# taz.de -- Eine Jugend in den 80ern: Mein toter Schwager | |
> Was bleibt von einem Menschen, dessen Leben schon mit 22 Jahren zu Ende | |
> war? Eine Spurensuche in der eigenen Familie. | |
Bild: Rüdiger während seines US-Aufenthalts | |
Der Vater | |
An dem Tag, an dem ich nach Rüdiger frage, nimmt mich sein Vater mit ins | |
Arbeitszimmer und erzählt mir von einem Tennisspieler. Er macht die Tür | |
hinter sich zu, was er sonst nur tut, wenn eine Sportübertragung läuft, die | |
er sich in Ruhe ansehen will, nimmt ein dunkelgrünes Fotoalbum aus dem | |
Regal und schlägt die erste Seite auf. Zu sehen ist ein Schwarzweißfoto, | |
aufgenommen während eines Ballwechsels. Auf der linken Platzhälfte steht | |
ein dunkelhaariger Spieler in einem gestreiften Shirt, einen Schläger in | |
den Händen. Rüdiger, fünfzehn Jahre alt. | |
Dieses Motiv zieht sich durch das Buch. Rüdigers T-Shirts sind mal längs | |
und mal quer gestreift, mal hält er einen Pokal, mal inspiziert er die | |
Inschrift eines silbernen Tellers, den er gewonnen hat. Aber immer sieht | |
man ihn im Rahmen seiner Lieblingsbeschäftigung. Seite 2, Seite 13, Seite | |
25: ein Heranwachsender, ein Teenager, ein junger Erwachsener, der Tennis | |
spielt. | |
Ich habe mir dieses Album, das Archiv von Rüdigers sportlicher Laufbahn, | |
seitdem wieder und wieder angesehen. 1978, mit elf, wird er Vereinsmeister | |
der Herren in seinem Heimatverein. 1982, mit fünfzehn, wird er Dritter der | |
Rheinhessen-Meisterschaft – wieder der Herren. 1983, mit sechzehn, gewinnt | |
er sie. 1984 wird er Rheinland-Pfalz-Saar-Meister der Jugend. Einen | |
großartigen Erfolg nennt es die Zeitung. Im selben Jahr schlägt er im | |
Halbfinale der Henner-Henkel-Endrunde Carl-Uwe Steeb 6:4, 6:3 und spielt | |
bei den deutschen Herrenmeisterschaften: „Ein Top-Talent aus dem | |
Südwesten“. | |
Die deutsche Jugendrangliste 1984:1. Boris Becker5. Patrik Kühnen9. | |
Carl-Uwe Steeb10. Rüdiger | |
1985 siegt er in der Halle in Dudenhofen. Tennis-Camp. „Der alte und neue | |
Rheinhessenmeister heißt …“ Aufstieg in die Regionalliga. „Der 18-Jähri… | |
gewann im Finale überzeugend mit 6:2, 6:2.“ Ausfallschritt, einhändige | |
Rückhand, eingesprungene Vorhand, Sprungaufschlag. Sandplatz, Hartplatz, | |
Halle. | |
Das Album endet mit einem Ausriss aus der Zeitschrift des rheinhessischen | |
Tennisverbands von 1989; aus dem Jahr, in dem die deutsche Mannschaft um | |
Becker, Steeb und Kühnen den Davis-Cup verteidigt, in dem die | |
Tennisbegeisterung in Deutschland auf ihrem Höhepunkt ist. Es ist ein | |
Nachruf. | |
Die Mutter | |
An dem Tag, an dem ich Rüdigers Mutter nach ihrem Sohn frage, setzt sie | |
sich mit mir an den großen Tisch im Esszimmer und erzählt mir von einem | |
schüchternen Jungen, der sich hinter ihren Beinen versteckt, wenn es an der | |
Tür klingelt. | |
Das Fotoalbum, das sie aus dem Regal nimmt, um Anekdoten daraus zu | |
schöpfen, ist weiß-blau kariert. Es beginnt mit einer Geburtsanzeige, die | |
seinerzeit in der Lokalzeitung erschienen ist. Rüdiger, geboren am 2. Juni | |
1966 um 2.37 Uhr in Mainz. 52 Zentimeter groß, 3400 Gramm. | |
Rüdiger ist ein freundliches Baby, so sagt es die Mutter. Wenn seine | |
Patentante zu Besuch kommt und ihn aus der Wiege nimmt, strahlt er übers | |
ganze Gesicht. | |
Als seine Schwester auf die Welt kommt, ist Rüdiger fünfeinhalb. Manchmal | |
sitzt er neben ihr auf der Couch und summt eine Melodie, die er im | |
Kindergarten gelernt hat. | |
1972 gründen die Eltern mit Freunden einen Tennisverein in ihrem Dorf. Eine | |
Idee der Mutter. Der Deutsche Tennis-Bund wächst in dieser Zeit jährlich um | |
mehrere tausend Mitglieder; und die Freunde spielen ohnehin alle Tennis. | |
Warum also nicht zusammen? Das ist der Gedanke, der alle überzeugt. Sie | |
legen die Plätze selbst an. Die Familie verbringt von nun an praktisch | |
jedes Wochenende auf der Anlage. | |
An seinem ersten Schultag im August trägt Rüdiger weiße Socken, ein | |
Polohemd und kurze Hosen. Seine Schultüte zeigt einen gestiefelten Kater. | |
Die Schwester | |
Zum ersten Mal von Rüdiger hörte ich an dem Tag, an dem ich nach der Arbeit | |
mit seiner Schwester Jutta verabredet war. | |
„Hast du Geschwister?“, fragte sie. Ich hielt das für Small Talk. | |
„Zwei“, sagte ich, „und du?“ | |
„Ich habe einen Bruder, aber er lebt nicht mehr.“ | |
Im Grunde gehörte er von diesem Moment an zu meiner Geschichte. Ich wusste | |
das damals natürlich nicht. Es war ihre Geschichte. Dass wir unsere Leben | |
miteinander verschränken würden, dass vieles von dem, was sie angeht, auch | |
mich betreffen würde und vieles, was mich betrifft, auch sie, war nach den | |
ersten Begegnungen nicht ausgemacht. | |
Seit mehr als elf Jahren sind sie und ich ein Paar. Wir haben Kinder, wir | |
tragen Ringe, wir suchen gemeinsam Waschmaschinen aus und einigen uns auf | |
Wandfarben und Urlaubsorte. Meine alte Weltkarte ist nun auch ihre; ihre | |
große, gerahmte Fotografie des zeternden John McEnroe betrachte ich auch | |
als meine. | |
Aber es gab immer wieder Momente, in denen sich ihr früheres Leben über die | |
Gegenwart stülpte. | |
An Tagen, deren Datum ich mir lange nicht merken konnte, fuhr sie durchs | |
