Introduction
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# taz.de -- Vom Leben mit einer bipolaren Störung: Plötzlich ist nichts mehr …
> Jens Cencarka-Lisec ist Mitte 40, als er die Diagnose erhält. Nun soll er
> einen Teil von sich bekämpfen. Und lernt, damit umgehen.
Bild: Von den letzten fünf Jahren hat Jens Cencarka-Lisec etwa acht Monate in …
In mir herrscht Krieg. Ich habe einen inneren Feind, gegen den ich immerzu
kämpfe. Gegen diesen Feind schicke ich meine Heerscharen, aber die kommen
geschlagen zurück. Noch habe ich nur Schlachten verloren. Den Krieg darf
ich nicht verlieren.
Das Absurde aber ist: Mir ist gar nicht richtig klar, warum ich gegen
diesen Feind überhaupt kämpfe. Der ist doch ein Teil von mir. Zwar ein Teil
von mir, den ich nicht erklären kann, der auch gern den Schalter umlegt,
mal in die, mal in die andere Richtung – aber eben ein Teil von mir. Ich
muss versuchen, eine halbwegs vernünftige Koexistenz herzustellen, wenn ich
mit der Bipolaren Störung umgehen will. Aber befrieden kann ich den Zustand
nicht. Der Krieg in mir wird den Rest meines Lebens weitergehen.
## * * *
Was mit mir los ist, wurde richtig klar 2014, da war ich 44 Jahre alt. Das
Jahr war eine Zäsur. Ich ging mit Freunden auf eine Reise, die gründlich
schief ging. Geplant war ein Segeltörn von New York nach Deutschland. Schon
New York hat mich gestresst, die Stadt war so laut und wahnsinnig heiß. Als
wir dann aus New York raus gefahren sind, den Hudson hinunter, vorbei an
der Freiheitsstatue, habe ich den Anker eingepackt – und mir wurde
schlecht. Zuerst dachte ich noch: Ist ja normal, ich habe ja gerade nach
unten geguckt. Oder ich bin seekrank. Aber das ging nicht mehr weg. Das war
dann doch eine andere Nummer.
Mir war permanent komisch auf dieser Reise – außer, es ist gerade was
passiert, es waren Wale da oder irgendeine Action, wie an dem Tag, an dem
wir jemanden aus Seenot gerettet haben. Ansonsten habe ich in meiner Koje
gelegen und trübe vor mich hingestarrt. Alles war schlimm und schrecklich.
Die anderen haben irgendwann Angst bekommen, dass ich über die Reling
hüpfe, und beschlossen, dass ich nach Hause muss. Also sind wir abgebogen
zu den Bermudas. Von da aus bin ich dann zurückgeflogen, begleitet von
einem meiner Freunde.
Über den Sommer habe ich mich erholt, hatte in der Freien Schule, in der
ich damals als Geschäftsführer arbeitete, viel zu tun und dachte, mir
geht’s wieder gut. Bis mich die Kollegen eines Tages zum Teamgespräch
geladen und mir gesagt haben: So, Jens, du packst jetzt deine Sachen, gehst
nach Hause, lässt dich krankschreiben und kommst mindestens zwei Wochen
nicht wieder.
Ich habe gar nicht verstanden, was die meinen, was die von mir wollen. Die
sagten: Du bist unerträglich, ein völliger Kontrollfreak. Du bist unfassbar
nervig und gereizt. Okay, hab ich mir da gesagt, geh ich morgen halt mal zu
meiner Hausärztin. Und die hat mich dann direkt einweisen wollen. Das war
noch komischer, das habe ich erst recht nicht verstanden, mich aber
trotzdem krankschreiben lassen.
Also habe ich zu Hause rumgehangen, und mich mit meiner Frau so schwer
gestritten, so existenziell, das sie mir nach 19 Jahren Ehe mit Trennung
gedroht hat. Am darauf folgenden Tag bin ich völlig zusammengeklappt: Ich
habe nur noch geheult, ich konnte mich nicht mehr bewegen, ich war tief
verzweifelt. Ein Freund hat mich in die Klinik gebracht, da haben sie mich
erst einmal zwei Wochen ruhiggestellt.
