# taz.de -- Suizidberatung Online: E-Mails, die Leben retten können | |
> Suizide unter Jugendlichen steigen. Mit einer E-Mail-Beratung der Caritas | |
> wollen Gleichaltrige helfen. Können sie die Generation Smartphone | |
> erreichen? | |
Bild: Reden hilft bei Depressionen. Auch mit Unbekannten per E-Mail | |
Berlin taz | „Ich denke fast jeden Tag an Selbstmord“, schreibt Hannes_19. | |
Beraterin Amelie, die eigentlich anders heißt, runzelt die Stirn und beugt | |
sich über ihren Laptop. „Das wirkt schon ziemlich suizidal“, sagt die | |
25-Jährige Psychologie-Studentin. Per E-Mail berät sie Gleichaltrige mit | |
Selbstmordgedanken. Heute sitzt sie im Büro [1][des Projekts U25], | |
angesiedelt beim katholischen Caritas-Verband in einem schmucklosen | |
Berliner Hinterhof. | |
Während die Suizidrate insgesamt zurückgegangen ist, stieg sie bei den 10- | |
bis 25-Jährigen an. Auf 550 Todesfälle im Jahr 2016, wie aktuelle Zahlen | |
des Bundesstatistikamts zeigen. Amelie will diese Leben retten. | |
Normalerweise macht die 25-Jährige das vom heimischen Küchentisch aus, wenn | |
sie Ruhe hat. Dann geht sie Hannes_19 Nachricht mehrmals durch, liest sich | |
den Text laut vor oder druckt ihn aus, um mit dem Marker in der Hand | |
„zwischen den Zeilen zu lesen“. Meistens muss sie das Geschriebene danach | |
erst sacken lassen, sagt Amelie. Drei Jahre war sie selbst „mit suizidalen | |
Phasen“ in Therapie. „Darüber zu reden hat mein Leben verändert.“ Diese | |
Erfahrung möchte sie an Jugendliche weitergeben, die sie ihre „Klienten“ | |
nennt. Derzeit betreue sie drei bis vier gleichzeitig, das sei die obere | |
Grenze. | |
Seit 2006 berät die Caritas in unterschiedlichen Bereichen über E-Mail oder | |
Chat. Insgesamt 27.700 Kontakte hat die Online-Beratung im Jahr 2017 | |
registriert, heißt es beim Verband, das sei eine Steigerung um fast 30 | |
Prozent gegenüber dem Vorjahr. Und die Caritas ist mit der Online-Beratung | |
nicht das einzige Angebot. Im Internet finden sich eine Reihe von | |
Hilfsstellen, die Unterstützung per E-Mail, Chat oder Telefon anbieten. Bei | |
dem Projekt „Youth Life-Line“ aus Tübingen oder der „Nummer gegen Kummer… | |
schreiben wie bei U25 Jugendliche mit Jugendlichen. | |
## Suizide werden durch E-Mails aufgeschoben | |
Amelie hat sieben Tage Zeit für die Antwort an Hannes_19. Auch wenn der | |
Schreibende in seiner Selbstmordabsicht „ziemlich entschlossen wirkt“, wie | |
die Beraterin findet. Die Kommunikation solle entschleunigt werden, sagt | |
Anna Gleiniger, Projektleiterin der Berliner Online-Suizidprävention. Ein | |
Problem sei die Verzögerung aber nicht. Suizide würden sogar aufgeschoben, | |
wenn die Hilfesuchenden auf die Antwort der Berater:innen warten. „Dann | |
sagen die, okay, ich wollte mich eigentlich jetzt umbringen, aber ich warte | |
erst noch, was zum Beispiel Lisa dazu sagt.“ Und durch das Aufschreiben in | |
einer Mail würden sich auch bei den Betroffenen die Gedanken sortieren. | |
„Das ist unglaublich hilfreich, weil sich die Krise dadurch vielleicht | |
schon legt“, so die Sozialpädagogin. | |
Nicht alle im Team denken wie Gleiniger. „Eigentlich müssen wir noch | |
schneller werden“, sagt Niko Brockerhoff. Er ist Projektleiter von U25 in | |
Gelsenkirchen. „Die Digitalisierung ist inzwischen weiter fortgeschritten, | |
und ich wünsche mir, dass wir zum Beispiel über Chat-Beratung kommunizieren | |
könnten.“ Ein Schritt dahin ist die neue Digital-Kampagne der Caritas, | |
welche der Wohlfahrtsverband in diesem Jahr angestoßen hat, um digitaler zu | |
werden. Ab Juli ziehen alle Beratungsstellen auf eine neue Online-Plattform | |
um. Dort will Brockerhoff die einmaligen Kontaktanfragen für die | |