halbe Land, damit ihre Eltern an seinem Geburts- und Todestag nicht allein | |
wären. | |
Als sie vor der Geburt unseres ersten Kindes ihre Tasche für den Kreißsaal | |
packte, bat sie mich, ihr das gelbe T-Shirt aus dem obersten Schrankfach zu | |
holen; das sei so schön weit, sagte sie. Ich könne ihr auch ein weites | |
T-Shirt von mir geben, sagte ich. Doch sie bestand auf ihrem. Es trägt den | |
Schriftzug eines Colleges in Kansas, Rüdigers Shirt. | |
Wenn wir bei ihren Eltern zu Besuch waren, kam das Gespräch bisweilen von | |
einem Moment auf den anderen auf Rüdiger. Eine Frage nach der | |
Abendessenplanung – und wir waren bei seiner Lieblingsspeise, Reisauflauf. | |
Eine Begegnung mit einem Hund – und wir waren beim Cockerspaniel Olli, der | |
zur Familie kam, nachdem er Rüdiger beim Züchter die Schnürsenkel | |
aufgezogen hatte. | |
Und eines Tages, beim Umräumen, fiel mir ein Artikel über die Trauer von | |
Menschen in die Hände, die Bruder oder Schwester verloren haben. Jutta | |
hatte ihn für ein Magazin geschrieben. „Wie viele Jahre seid ihr | |
auseinander, du und deine Schwester?“, fragt sie, die Reporterin, einen | |
jungen Mann, dessen kleine Schwester gestorben ist. Er antwortet: „Drei. | |
Finde ich cool, wie du fragst. Du sagst ‚seid ihr auseinander‘ und nicht | |
‚wart‘.“ Oder später im Text, da sagt er: „Die Leute kucken dich | |
bemitleidend an. Oft fragen sie gar nicht nach, wollen nicht wissen, was | |
genau passiert ist. Oder sie sagen: ‚Oh, tut mir leid!‘ Und schauen | |
betreten zur Seite.“ | |
Juttas Artikel handelt auch von ihr. Und ich gehörte zu diesen Leuten. | |
So legte sich Rüdigers Existenz wie ein aufspringendes Pop-up-Fenster | |
immer wieder über die Oberfläche meiner Welt. Irgendwann begann unsere | |
Tochter, mich nach ihm zu fragen, da war sie drei. Als wir bei einem | |
Spaziergang an einem Friedhof vorbeikamen, sagte sie, in so etwas wohne | |
auch Mamas Bruder. Wir gingen hinein, sie balancierte auf der steinernen | |
Einfassung eines Grabs und wollte wissen, ob die Leute, die hier wohnten, | |
keine Möbel hätten. Warum Rüdiger schon gestorben sei. Warum ich nichts von | |
ihm erzählen könne, ihrem Onkel. Das fragte ich mich auch. So begann meine | |
Suche. | |
Wenig später sitze ich mit seinem Vater im Arbeitszimmer und schaue mit ihm | |
das dunkelgrüne Fotoalbum an. Wer war Rüdiger? | |
Triff Volker, sagt Jutta. Triff Eva. Triff Stefan. Ein Dutzend Leute nennt | |
sie mir, als ich ihr von meinem Vorhaben berichte, mehr über ihren Bruder | |
zu erfahren; und sie sagt, es wäre doch schön, seine Geschichte dann auch | |
aufzuschreiben. | |
Ich: „Warum willst du das? Willst du wissen, ob ich Sinn darin entdecke?“ | |
Sie: „Nein, es liegt kein verdammter Sinn in alldem. Ich würde einfach nur | |
gerne wissen, ob er für seine Freunde auch noch da ist.“ | |
Der Freund, der immer da war | |
Rüdigers Elternhaus steht am Ende einer kleinen Straße. Wie alle Straßen im | |
Viertel heißt auch diese nach einem Komponisten. Rüdigers Welt als Kind | |
reicht von Carl Orff bis Joseph Haydn. | |
Im weiß-blau karierten Album gibt es Fotos, auf denen man ihn auf Stelzen | |
durch den Wendehammer laufen sieht. Auf Rollschuhen stehen. Fahrrad fahren. | |
Beim Urlaub in Valras-Plage, Südfrankreich, mit seinem Vater auf einem | |
Tennisplatz. Und da ist auch das erste Foto von ihm und Stefan: Beim | |
Landskronbergfest in Oppenheim machen sie ein Wettrennen. | |
Manche Freunde sind Freunde für Lebensabschnitte; in der Schulzeit, in | |
Sportteams, bei der Bundeswehr. Stefan, ein Cousin dritten Grades, war | |
immer da. Nun sitzen wir in Rüdigers Zimmer. Als die Tür zu ist, sagt | |
Stefan: „Ich war lange nicht mehr hier drin. Ich hatte einen Wahnsinnskloß | |
im Hals, als ich ankam.“ | |
Ich: „Woran denkst du, wenn du an Rüdiger denkst?“ | |
Stefan: „An Partys am Eicher See. Da war ein Häuschen, Boot vor der Hütte, | |
das war unser Meetingpoint. Einige von uns hatten Mopeds. Rüdiger nicht, | |
der fuhr dann später, mit achtzehn, im alten Kadett seiner Mutter herum, | |
den er Zahnbelag nannte, der Farbe wegen.“ | |
„Was habt ihr am See gemacht?“„Gechillt. Das war völlig unbeschwert. Vie… | |
fünf Jungs, für die es außer Schule und Sport nichts gab, na ja, höchstens | |
noch Mädels. Aber Sport war das verbindende Element.“ | |
„Wer war Rüdiger?“„Ein Sonnyboy. Er war total durch den Sport geprägt, … | |
hat ihn straight durch die ganze Jugend gebracht. Das hat ihm ein großes | |
Selbstvertrauen gegeben. Andere wurden Punks, ich machte Leichtathletik, | |
Rüdiger spielte Tennis. Der wusste genau, was er konnte und wie er seinen | |
Ärger loswurde, wenn er welchen hatte. Wir haben auch erst sehr spät mal | |
Alkohol getrunken.“ | |
„War er brav?“„Überhaupt nicht. Wir waren ziemlich losgelöst von | |
irgendwelchen Trends. Ich hatte Holzclogs und Schlaghosen, Mode war mir | |
total egal. Rüdiger war genauso. Er hängte seine Fahne nicht in den Wind. | |
Er war bei jedem Mist dabei. Mit sechzehn fuhr er ein BMW Coupé über die | |
Autobahn.“ | |
„Politik?“„Null.“„Kirche?“„Haben wir nie drüber gesprochen. Die … | |
gefiel ihm vielleicht.“ | |
„Was glaubst du – hätte Rüdiger Tenniskarriere gemacht?“„Er wollte sc… | |
