also eigentlich lügt. Da konnte ich
mir Gedanken machen, warum man so mit der Welt und sich umgeht, und wie der
Text dann im Verhältnis zur Wirklichkeit und zur Wahrheit steht.“
## Im Zentrum der Zeichen
Wie steht ein Text im Verhältnis zur Welt? Das ist eine Frage, die immer
wieder als Elefant im Raum steht, wenn eine Schriftstellerin oder ein
Schriftsteller – wie nun Melle – von den Annäherungen des eigenen Lebens an
die Katastrophe erzählt. Wenn ein Roman nicht nur, wie es im Vorspann zu
Filmen manchmal heißt, „auf einer wahren Geschichte beruht“, sondern auch
noch auf der des Autors selbst, wie im Fall von Thomas Melle.
Sein Roman „Die Welt im Rücken“, mit dem er auf der Shortlist zum Deutschen
Buchpreis stand, ist eine Geschichte seines Lebens mit der bipolaren
Störung, eine Geschichte in drei manisch-depressiven Schüben. Melle erzählt
von sich als einem Mann, der in der Manie Radfahrer an Ampeln vollquatscht;
der seiner Verlegerin bei einem Empfang in den Rücken stößt; der in seinen
Mitmenschen seine Figuren wiedererkennt, nicht umgekehrt; der Sex mit
Madonna zu haben glaubt; und der sich als Adressat von Politikerreden
fühlt, allerdings nicht als Bürger, sondern ganz persönlich – „immer
steckten darin auch inhärente Botschaften an mich, genau mich, hier an
diesem Schreibtisch. Schröder redete über meine Kohlenkellerkindheit,
Fischer mahnte mich zur Mäßigung.“
Der also ins Zentrum der Zeichen gerät, die er wahrnimmt. Der glaubt, die
ganze Welt meine mit ihrem Handeln nur ihn. „Manchmal glaubte ich, die
Spatzen vom Dach pfiffen tatsächlich unsere Namen, und die Kinder in
Kreuzberg meinten mit ihren Rollenspielen uns“, schreibt er.
Man darf einen Autor natürlich nicht mit seiner Figur verwechseln. Melle
schrieb als „zwischenzeitlich Geheilter“, wie er es nennt, über Melle, den
Maniker, und Melle, den Depressiven; kontrolliert und im vollen Bewusstsein
seiner literarischen Mittel. „Wenn ich eine Manie beschreibe, begebe ich
mich wie in eine Filmkulisse“, sagt er. „Ich kann alles nachempfinden, aber
eher wie ein Schauspieler, der sich selbst spielt, sich mit sich selbst
identifiziert, aber aus der Rolle, die ja keine Rolle ist, stets wieder
aussteigen kann.“
Es steht allerdings außer Frage, dass er über sich schreibt. Melle sagt,
„es war eine Notwendigkeit, dieses Buch zu schreiben“. Er nennt es nicht
therapeutisch, aber er sagt, er habe sich freischreiben wollen von den
manischen Figuren, seinen, wie er sie nennt, „Wiedergängern“, die in viele
seiner vorherigen Geschichten eindrangen.
## Aufräumen mit der Fiktion der Vergangenheit
Tatsächlich ist es an manchen Stellen in „Die Welt im Rücken“, als würde
Melle seine bisherigen Erzählungen und Romane um die Fiktion aufräumen. Als
würde er schon einmal geschriebenen Passagen, in denen er die Kämpfe zum
Teil manisch-depressiver Figuren verhandelte, ihre Wirkmacht nehmen, indem
er sie, nun als echt beglaubigt, wiederholt.
Er habe da stets etwas Größeres zu bearbeiten gehabt, sagt Melle, „das ich
nicht ganz ausbreiten konnte, aber doch mitschreiben, mitthematisieren
musste. Ich kam dann, wie in einer glücklichen Verlegenheitslösung, auf
diese halbfiktiven Figuren. Nur, da habe ich schließlich gemerkt, dass ich
diese Bewegung jetzt auf ihren Nullpunkt hinführen musste. Ich musste die
Erzähler- und die Autorenperspektive zusammenführen.“
Es gibt Sätze in „Die Welt im Rücken“, die im Duktus der Sekundärliterat…
geschrieben sind. Das ist wohl ein Grund, warum das Buch bisweilen
voyeuristisch wie eine Krankenakte gelesen wird. Vielleicht verwechseln die
Leute aber auch Verständlichkeit mit einem Striptease. Melle jedenfalls
sagt, er habe sich gar nicht ausgezogen, er habe nur das Licht so
eingerichtet, dass es so aussieht.
## Schriftsteller des Glücks?
Den Punkt, an dem sich Autor und seine Figuren nun treffen, nennt er Ground
Zero. An diesem Punkt ist er jetzt. Was will er darauf errichten?
Er würde gerne ein Zitat relativieren, sagt er, auf das er häufig
angesprochen werde: dass er nun ein Schriftsteller des Glücks werden wolle.
Er schreibt an einem Theaterstück über den Tod des Bürgertums und einem
über die Tabuisierung von Krankheiten. „Bei der Prosa weiß ich noch gar
nichts. Flaubert meinte ja, Madame Bovary handelt von der Farbe Gelb. Ich
habe da so ein paar Farbtöne im Kopf, Richtung hellblau, ein paar
‚konzeptuelle Gefühle‘ – so nenne ich das für heute. Aber es ist alles …
recht unscharf.“ Dass er doch wieder über die dunklen Seiten schreibt,
könne er nicht ausschließen, das, sagt er, wäre dann aber völlig in Ordnung
so.
Das Schreiben, sagt er, sei für ihn „die ideale Existenzform“, weil es
ermögliche, „noch aus den hässlichsten Kontexten Schönheit zu generieren.
Ich finde das ein tolles Verhältnis, wie die Hässlichkeit und Schwierigkeit
des Lebens in schönen Sätzen krass offenbar wird. Da entspringt eine
Ästhetik der Wahrhaftigkeit.“
Wie steht Melles Roman im Verhältnis zur Welt?
So.
22 Oct 2016
## AUTOREN
Klaus Raab
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