Suizid-Prävention im Chat beraten und die schweren Fälle auf das | |
Mail-System umleiten, um mehr Personen beraten zu können. | |
Denn der Zulauf für die Online-Suizidprävention ist groß. Täglich melden | |
sich junge Hilfesuchende anonym auf der Website an. Überwiegend sind es | |
Mädchen. „Das hängt damit zusammen, dass Männer immer noch das Gefühl | |
haben, sie dürften nicht über Gefühle reden und sich Hilfe suchen“, sagt | |
Gleiniger. Betroffene landen stets zunächst auf einer Warteliste, bis | |
eine:r der 38 sogenannten Peer-Berater aus Berlin ihnen schreibt oder an | |
eine:n der rund 160 Jugendliche an den neun anderen U25-Standorten in | |
Deutschland weiterleitet. | |
## Über Liebeskummer und Magersucht | |
Experten halten die E-Mail-Beratung für sinnvoll. „Als erste Anlaufstelle | |
ist Beratung per E-Mail eine sinnvolle Ergänzung zur | |
Face-to-face-Therapie“, sagt Markus Moessner, der an Universität Heidelberg | |
zu Essstörungen bei Jugendlichen und „e-Mental-Health“ forscht – der | |
Begriff steht für die Anwendung von Computer, Smartphone oder Tablets bei | |
der Behandlung psychischer Erkrankungen. „Bei Online-Angeboten ist die | |
Kontaktschwelle niedriger, denn bei psychische Störungen gibt es immer noch | |
Scham und die Angst, dass man als schwach gilt“, meint Moessner. Deshalb | |
nehmen Jugendliche seltener direkte Beratungsangebote wahr. | |
Die Berater:innen von U25 vermitteln auch an Therapieangebote vor Ort. Erst | |
einmal hören sie aber zu. Es geht um Beziehungsprobleme, Gefühle von | |
Überforderung und Sinnlosigkeit, den ersten Liebeskummer oder | |
selbstverletzendes Verhalten. „Im Mailverkehr sind die Jugendlichen | |
unglaublich ehrlich uns gegenüber“, sagt Amelie. Sie selbst stellt sich mit | |
ihrem echten Vornamen vor, ihrem Alter und dem Studienfach. „Wenn jemand | |
fragt, was ich für Sport mache, sage ich das auch.“ Und wenn sie ein gutes | |
Gefühl dabei hat, schreibt sie Sätze wie: „Fühl dich mal fest in den Arm | |
genommen.“ Mit einer Freundschaft sei das aber nicht vergleichbar. „Wie ein | |
Tagebuch, das antwortet“, so beschreibt Gleiniger die Beziehung. | |
„In den letzten Jahren sind Essstörungen ein unglaublich großes Thema | |
geworden“, sagt Gleiniger über ihre Beratungstätigkeit. Auf Instagram gibt | |
es regelrechte Magersuchts-Wettbewerbe. Dort entstünden mehr | |
Vergleichsmöglichkeiten, vermutet die hauptamtliche Beraterin. „Soziale | |
Medien sind manchmal sehr schädlich. Es kann die Körperunzufriedenheit und | |
Mobbing fördern“, bestätigt e-Health-Forscher Moessner. „Auf der anderen | |
Seite hat die Sichtbarkeit des Themas in den Medien in den letzten Jahren | |
dazu geführt, dass Leute sich eher Hilfe holen.“ | |
## Beratung per Whatsapp steht „nicht zur Debatte“ | |
Eine repräsentative Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbund | |
Südwest zum Medienverhalten der 12- bis 19-Jährigen zeigt, dass Jugendliche | |
das Internet zum größten Teil am Smartphone nutzen. WhatsApp ist für 87 | |
Prozent das wichtigste Angebot am Handy, gefolgt von Instagram und Snapchat | |
bei den Mädchen und YouTube bei Jungen. Das mache sich im | |
Kommunikationsverhalten bemerkbar, sagt Moessner: „Wir stellen in unseren | |
Studien fest, dass 50- bis 60-Jährige im E-Mail-Kontakt verbindlicher sind | |
als Jugendliche. Für Leute, die gewohnt sind, im Internet zu kommunizieren, | |
ist es normal, wenn man auf eine Mail nicht mehr antwortet.“ | |
Aber auf Whatsapp umzusteigen stehe dennoch „nicht zur Debatte“, sagt | |
Gleiniger. Der Datenschutz sei nicht ausreichend, und die Daten fließen auf | |
Firmen-Server im Ausland. Die Caritas hat deshalb eine sichere Website | |