ein Großer werden, deswegen wollte er ja auch unbedingt nach Kaiserslautern | |
aufs Tennisinternat. Er wurde nicht gedrängt, er wollte das. Das | |
Tennisinternat war die Adresse. Aber er hatte einen Punkt, so mit achtzehn, | |
neunzehn, an dem er dachte: Es gibt noch mehr als Tennis.“ | |
Ein kurzes Interview mit Rüdiger in der ZDF-Sportsendung „Pfiff“ im Oktober | |
1980: | |
ZDF: „Möchtest du Tennisprofi werden?“ | |
Rüdiger, 14: „Wenn ’s geht, Bundesliga. Aber erst mal vielleicht so was wie | |
mein Vater.“ | |
ZDF: „Der ist Weinbau-Ingenieur, nicht?“ | |
Rüdiger: „Ja, so.“ | |
ZDF: „Und dann nach Wimbledon?“ | |
Rüdiger zuckt mit den Schultern. | |
Die Internatsbetreuerin | |
Das Heinrich-Heine-Gymnasium liegt am Fuß des Betzenbergs. Seit 1978 werden | |
dort junge Leistungssportler gefördert. Rüdiger war unter den Ersten, die | |
das Sportinternat besuchten. | |
Marion Noll kam schon während seiner Schulzeit als Erzieherin ans Internat. | |
Sie ist noch immer da. Eine freundliche, bestimmte Frau, die weiß, wie man | |
mit Fünfzehnjährigen spricht. | |
Ablauf am Internat: 6.45 Uhr Wecken. 8 Uhr Schulbeginn. Zehn Wochenstunden | |
Sport plus nachmittägliches Konditionstraining. Ab 17.30 Uhr Abendessen. | |
Abendprogramm: Tischtennisplatte im Keller-, Fernsehraum im Erdgeschoss, | |
Ausgang für die älteren Schüler bis 22 Uhr. | |
Die papiernen Karteikarten der ehemaligen Schüler stecken in Kartons im | |
Erzieherraum neben dem Eingang. Frau Nolls Kollege sucht unter H nach | |
Rüdigers Karte. | |
Oben rechts auf der Karte steht das Datum, an dem sie angelegt wurde: 23. | |
August 1978. Das Foto zeigt einen Zwölfjährigen, die Haare raspelkurz | |
geschoren, der stolz in die Kamera schaut; ein angehender Teenager, der | |
sich lieber selber eine reinhauen würde, als einem Fotografen einen Blick | |
hinter die Kulissen zu gewähren. Unter der vierstelligen Telefonnummer, die | |
hinter der fünfstelligen Vorwahl auf der Karte notiert ist, sind die Eltern | |
noch heute erreichbar. | |
Rüdigers Mutter: „Wenn es etwas Schulisches zu besprechen gab, hat er mich | |
angerufen. Wenn es um Sport ging, seinen Vater.“ | |
Ich: „Wie fandest du es, dass Rüdiger aufs Internat ging?“ | |
Die Mutter: „Der schönste Moment der Woche war Freitag, 14 Uhr, wenn er | |
nach Hause kam. Der schlimmste war sonntags, wenn ich ihm seine Tasche | |
gepackt habe. Aber was sollte ich machen? Es war sein größter Wunsch, dort | |
konnte er schon morgens Tennis spielen.“ | |
Jutta ist sechs Jahre alt, als ihr Bruder ins Internat geht. „Für sie war | |
er Superman“, sagt Rüdigers Freund Stefan. „Der große coole Bruder, zu dem | |
sie aufschaute.“ | |
Viele Anekdoten, die sich aus dieser Zeit um Rüdiger ranken, handeln von | |
Spielen, die er sich ausdenkt. Zum Beispiel tut Rüdiger so, als ob er sich | |
mit eiskaltem Wasser waschen würde. Das sei äußerst gesund, sagt er, | |
bibbernd. Die kleine Schwester macht es ihm nach. Bis sie nach Wochen | |
merkt, dass er selbst den Warmwasserhahn benutzt. | |
Jutta vermisst ihn so sehr, dass die Familie einen Cockerspaniel anschafft. | |
Das Zimmer, das Rüdiger im Internat mit drei anderen bewohnte, hat heute | |
die Nummer 303. Im Treppenhaus hängen Fotos und Trikots; von | |
Tischtennis-Weltmeister Steffen Fetzner, von Fußballprofi Axel Roos, von | |
Tennis-Davis-Cup-Sieger Patrik Kühnen. Alle waren zeitgleich mit Rüdiger | |
hier. | |
Marion Noll, die Schülerbetreuerin, geht vor ins zweite Obergeschoss und | |
klopft an der 303. | |
Ein Schüler öffnet. Duschgelgeruch, Badelatschen, FC-Bayern-Bettwäsche. Es | |
läuft eine Sportsendung auf dem Computer. Große Fenster. Vis-à-vis sieht | |
man ein anderes Internatsgebäude. | |
„Nachts stiegen die Schüler aus dem Fenster und kletterten ins | |
Mädchenhaus“, sagt Noll. „Zur Strafe mussten sie dann ums Haus herum sauber | |
machen. Aber es gibt bis heute intakte Ehen.“ | |
„Wen hat Rüdiger nachts besucht?“ | |
„Sagen wir so: Erwischt habe ich ihn nie.“ | |
Gespräch mit Jutta | |
„Ich wollte eigentlich nicht in Berlin bleiben“, sagt sie. „Ich musste | |
damals nur mal raus. Ich war nach Rüdigers Tod das einzige Kind meiner | |
Eltern. Das hat uns zusammengeschweißt, aber es hat mich auch überfordert. | |
Ich musste mal Abstand gewinnen.“ | |
Nun, sagt sie, sehne sie sich nach Familienwochenenden auf dem Tennisplatz, | |
nach autofreien Straßen, nach dem Weinberg hinter dem Haus. Und sie wolle, | |
dass die Kinder näher bei Oma und Opa sind. | |
Oder sie will die Fäden wieder aufnehmen. | |
„Lass uns darüber nachdenken“, sage ich. | |
Einige von Rüdigers Schulkameraden verlassen die Schule nach der mittleren | |
Reife mit dem Ziel, Profi zu werden. Er beschließt, das Abitur zu machen. | |
Die einen sagen heute, er habe den Rückstand später wieder aufholen wollen. | |
Die anderen sagen, er habe sich gegen das Tennis entschieden. | |
Sicher ist: Sobald er die Schule beendet hat, denkt Rüdiger wieder an | |
nichts anderes. Nach dem Abitur richtet er alle seine Entscheidungen danach | |
aus, ob sie mit Tennis vereinbar sind. | |
Er geht zum Beispiel nur deshalb zur Bundeswehr, weil er die Zusage hat, in | |
eine Sportfördergruppe zu kommen. Erst kurz vor der Grundausbildung erfährt | |
er, dass es nicht klappt, doch da gibt es keinen Weg mehr in den | |
