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# taz.de -- Kommentar Deutscher Buchpreis: Liebe und Mittelmeer und Sehnsucht
> Bodo Kirchhoffs „Widerfahrnis“ ist schon vorbei, als die Geschichte
> gerade anfängt. Eine sehr gute Novelle. Trotzdem nicht das Buch des
> Herbstes.
Bild: Bodo Kirchhoff (r.) bei der Buchpreis-Verleihung mit Frankfurts Oberbürg…
Ein wenig hat das schon etwas von: Das Imperium des Literaturbetriebes
schlägt zurück. Vergangene Woche bekam Bob Dylan, ein Sänger, den
Literaturnobelpreis. Im Frühjahr erhielt Guntram Vespers „Frohburg“, ein
tausendseitiges Erinnerungsbuch, in das man sich versenken kann, das sich
aber nicht leicht wegliest, den Leipziger Buchpreis. Den letzten Deutschen
Buchpreis bekam im vergangenen Jahr Frank Witzels tausendseitiger Roman
„Die Erfindung …“, der den Leser vor die schöne, lohnende Aufgabe stellt,
sich da streckenweise durchzubeißen.
Dem gegenüber nimmt sich der Deutsche Buchpreis für Bodo Kirchhoffs Novelle
„Widerfahrnis“ wie eine Gegenbewegung aus. Als sei es jetzt auch mal wieder
gut mit den Grenzgängereien und Anstrengungen. Als habe sich die Jury auf
die Suche nach Normalität für den Literaturbetrieb begeben.
Bodo Kirchhoffs Buch ist ein für sich großartig gemachtes Zeugnis geradezu
altmeisterlichen Erzählens. Reither, ein Kleinverleger in den Sechzigern,
der sich zur Ruhe gesetzt hat und meistens nur mit seinem Nachnamen
bezeichnet wird, bekommt eines abends überraschend Besuch von einer tollen
Frau, Leonie Palm. Tastendes Gespräch, vorsichtiges gegenseitiges Vorzeigen
von Lebensverwundungen emotionaler Art, sie beschließen, etwas Verrücktes
zu machen, und fahren Hals über Kopf nach Süditalien.
Die Geschichte einer Flucht vor der Eingerichtetheit ihres jeweiligen
Lebensabends. Als sie sich näherkommen, geschieht etwas: Sie treffen auf
ein Mädchen, stumm, Bettlerin, das sie nicht mehr loswerden und das sie
schließlich begleitet. Und als die Geschichte eigentlich losgeht, ist sie
auch schon zu Ende, weil es ja nur eine Novelle ist.
Technisch ist das alles sehr gut verschraubt. Leonie Palm hat einmal eine
Tochter verloren, Reither und seine damalige Freundin haben ihr Kind
abgetrieben, mit dem Mädchen am Tisch im Restaurant fühlt es sich teilweise
wie Familie an. Vor allem hat die Sprache Kirchhoffs oft etwas
Interessantes. Tastend ist sie, viele Nebensätze. Wenn man sie beim Lesen
zu sehr pusht, bekommt sie schnell etwas Raunendes, aber wenn man sie
leicht nimmt, haben die Sätze etwas Federndes.
## Vielleicht ist das eine Art Wiedergutmachung
Allerdings bleiben sowohl das stumme Mädchen als auch die afrikanische
Flüchtlingsfamilie, die dann auch noch ins Spiel kommt, dann doch Fassade
und Einsatz im literarischen Spiel. Und fast noch schwieriger ist, was Bodo
Kirchhoff alles auffährt, um seine Effekte zu erzielen. Liebe und
Mittelmeer und Sehnsucht nach echtem Leben. „Sie saßen sich gegenüber,
zwischen ihren Händen nur das Brot und der Krug…“ Das schmeckt manchmal
geradezu nach Manufactum.
Zu kulturkritischen Einsprengseln kommt es auch. So ist Reithers Verlag
„weggeschmolzen von der Abwärme des Banalen“. Da hilft es auch wenig, wenn
der Erzähler sich in einer gut eingebauten Metaebene immer wieder selbst in
die Parade fährt und bei manchen Floskeln erwähnt, dass Reither sie als
Verleger und Lektor weggestrichen hätte.
Das hört sich jetzt gehässiger an, als es gemeint ist. Für sich ist das
wirklich ein gutes Buch, und wie auf den ersten vierzig Seiten erzählt
wird, wie eine Phantasie im Kopf von zwei Menschen, die schon einiges
hinter sich haben, zur Wirklichkeit werden kann, ist tatsächlich
meisterhaft (wenn man über Wendungen wie „apulischem Roten“ hinwegkommt).
Bestimmt wird sich das Buch auf den Verkaufstischen der Buchhandlungen gut
machen. Aber Impulse oder auch Irritationen werden von dieser Novelle kaum
ausgehen. Vor vier Jahren ist Bodo Kirchhoff mit dem ungleich
schwergewichtigeren Roman „Die Liebe in groben Zügen“ beim Buchpreis leer
ausgegangen. Vielleicht ist das jetzt auch eine Art Wiedergutmachung.
Wichtig ist aber auch, welches Buch damit nicht ausgezeichnet wurde, und
auch wenn bei solchen Preisen nun alle Aufmerksamkeit auf den Gewinner
gerichtet ist, muss man das noch einmal sagen: Nicht ausgezeichnet beim
Deutschen Buchpreis 2016 wurde Thomas Melles Buch „Die Welt im Rücken“, und
das ist ein echtes Versäumnis.
Bei Bodo Kirchhoff kann man die ausgewogene Konstruktion und die schön
gezimmerte Sprache anerkennen. Die Wahrhaftigkeit, mit der Thomas Melle
aber einem das Schicksal eines Menschen mit bipolarer Störung aufblättert,
kann man dagegen schwer bewundern. Die „Widerfahrnis“ wird man schnell
ausgelesen haben, Thomas Melles Buch aber wird das Buch dieses Herbstes
bleiben.
18 Oct 2016
## AUTOREN
Dirk Knipphals
## TAGS
Buch
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Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
Deutscher Buchpreis
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Thomas Melle
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Lesestück Meinung und Analyse
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