aufgebaut, dort müssen sich die Nutzer:innen in ein geschlossenes System | |
einloggen, ohne E-Mail-Adresse. Das ist wichtig, weil die junge Zielgruppe | |
eher Messenger-Dienste nutzt und oft keine Mail-Adresse hat. Im | |
Beratungssystem der Caritas ploppen auch keine verdächtigen | |
Benachrichtigungen auf, und die IP-Adressen werden nicht gespeichert. | |
Das entlastet auf der anderen Seite die Berater:innen vor einer Anzeige | |
wegen unterlassener Hilfeleistung: Wenn sie nicht wissen, wann und wo ein | |
Freitod passiert, können sie auch nicht eingreifen. Auch die Klienten seien | |
beruhigt, dass sie nicht die Polizei rufen können, meint Gleiniger. Wenn es | |
akut wird, schreiben die Berater:innen dennoch öfter. „Am Todestag der | |
Mutter zum Beispiel. Damit jemand gut durch den Tag kommt“, so die | |
Beraterin. | |
## 100 Likes für Mutmach-Sprüche | |
E-Health-Forscher Moessner sagt: „Die Nachteile von asynchroner | |
Kommunikation sind, dass es keine direkten Rückfragen möglich sind und die | |
Gefahr von Missverständnissen größer ist.“ Einige würden in ihren Mails | |
immer nur einen Satz schreiben, sagt Amelie, darauf sei es nicht leicht zu | |
reagieren. „Andere schreiben mehrmals die Woche und dann sehr viel.“ Viele | |
Kontakte bestünden aber sehr lange. „Dadurch entsteht eine gewisse | |
Stabilität“, sagt Amelie. | |
Und wie geht Amelie mit der unheilverkündenden Stille um, wenn eine | |
Selbstmordgefährdete sich nicht mehr meldet? Nach einiger Zeit frage sie | |
nach. Wenn nichts kommt, sei es besser nicht zu wissen, ob ihre Klientin | |
sich umgebracht hat. | |
Weil Jugendliche oft über ihre Selbstmordgedanken schweigen, wollen die | |
Engagierten bei U25 dieses Tabu durch ihre Präsenz auf den sozialen Medien | |
brechen. Soweit haben sie sich dem veränderten Medienkonsum ihrer Klienten | |
angepasst, und sie gehören ja selbst zu einer Generation, die | |
Online-Netzwerke nutzt. „Inzwischen informieren wir jede Woche mindestens | |
mit einem Facebook-Posting, was bei uns so läuft“, sagt der U25 | |
Gelsenkirchen-Leiter Brockerhoff. Das Projekt hat auch einen Online-Gamer | |
beauftragt, der auf der Videoplattform YouTube das beliebte „Minecraft“ | |
spielt und ein Gesprächsangebot zum Thema macht. Das spreche vor allem | |
männliche Personen an, sagt Gleiniger. Auf Instagram postet die | |
Sozialpädagogin zudem Sprüche wie „Gib Dich nicht auf und frage nach | |
Hilfe.“ Dafür gibt es jeweils rund 100 Likes. | |
Zu viel Werbung könnten sie aber nicht machen, meint Gleiniger, denn die | |
Warteliste sei voll, und für mehr Berater:innen reichten sie finanziellen | |
Mittel nicht aus. Über soziale Medien versuchen sie, die Jugendlichen ohne | |
direkte Ansprache zu begleiten. Eine ehemalige Klientin hätten ihre | |
Mutmach-Posts auf Instagram aus der Krise geholfen, erzählt Gleiniger. | |
Einfach, weil die Sprüche immer wieder ihrem Newsfeed auftauchten. Die | |
Beraterin ist sich sicher: Ob per E-Mail oder Instagram-Post, das Schreiben | |
hilft. | |
Sind Sie oder Angehörige von Selbstmordgedanken betroffen? Sprechen Sie mit | |
anderen Menschen darüber, oder suchen Sie sich ein vertrauenswürdiges | |
Hilfsangebot. [2][Per Telefon], [3][Chat, E-Mail] oder [4][im persönlichen | |
Gespräch]. Die Beratungsgespräche finden anonym und vertraulich statt. | |
19 Mar 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.u25-deutschland.de/ | |
[2] https://www.telefonseelsorge.de/?q=taxonomy%2Fterm%2F760 | |
[3] https://www.u25-deutschland.de/weitere-hilfsangebote/ | |
[4] https://www.telefonseelsorge.de/?q=node%2F7647 | |
## AUTOREN | |
Elisabeth Nöfer | |
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