Zivildienst. Er hockt mehr als ein Jahr lang in olivfarbenen Klamotten in | |
einem Büro herum und muss sich von einem mittelhohen Dienstgrad anpflaumen | |
lassen. „Fünfzehn Monate komplett fürn Arsch“, sagt ein Freund, den er in | |
der Kaserne kennenlernt. „Einmal“, sagt die Mutter, „kam er nach Hause, h… | |
seine Tasche stinksauer in die Ecke geschmissen und die Musik aufgedreht. | |
Irgendwann hat er dann erzählt, er musste die Kaserne putzen, weil er | |
Tennissocken in seinen Stiefeln trug.“ | |
Er geht anschließend an ein College in den USA, allerdings weniger wegen | |
des Studiums, sondern weil er dort in die Tennismannschaft eingeladen ist. | |
Und danach studiert er VWL in Mainz, wo er weiter in seinem Verein | |
trainieren kann. | |
Tennis, Tennis, Tennis. | |
Der Tennisfreund | |
„Tja“, sagt Volker, „was bedeutete ihm Tennis?“ | |
Wir sitzen auf einem Mainzer Vereinsgelände und schauen anderen beim | |
Spielen zu. Volker hat mit Rüdiger gespielt. Heute ist er Trainer und | |
schreibt Bücher über Tennistaktik. Mit einem Taschentuch tupft er sich | |
immer wieder Tränenflüssigkeit aus dem Augenwinkel. Verstopfte Drüse, sagt | |
er, laufe unentwegt, seltsame Geschichte. | |
„Tennis war unsere Zeitrechnung“, sagt Volker. „Es gab die Tennissaison u… | |
die restliche Zeit. In der restlichen Zeit gingen wir Ski fahren, da hat er | |
seine Preisgelder rausgehauen.“ | |
„Was für ein Spieler war Rüdiger?“ | |
„Ein klassischer Serve-and-Volley-Spieler, aggressiv, mit gutem Aufschlag, | |
der die Punkte gemacht hat und nicht von der Linie aus einen | |
Abnutzungskampf führen wollte.“ | |
„Ist Rüdiger für dich noch da?“ | |
„Klar ist er noch da. Aber ich erinnere mich fast nur an schöne Sachen. | |
Blech reden, Scheiß machen.“ | |
Die erste konkrete Erinnerung, von der Volker erzählt, ist diese: „Wir sind | |
zu fünft Ski fahren gewesen, und im Auto haben wir die ganze Zeit die Band | |
Marillion gesungen. Das heißt: Vor allem Rüdiger hat gesungen. ‚Fugazi‘, | |
‚Misplaced childhood‘, ‚Assassing‘. Der konnte das alles auswendig.“ | |
I am the assassin, with tongue forged from eloquence | |
I am the assassin, providing your nemesis | |
On the sacrificial altar to success, my friend | |
Unleash a stranger from a kiss, my friend | |
„Total abstruse Texte“, sagt Volker. | |
„Was heißt Blech reden?“, frage ich. | |
„Ach, Blech reden halt. Rüdiger war der bessere Tennisspieler, aber ich war | |
der bessere Skifahrer. Wenn ich ihn zur Tiefschneefahrt aufgefordert habe, | |
hat er gesagt: Okay, aber welcher ist jetzt gleich noch mal der Berg- und | |
welcher der Talski? Das ist Blech reden.“ | |
Dann wartet Volker auf meine Fragen, und ich warte, bis er von alleine | |
weitererzählt. Er gewinnt. | |
„An was hast du dich als Erstes erinnert, als ich dich angerufen und um | |
dieses Gespräch gebeten habe?“ | |
„Es war extrem schönes Wetter bei der Beerdigung“, sagt Volker. „Ich | |
erinnere mich, dass ich mit dem Cabrio hingefahren bin. Es muss Frühjahr | |
gewesen sein, die Tennissaison lief schon.“ | |
Nach diesem Gespräch verbringe ich Stunden mit Rüdigers Vinylsammlung. „Wir | |
haben nicht alles aufgehoben“, sagt Jutta. „Wir wollten kein Museum | |
einrichten.“ Aber die Platten wurden nie angerührt. Rock, Hardrock, | |
Progrock, Neo-Progrock – alles da. Die frühen Genesis, Saga, Deep Purple, | |
Pink Floyd, Van Halen, AC/DC, Black Sabbath. Neun Platten von Marillion: | |
„Script For A Jester’s Tear“ (1983) | |
„Garden Party“ (Single, 1983) | |
„He Knows You Know“ (Single, 1983) | |
„Real To Reel“ (1984) | |
„Fugazi“ (1984) | |
„Kayleigh“ (Single, 1985) | |
„Brief Encounter“ (1986) | |
„Clutching at Straws“ (1987) | |
„B’Sides Themselves“ (1988) | |
Viele Stunden lang höre ich Marillion. Auf Synthesizern surfend, fahre ich | |
U-Bahn; zu kreuz und quer gehenden Taktarten versuche ich zu joggen; | |
Texte, denen die Erfahrung des Nordirland-Konflikts eingeschrieben ist, und | |
Songs, die Fragezeichen im Titel tragen – „Childhood’s End?“ –, verl�… | |
Nächte bis in die Morgenstunden. | |
Dazu höre ich Geschichten. Rüdiger, sagt seine Mutter, habe nicht viel | |
geredet, wenn ihn etwas belastet habe. Er sei ins Untergeschoss gegangen | |
und habe die Musik hochgefahren. Rüdiger, sagt Jutta, habe auf dem | |
Tennisschläger Gitarre gespielt. Rüdiger, sagt Stefan, habe aus dem | |
Internat so Avantgardezeug eingeschleppt, die Wipers und so was. | |
Dann nehme ich mir Black Sabbath vor. Dann IQ. Dann Fischer-Z, die Band, | |
deren Namen Rüdiger mit schwarzem Filzstift auf ein Schränkchen geschrieben | |
hat. | |
Ich höre seinen alten Kram auch im Urlaub in Südfrankreich, wo Jutta, „wenn | |
wir schon mal da sind“, Orte ihrer Kindheit aufsucht. In Valras-Plage | |
stehen noch dieselben Häuser, da liegt noch der gleiche Sand, da gibt es | |
noch das gleiche Meer wie damals, als sie hier mit Rüdiger Burgen baute. | |
Aber sie bewegt sich wie durch ein Museum. Sie sieht nur Kulissen eines | |
Stücks, das von der Vergangenheit handelt; eines Stücks, dessen Soundtrack | |
ich im Ohr habe, ohne ihn wirklich zu verstehen. | |
Bis plötzlich eine Frage im Raum steht: Kann es sein, dass das, was wir | |
suchen, nicht mehr existiert? Dass die Bedeutung von Dingen, Orten oder | |
