# taz.de -- Berichte über Suizid von Thomas Schäfer: Noch nicht alle haben ge… | |
> Beim Schreiben über Selbsttötung ist große Sensibilität nötig. Das ist | |
> nicht überall durchgedrungen, zeigt der Fall des hessischen | |
> Finanzministers. | |
Bild: Thomas Schäfer, der verstorbene Finanzminister von Hessen. | |
Die folgende Nachricht war am Wochenende in fast allen Medien zu lesen, zu | |
hören oder zu sehen: „Der hessische Finanzminister Thomas Schäfer ist tot, | |
er wurde am Samstag leblos gefunden. Die Staatsanwaltschaft Wiesbaden und | |
das Polizeipräsidium Westhessen gehen nach ersten Ermittlungen von einem | |
Suizid aus.“ | |
In der Regel wird in Deutschland nicht über Suizide berichtet, dabei | |
begehen laut Statistischem Bundesamt über 9.000 Menschen im Jahr Suizid, | |
das sind ungefähr dreimal so viele Tote wie bei Verkehrsunfällen. Die | |
Zurückhaltung der Medien, über einzelne Suizide zu berichten, ist dennoch | |
richtig, denn das detaillierte Berichterstatten kann andere Menschen dazu | |
animieren, sich das Leben zu nehmen. Dieser sogenannte [1][Werther-Effekt] | |
wurde in etlichen Studien belegt. | |
Bei Prominenten ist es trotzdem anders. In solchen Fällen wägen | |
Journalist:innen ab zwischen öffentlichem Interesse, Persönlichkeitsrechten | |
und dem Schutz von suizidalen Personen. Thomas Schäfer war hessischer | |
Finanzminister, eine Person des öffentlichen Lebens, die Bevölkerung hat | |
ein Recht, von seinem Tod zu erfahren. | |
## Lehren von früher | |
Wichtig ist jedoch, wie berichtet wird. Der [2][Pressekodex] fordert | |
Journalist:innen zu Zurückhaltung auf. Doch gerade wenn Promis Suizid | |
begehen, passiert häufig das Gegenteil: schaurige Details, Spekulationen. | |
Ein bekanntes Negativbeispiel ist das Medienecho zum Suizid von | |
Fußball-Torwart Robert Enke im November 2009. Sowohl die Methode als auch | |
der Ort des Suizids wurden bekannt gemacht, in Texten, Karten und Bildern, | |
sein Bild fand sich auf fast allen Titelseiten. Unmittelbar danach stieg | |
die Zahl der Menschen, die auf ähnliche Weise wie Enke Suizid begingen. | |
Das hat schon damals eine Debatte über Suizidprävention ausgelöst – auch im | |
Journalismus. Die Berichterstattung zu Schäfers Suizid ist bedachter und | |
zeigt, dass viele Medien aus früheren Fehlern gelernt haben. | |
So ist es mittlerweile Usus, einen Hinweis mit Hilfsangeboten und | |
Telefonnummern zu veröffentlichen. Doch viele andere [3][Empfehlungen der | |
Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention (DGS)] wurden auch in diesen | |
Tagen nicht umgesetzt, dabei sollte jede:r Journalist:in mit ihnen vertraut | |
sein. | |
Das beginnt schon mit dem Wording, das man den Suizid Schäfers nicht als | |
„Selbstmord“ oder „Freitod“ bezeichnet, wie es beispielsweise das Neue | |
Deutschland und die Bild-Zeitung getan haben. Suizid passiert nicht aus | |
„niederen Beweggründen“, wie das Wort „Mord“ nahelegt, meist aber auch | |
nicht aus einer „freien Entscheidung“. | |
## Es gibt nicht „den Grund“ | |
Auch die Ortsangabe, die von vielen Medien wie [4][Zeit Online] oder | |
[5][der Welt] genannt wurde, ist problematisch, denn diese gibt Auskunft | |
über die Methodik des Suizids. Die DGS warnt, dass dies zu | |
„Nachfolgesuiziden an dem jeweiligen Ort oder nach der jeweiligen Methode | |
führen kann“. | |
Am Sonntagmittag dann trat Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier vor | |
die Mikrofone. In seiner Rede bezog der CDU-Politiker sich auf einen | |
Abschiedsbrief, den Schäfer hinterlassen haben soll – und kam zu dem | |
Schluss, dass Schäfer die (finanziellen) Sorgen der Coronakrise „erdrückt“ | |
hätten. | |
Diese scheinbare Begründung für Schäfers Suizid wurde von vielen Medien, | |
[6][wie Tagesschau.de], unhinterfragt übernommen. Dabei ist ein Suizid | |
nicht auf eine einzelne Ursache zurückführen. Die FAZ hatte aus dem | |
Abschiedsbrief zitiert, hat aber mittlerweile die Meldung angepasst und die | |
vermuteten Gründe aus dem Text genommen. | |
Wer ohne methodische Details, Romantik und Dramatisierungen oder einfache | |
Erklärungen über Suizide berichtet, kann den Werther-Effekt zu verhindern | |
helfen. | |
Und nicht nur das: Richtige Berichterstattung kann zum Gegenteil, zum | |
sogenannten Papageno-Effekt, führen, der seit 2010 belegt ist. Sprich: | |
Suizide verhindern. Dafür braucht es laut der DGO: Hintergründe der | |
Gefährdung, Hinweise auf Hilfsangebote, Infos über Warnsignale, | |
Risikofaktoren sowie das Leid der Hinterbliebenen. Diese Art von | |
Berichterstattung scheint aktuell besonders wichtig, denn die Präsidentin | |
des Berufsverbandes Deutscher Psychologen warnt, dass während der | |
Coronakrise ein Anstieg von Suiziden zu befürchten ist. | |
30 Mar 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Teenager-Suizide-nach-13-Reasons-Why/!5593519 | |
[2] https://www.presserat.de/pressekodex.html | |
[3] https://www.suizidpraevention-deutschland.de/medienportal.html | |
[4] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-03/thomas-schaefer-finanzminis… | |
[5] https://www.welt.de/politik/deutschland/article206871269/Leiche-an-ICE-Stre… | |
[6] https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts-36357.html | |
## AUTOREN | |
Carolina Schwarz | |
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