Songs nicht in ihnen selbst, sondern nur in den Erinnerungen an sie steckt | |
– in Erinnerungen, die ich an Rüdiger nie hatte und die bei denen, die ihn | |
kannten, langsam zu verblassen drohen wie alte Fotos? | |
There is no childhood’s end | |
’Cause you are my childhood friend | |
’Cause you are my childhood friend | |
Oh, lead me on | |
So heißt es im Fragezeichen-Song von Marillion. Die Kindheit endet nie. | |
Aber wenn doch? | |
## Die Sportlehrerin | |
Seine 17-seitige Facharbeit im Leistungskurs Sport schreibt Rüdiger vor dem | |
Abitur zum Thema „Psychoregulative Methoden im Tennis“. Eine Kernaussage | |
lautet: Selbstbeschimpfungen auf dem Platz führen zu nichts, freundliche | |
Hinweise an sich selbst dagegen schon. „Aus einem bissigen Befehl wie: ‚Geh | |
runter in die Knie‘, wird eine klare, vorwurfslose Feststellung: ‚Ich beuge | |
jetzt die Beine.‘“ | |
Frau Brun hat die Arbeit korrigiert. Rüdigers Lieblingslehrerin, sagt | |
Jutta. Frau Brun lebt heute mit ihrem französischen Mann im | |
Languedoc-Roussillon. Als wir im Frankreich-Urlaub zu ihnen fahren, die | |
Kinder im Schlepptau, werden wir bekocht wie alte Freunde. | |
„Rüdiger war ein sehr gut aussehender, sympathischer junger Mann“, sagt | |
Frau Brun. „Aber einer, der nicht alles mitmachte. Einmal haben wir in der | |
Klasse eine Faschingsparty gemacht, mit Polonaise und allem. Rüdiger fand | |
das überhaupt nicht lustig. Er sagte: ‚Das ist mir zu blöd.‘ – Ich: ‚… | |
geh zum Direktor und sage ihm, dass du an meinem Unterricht nicht | |
teilnehmen willst.‘ Und das tat er dann.“ | |
Rüdiger sei begabt gewesen, aber auch ein wenig bequem oder nicht ehrgeizig | |
genug, sagt Frau Brun weiter, einer, der überall ganz gut durchkam, den man | |
aber oft antreiben musste. | |
Tatsächlich liest sich seine Facharbeit mit zunehmender Seitenzahl immer | |
mehr, als sei sie nebenbei geschrieben worden. Was vermutlich daran liegt, | |
dass es so gewesen ist. Im Skiurlaub mit der Familie schrubbt er | |
zwischendurch irgendwas aufs Papier. | |
Im Nachhinein liest sich die Arbeit aber auch wie eine Anleitung für das, | |
was dreieinhalb Jahre nach der Abgabe kommen würde. Als Rüdiger krank wird, | |
motiviert er sich, als würde er in ein Spiel gehen. Er spricht davon, sein | |
wichtigstes Match zu spielen, so sagt es seine Mutter. Sein Freund Stefan | |
sagt: „Er hat nie geweint, ist nie zusammengebrochen, er hat sich nie | |
ergeben. Er sagte: Heute ist Donnerstag, morgen ist Freitag.“ | |
Als die Lehrerin, Frau Brun, Rüdiger einmal zu Hause besucht, nachdem sie | |
von seiner Krebsdiagnose gehört hat, schenkt sie ihm das Bild einer kleinen | |
Schnecke, die einen Berg hinaufkriecht. „Das bist du, habe ich ihm gesagt. | |
Mach weiter, werd gesund, du packst das.“ | |
Das Schneckenbild steht noch auf einem Fensterbrett im Elternhaus. Und | |
Rüdiger sagt sich damals: Ich krieche jetzt da hoch. Eine klare, | |
vorwurfslose Feststellung wie: „Ich beuge jetzt die Beine.“ | |
Wahnsinnig positiv eingestellt sei er gewesen, sagt seine Tante. Einmal | |
rast er auf Krücken über den Krankenhausflur. Er macht ein Wettrennen gegen | |
einen Beinamputierten. | |
„Wie ging es aus?“ | |
Die Tante: „Och, das weiß ich nicht mehr. Aber sie haben die ganze Zeit | |
rumgealbert.“ | |
Das ist im Frühjahr 1988. | |
## Der Coach | |
Anfang 1987 ist Rüdiger noch gesund. Er fliegt nach Kansas, um am College | |
Tennis zu spielen. An der Wichita State University steht er als „Freshman“, | |
als Neuling, im Jahrbuch. Handschriftlich füllt er mit Datum vom 14. Januar | |
den Fragebogen aus. | |
Height 6,1 ft | |
Weight 180 | |
Hobbies: Skiing, surfing, music | |
Favorite TV show: „Sportschau“ | |
Favorite Movie: „Life of Brian“ | |
Favorite Athlete: John McEnroe | |
Rüdiger startet als Nummer 6 der Mannschaft. Auf 1 spielt ein Neuseeländer, | |
dann kommen ein Schwede, ein Amerikaner, ein Südafrikaner und Andreas, ein | |
Freund aus Internatszeiten. An denen muss er vorbei. Doch Tennis wird für | |
ihn am College dominiert vom Kleingedruckten. TOEFL-Sprachtest, | |
SAT-Wissenschaftstest. Solange er nicht besteht, darf er nicht spielen. | |
Beim ersten Mal fällt er durch. | |
Sein Coach, Rex Coad, sagt, Rüdiger habe sich womöglich vorher nicht | |
klargemacht, dass er als College-Tennisspieler nebenbei auch aufs College | |
gehen müsse. Pretty hard for him. Er habe sich nicht so auf das Spiel | |
konzentrieren können wie die anderen Guys im Team. „Es gab einige sehr | |
starke Spieler im Team, und Rüdiger hat den Konkurrenzkampf angenommen. Das | |
ist ein Kompliment!“, sagt Mr. Coad. „Aber um ganz ehrlich zu sein, er hat | |
hier wohl nie sein bestes Tennis gespielt, was aber nicht nur sein Fehler | |
war. Erwartungen und die Wirklichkeit passen nicht immer zusammen.“ | |
Im Februar, neun Monate bevor er zum letzten Mal ein Turnier spielt, | |
schickt er einen Brief nach Hause, adressiert an seine Schwester. | |
„Bei mir gibt’s nicht viel zu erzählen“, schreibt er. „Mit dem Tennis … | |
ich nach wie vor einige Probleme, weil zum einen die Wichita-Bälle leichter | |
sind als unsere zu Hause, und zum anderen mag ich den Donnay-Schläger nicht | |
besonders, da er für mein Spiel einfach zu weich ist. Gott sei Dank ist es | |
möglich, das Racket zu wechseln, und ich werde hoffentlich schon nächste | |
Woche wieder mit meinem alten Head spielen können, um dann das Feld von | |
hinten aufzurollen, denn ich bin der Ansicht, dass ich in Normalform an 1 | |
oder 2 spielen könnte.“ | |
Am 3. März verliert er im Doppel mit Andreas gegen Kennedy/O’Donovan von | |
der Texas A&M University 6:4, 6:3. Den Aufzeichnungen des Colleges zufolge | |
ist es Rüdigers einziges Spiel, das je in die Mannschaftswertung eingeht. | |
Er könne nicht sagen, ob Rüdiger klar gewesen sei, was Kansas für eine | |
Gegend ist, sagt Rex Coad. Bei vielen Spielern aus Übersee sei es bis heute | |
so, dass sie damit rechnen, hin und wieder am Strand herumzuhängen. Aber es | |
seien dreizehn Stunden bis zum Meer. No internet 1987, no skype. Know what | |
I mean. | |
„Jemand sagte mir, Rüdiger sei ein Sonnyboy gewesen“, sage ich. | |
„Das glaube ich gerne“, sagt Mr. Coad. „Aber ich würde nicht ausschließ… | |
dass er hier in Kansas eine schwarze Wolke über sich hatte.“ | |
## Der Mitbewohner | |
Für seine Eltern ist Rüdigers Zeit in den USA eine Blackbox. An einer | |
Pinnwand in ihrem Haus hängt ein Ausriss aus einer | |
College-Studentenzeitung: ein Foto von Rüdiger in schultergepolsterter | |
Jeansjacke, überschrieben mit „Partyer of the week“. Viel mehr über die | |
Monate wissen sie nicht. Als ich in den Weiten des Saarlands Andreas | |
treffe, der mit Rüdiger in Kansas spielte, fährt mich Rüdigers Vater hin. | |
„Was ist das für ein Foto?“, frage ich Andreas. | |
„Also, Party haben wir nicht gemacht“, sagt er. „Wir waren viel unterwegs, | |
auch sogar mal beim Spring Break, aber wir waren super diszipliniert. Da | |
hätten 100.000 Leute kommen und sagen können, wir müssen trinken, das | |
hätten wir nicht gemacht, höchstens mal ein Light Beer.“ | |
Es sei ihm allerdings aufgefallen, dass Rüdiger sehr moderat gespielt habe. | |
„Ich habe mich schon gefragt, ob etwas nicht in Ordnung ist.“ | |
Nach wenigen Monaten in den USA zieht sich Rüdiger eine hartnäckige | |
Lebensmittelvergiftung zu. Andreas hat den Kühlschrank im Studentenwohnheim | |
in Wichita im Verdacht, da habe jeder sein Zeug reingepfeffert. „Ein paar | |
Wochen lief er dann dort von Pontius zu Pilatus, aber es wurde nicht | |
besser“, sagt er. „Und dann ist er nach Hause geflogen.“ | |
Der Kühlschrank? Heimweh? Enttäuschung? Eine Mitteilung des Körpers? | |
Als Rüdigers Vater und ich aufbrechen, sagt Andreas, er habe Rüdiger nach | |
der Zeit in Kansas kaum noch gesehen, sie hätten im Sommer 1987 noch | |
telefoniert, doch die Krankheit habe er, Andreas, dann einfach verdrängt. | |
„Aber es tut wahnsinnig gut, sich zu erinnern.“ Es sei, als würde nach all | |
den Jahren eine Lücke geschlossen. | |
Für mich ist interessanterweise das Gegenteil der Fall. Mit jedem Gespräch, | |
das ich führe, wird die Lücke größer. Meine Recherchen über Rüdiger dehnen | |
sich in ein Zweikammersystem aus: Die eine Kammer, die der Erinnerungen, in | |
der ich die Details sammle, wird voller. Aber die andere wächst mit: die | |
Kammer des Vergessens, in der sich die offenen Fragen stapeln und darauf | |
hinweisen, dass ein junger Mensch von wolkiger Kontur ist; letztlich nicht | |
greifbar in seinen Motiven, weil er sie selbst noch nicht kennt. Eine | |
Sammlung loser Fäden. | |
Ich kann Teile von Rüdigers Lebensgeschichte rekonstruieren, Orte besuchen, | |
an denen sie spielt, und seine Musik hören, so wie man ein Archiv besucht. | |
Aber je mehr ich mich auf ihn zubewege, desto genauer sehe ich, was ich nie | |
erfahren werde; desto größer erscheint mir die Entfernung. Wenn ich vor | |
Rüdigers Platten sitze und ihn darin zu entdecken versuche, wenn ich einen | |
von ihm mit Eselsohren versehenen Agententhriller lese, der im Kalten Krieg | |
spielt, wenn ich sich verfärbende Fotos betrachte, die ihn in Pullundern | |
zeigen, frage ich mich: Sehe ich ihn? Oder sehe ich nur seine Zeit? | |
In einer Straußwirtschaft in Juttas Heimatdorf, Weißweinschorle vor uns, | |
gehen sie und ich die Wohnsituation durch. Wir haben alle Wohnungen | |
besichtigt, die im Dorf auf dem Markt sind. Eine Doppelhaushälfte an der | |
Umgehungsstraße. Eine zu kleine Altbauwohnung. Ein kleines Haus mit dem | |
Flair eines Fliesenlagers. | |
„Willst du wirklich hierher ziehen?“, fragt sie. | |
Ich würde gerne Ja sagen. Aber ich vermisse schon beim Gedanken daran die | |
Großstadt, diese Sammlung loser Fäden. Alles im Dorf atmet Erinnerungen, | |
die nicht die meinen sind. Da: die Treppen, die Jutta hinuntergefallen ist. | |
Dort: die Tennisplätze, die Rüdigers Wohnzimmer gewesen sind. Die Apotheke, | |
der Spielwarenladen, das Schuhgeschäft, die Grundschule. Überall werde ich | |
freundlich empfangen als „Mann von“, als „Schwiegersohn von“. | |
„Ich bin gerne hier, aber ich weiß nicht, ob ich hierher gehöre“, sage ic… | |
„Es ist deine Geschichte. Ich schaffe es nicht einmal, Rüdigers Geschichte | |
zu der meines Schwagers zu machen. Ich kenne nur Bruchstücke. Es bleibt die | |
Geschichte des Bruders meiner Frau.“ | |
Sie nickt. „Ich habe auch so vieles vergessen. Aber es gibt Momente, in | |
denen mich irgendetwas an ihn erinnert, und dann ist er, wie aus dem | |
Nichts, völlig präsent. Solche Momente kannst du ja nicht haben.“ | |
Ich denke, das ist der Satz, nach dem es bei mir Klick macht. Und wenn ich | |
solche Momente doch habe? | |
Was hat Rüdigers Sportlehrerin erzählt? „Am Tag vor unserer Hochzeit hat | |
mich Rüdigers Vater angerufen und mir gesagt, dass er gestorben ist. Unsere | |
Hochzeitskarte stand wohl auf Rüdigers Nachttisch. Er würde versuchen zu | |
kommen, hatte er gesagt.“ Und so vergehe kein Hochzeitstag, an dem sie | |
nicht auch an ihn denke, ihren Schüler. | |
Was hat Rüdigers Vater gesagt, als er mich einmal mit auf den Golfplatz | |
nahm, um mir zu zeigen, wie man abschlägt? „Ich habe Rüdigers Schläger | |
immer dabei.“ Es vergeht keine Golfrunde, während der er nicht an ihn | |
denkt. | |
Und ich, habe ich nicht kürzlich, als ich den Sänger von Black Sabbath im | |
Fernsehen sah, eine Ahnung von Rüdiger vor Augen gehabt, als Teenager, der | |
auf seinem Tennisschläger ein Gitarrenriff performt? | |
Oder wenn sich eines meiner Kinder hinter mir versteckt, wenn es an der Tür | |
klingelt: Denke ich dann nicht, es sei wie Rüdiger? | |
Sind das keine Momente? | |
## Die Freundin | |
Eva, Rüdigers Freundin, zeigt mir eine Vase, gestaltet wie eine Papiertüte. | |
„Ich hüte sie wie meinen Augapfel“, sagt sie. „Er gab sie mir an | |
Weihnachten 1988.“ | |
Wir sitzen in ihrem Wohnzimmer. Unter der Decke hängt ein Heliumballon | |
ihres Sohnes. Ich sitze mit Block und Stift auf der Couch. Sie, auf einem | |
Sessel, hält sich an einer Klarsichtmappe fest. Darin, sagt sie, seien | |
Briefe, die Rüdiger ihr geschrieben habe, sie habe sie am Abend vor unserem | |
Treffen alle noch einmal gelesen. Auf einen Umschlag ist ein Herz gemalt. | |
Eva sagt, als sie sich im August 1987 kennenlernten, habe sie in der | |
Vereinskneipe auf dem Tennisgelände gekellnert. „Ich wollte keinen Freund, | |
das habe ich ihm auch gesagt. Ich wollte gerade für ein Semester nach | |
Spanien gehen. Zwei Wochen später, an meinem Geburtstag, rief er mich in | |
Madrid an.“ | |
Sie zeigt mir Fotos von einem gemeinsamen Kurztrip nach Ibiza. Die Briefe | |
könne sie mir nicht geben, sagt sie, es tue ihr leid, sie seien ihr heilig. | |
Aber sie holt einige aus der Mappe und liest vor. | |
„Nachdem meine Mutter mir das Briefpapier gekauft hat, habe ich natürlich | |
nichts anderes zu tun, als Dir sofort zu schreiben.“ | |
„Ich vermisse Dich.“ | |
„Ich musste neulich vor Schmerzen ein Spiel abbrechen.“ | |
„Noch 69 Tage, bis wir uns wiedersehen.“ | |
„Jetzt müssen die doch mal was finden.“ | |
„Was bedeutet Rüdiger für dich?“, frage ich. | |
Eva: „Ich wäre eine andere ohne seine Geschichte. Ich habe Erfahrungen | |
gemacht, die einen Menschen sehr prägen. Die Zeit mit zwanzig, die so | |
unbelastet ist: Du wirst unabhängig, und dann das. Das schärft den Blick. | |
Ich war vorher sicher ein oberflächlicherer Mensch, als ich es heute bin. | |
Ich bin keine verwöhnte Prinzessin. Ich verliere mich nicht so im | |
Kleingedruckten.“ | |
Im Sommer 1987 beginnt Rüdiger unter Rückenschmerzen zu leiden. Vermutlich | |
verrenkt, denkt er. Er reibt sich mit Pferdesalbe ein, die immer hilft. | |
Diesmal nicht. Zwischen Leiste und unterem Rippenbogen scheint, linker | |
Hand, etwas Muskuläres im Gang zu sein. Finalgon-Creme. Er geht zum | |
Orthopäden. Nichts. Einmal muss er ein Spiel abbrechen. Das ist, drei | |
Monate bevor er sein letztes Tennisturnier spielt: Im November wird Rüdiger | |
Zweiter beim Ranglistenturnier in Rheinland-Pfalz, das Finale läuft | |
saublöd. | |
Er studiert jetzt in Mainz. Er genieße die Freiheit, sagt sein Freund | |
Stefan. | |
Aber es gibt Tage, an denen er sich kaum rühren kann. Pferdesalbe, | |
Finalgon-Creme, Arztbesuche, andere Orthopäden. Jetzt müssen die doch mal … | |
Im Januar 1988 unterzieht er sich in Kaiserslautern einer | |
Computertomografie. Kurz darauf in der Nähe von Köln einer Biopsie. Eva | |
verlängert ihre Weihnachtsferien, die sie in Deutschland verbringt, und | |
begleitet ihn dorthin, bevor sie zurück nach Madrid fliegt. Über die | |
Ergebnisse, sagt sie, habe ihr Vater sie dann am Telefon informiert. Sie | |
teilt Rüdiger mit: „Ich komme heim.“ | |
Die Diagnose lautet Ewing-Sarkom. Ein seltener Knochenkrebs, den nur | |
Heranwachsende bekommen. Am besten sei er heilbar, wenn die betroffenen | |
Stellen amputiert werden, sagen die Ärzte. Rüdigers Tumor sitzt im | |
Beckenknochen. Prognose: fifty-fifty. | |
In diesem Jahr spielt das deutsche Davis-Cup-Team die perfekte Saison. Nach | |
einem Sieg im Februar gegen Brasilien schlägt es im April Dänemark und im | |
Juli Jugoslawien. Patrik Kühnen, mit dem Rüdiger in der Schulzeit | |
konkurrieren konnte, gehört zum Team. Rüdiger sieht zu Hause die | |
Fernsehserie „Alf“. „Kühnens Karrieresprung hat ihm sicher wehgetan“, … | |
Stefan. „Rüdiger wusste ja, dass es auch für ihn mal eine Chance gegeben | |
hätte. Und jetzt lag er auf seiner Scheißcouch herum.“ | |
Rüdiger bekommt in dieser Zeit eine Chemotherapie. Er liegt währenddessen | |
alle zwei Wochen von Donnerstag bis Montag auf der Kinderkrebsstation 7a | |
der Onkologie in Mainz. Bunte Farben und Spielzeug und ein 21-Jähriger, der | |
gerade angefangen hat, kein Teenager mehr zu sein. | |
Die Hoffnung ist, dass sich der Tumor vom gesunden Gewebe abgrenzt. Seine | |
Mutter und seine Tante bringen ihm Essen ins Krankenhaus. Das aus der | |
Klinik schmecke nach Chemie, sagt er. Aber der selbst gemachte | |
Kirschauflauf von zu Hause dann auch. | |
Wenn er montags heimkommt, wünscht er sich Linsensuppe mit | |
Kartoffelpuffern, isst alles auf, und dann geht er mit Volker oder seinem | |
Vater ein paar Golfbälle schlagen. | |
Nach der Chemotherapie ist nur noch ein Viertel des Tumors aktiv, die Ärzte | |
sind guter Dinge. Es dürfe sich nur kein aktives Gewebe mit Blut | |
vermischen, dann könne er sich ausbreiten. | |
Rüdiger trägt nun eine Perücke. Er handhabe sie wie ein T-Shirt, sagt | |
Stefan: „‚Ich will cool aussehen, wie ein Rockstar‘, so hat er geredet.“ | |
Aber manchmal trägt er sie einfach nicht. | |
Ein Teil vom Beckenkamm wird entfernt. Nach der OP Bestrahlungen, der | |
Rücken ist schwarz davon. Aber Rüdiger kriecht Stück für Stück den Berg | |
hoch. Er geht in die Reha, der Betreiber des Fitnessstudios gibt ihm den | |
Schlüssel, damit er auch nachts reinkann. Einem Freund aus dem | |
Dorf-Tennisverein sagt Rüdiger: „Wenn der Rücken mitmacht, könnte ich ja | |
ein Jahr bei euch spielen.“ | |
Er hört jetzt noch mehr Musik, Queensrÿche, Pretty Maids, Peter Gabriel, | |
Rush, Crimson Glory. Er geht auf Partys. Volkers Geburtstag etwa. Volker | |
sagt, sie hätten über alles geredet, „außer darüber, dass Rüdiger sterben | |
oder mindestens gelähmt sein würde“. Die Jungs meiden das Thema, auch wenn | |
es nicht weggeht. | |
Nach den Bestrahlungen sagen die Ärzte, es sehe gut aus. Im Spätsommer gilt | |
Rüdiger als so gut wie über den Berg. | |
Die Zeit bis Jahresende 1988 ist dann wie ausgelöscht in den Erzählungen. | |
Dutzende von Gesprächen, und in keinem fällt auch nur ein Satz über diese | |
Monate, die von Hoffnung geprägt sind. Aber kurz vor Weihnachten, in der | |
Zeit, in der das deutsche Davis-Cup-Team das Finale gegen Schweden gewinnt, | |
fragt Rüdiger: „Warum habe ich dann so viele Schmerzen?“ | |
Im neuen Jahr schreibt die Mutter Rüdigers Termine und Werte in einen | |
Kalender. | |
5. Januar Computertomografie | |
Die Eltern sind mit den Hausärzten aus dem Dorf befreundet. Die bitten sie | |
zum Gespräch in die Praxis, als die Ergebnisse vorliegen. Es seien | |
Weichteile betroffen, sagen sie. Aus medizinischer Sicht gebe es keine | |
Hoffnung mehr, Rüdiger habe höchstens noch ein Vierteljahr zu leben. | |
Die Mutter geht von dort direkt zum Supermarkt und kauft ein. Nur nicht | |
nach Hause habe sie gewollt, sagt sie. Die Eltern beschließen, Jutta nichts | |
zu sagen, noch nicht. Als sie die Tür öffnet, lächelt die Mutter und fragt, | |
wie es in der Schule gewesen sei. | |
12. Januar Operation am Muskel | |
23. Januar Rüdiger kommt nach Hause | |
26. Januar Ganzkörper-CT | |
Am Abend sieht Rüdiger „Alf“. | |
2. Februar Ambulante Chemo | |
„Alf“, Backgammon mit Jutta, Stefan. | |
15. Februar Bestrahlung in Heidelberg | |
18. Februar Chemo in Mainz | |
Backgammon. | |
Bestr., Bestr., Chemo, Chemo, HB, Mz | |
Im März bittet er Jutta, ihm das neue Album der Band IQ zu besorgen. Es | |
heißt: „Are you sitting comfortably?“ Auf dem Cover ist ein unbeweglicher | |
Roboter in einem Rollstuhl zu sehen, der an Kabeln hängt, nur in seinem | |
Kopf leuchtet ein Licht. Er sagt: „Das bin ich.“ | |
26. März, Ostersonntag, ein Tag ohne Tramal-Tropfen | |
27. März 64 Kilogramm | |
Es gibt nur noch wenige Menschen, die Rüdiger zu sich lässt. Eine Pflegerin | |
kommt zur Lymphdrainage. Eva ist regelmäßig da, aber spürt auch sein | |
Unbehagen. „Jeder Abschied war ein Abschied für immer“, sagt sie. „Er | |
wollte sie schützen“, sagt seine Mutter. | |
1. April Atemnot | |
10. April Blutübertr. | |
Stefan trägt ihn bei seinen Besuchen von der Couch in sein Zimmer. „Es gab | |
nur ein paar Leute, die das machen durften, er hat sich geschämt, er | |
wollte, dass ihn alle stark in Erinnerung behalten. Und ich habe immer | |
versucht, ihm positiven Spirit zu geben. Er wollte, wenn ich da war, | |
abschalten und das Alte wieder zurückhaben“, sagt Stefan. Heute ist | |
Donnerstag, morgen ist Freitag. | |
2. Mai Punktion zu Hause im Bett | |
Bei einem von Stefans letzten Besuchen sprechen die beiden über einen | |
Urlaub auf den Malediven. | |
Bevor Jutta am Montag, 8. Mai, kurz nach 7 Uhr in die Schule aufbricht, | |
schaut sie nach dem Bruder. „Er atmet ganz ruhig.“ Gegen 11 Uhr klopft | |
jemand an die Tür ihres Klassenzimmers, und die Tür ist noch nicht offen, | |
da weiß sie, dass ihr Vater gekommen ist, um sie nach Hause zu holen. | |
Als Jutta und ich uns 18 Jahre und ein paar Tage später in der Stadt | |
kennenlernen, in der sie, wäre Rüdiger nicht gestorben, wahrscheinlich nie | |
gelandet wäre, fragt sie mich: „Hast du Geschwister?“ | |
Ich sage: „Zwei, und du?“ | |
Und sie: „Ich habe einen Bruder, aber er lebt nicht mehr.“ | |
Seit diesem Moment gehört er zu meiner Geschichte. | |
Dieser Text ist zuerst im [1][Sportmagazin No. 1] erschienen. | |
25 Jan 2019 | |
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## AUTOREN | |
Klaus Raab | |
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