Dann ging die Diagnostik los, aber das ist nicht ganz einfach. Schon weil
die Bipolare Störung so ein breites Spektrum hat. Man kann nicht sagen: Die
Störung beginnt hier und endet dort. In meiner Selbsthilfegruppe erzählt
keiner dieselbe Geschichte, die Krankheitsverläufe sind immer anders. Bei
den einen geht das im Wochentakt oder sogar täglich hoch und runter, das
nennt man Rapid Cycling. Bei anderen baut es sich ganz langsam auf, da
können die Perioden anderthalb Jahre dauern. Andere fliegen ein paar Tage
ab, wie man das aus dem Kino kennt.
Bei mir war das zudem noch schwieriger zu diagnostizieren, weil ich ein
Hypomaniker bin. Das heißt, man merkt nicht so richtig, dass ich manisch
werde. Es steigert sich langsam über Wochen, manchmal Monate, und ich
funktioniere auch in der Manie noch ganz gut. Während schwere Maniker Haus
und Hof versetzen, laufe ich zur Hochform auf, bin unheimlich kreativ,
schaffe viel weg, fange aber auch irrsinnig viel an und bringe es nicht zu
Ende.
Ich war bei einer Reha, aber da hatten sie nicht wirklich eine Ahnung, was
bipolar bedeutet, und haben mich machen lassen: In den sechs Wochen habe
ich ein Buch gemacht, einen dicken Folianten mit Gedichten und Zeichnungen,
dazu noch eine ganze Serie mit anderen Arbeiten, ich hab für meine Frau
eine Isländer-Strickjacke gestrickt und mich nebenbei noch in eine
Mitpatientin verliebt, die gar nichts von mir wollte. Aber da steckte ich
eben schon mitten im Wahn, ohne es zu merken. Mit Anfang 20 habe ich mal
ein Theaterstück geschrieben und wollte das dann nicht nur inszenieren,
sondern auch gleich die Hauptrolle übernehmen, die Kostüme, alles. Am
Schluss war ich fest überzeugt: Ich bin ein großer Künstler! Ich kann
alles!
Der Wahn ist gigantisch. Plötzlich ist der Himmel offen, und ich habe das
Gefühl, alles schaffen zu können. Aber man kriegt dann eben auch sein Leben
nicht mehr geregelt, der Alltag ist einem egal. In solchen Phasen würde ich
am liebsten alles hinschmeißen, den Job, die Beziehung, und nur noch Kunst
machen. Aber das hält eben nur eine Weile an, und dann macht es puff, und
alles ist vorbei, und man fällt in die Depression.
Die Depression ist dann, als würde mir jemand Tropfen für Tropfen Blei ins
Hirn gießen. In letzter Konsequenz ist es wie eine Starre, aus der ich
nicht mehr herauskomme. Außerdem tut mir auch körperlich alles weh, der
ganze Körper schmerzt. Und mir ist ständig kalt, ich lege mich jeden Tag in
die Badewanne. In solchen Augenblicken denke ich, ich habe keine Haut mehr.
Und dann kommen natürlich die Suizidgedanken. Ich stand schon mal an einer
der meist befahrenen Bahnstrecken Europas, da kommt alle paar Minuten ein
Zug lang. Aber ich konnte mich nicht vor einen werfen, weil mir der
Lokführer leid tat. Letztes Jahr wollte ich auf die Autobahn rennen, aber
ich machte mir Sorgen um den Lkw-Fahrer. Tatsächlich sind es solche
Gedanken, die mich schon ein paarmal gerettet haben.
2014 in der Klinik sollte ich mein Leben aufschreiben, meine
Stimmungsbrüche protokollieren. Da habe ich zwei Tage drüber gesessen – und
dann haben wir festgestellt, dass es immer schon so war. Spätestens mit 17
hatte ich die erste heftige manische Episode, gefolgt von einer schweren
Depression. Da erst wurde mir klar, dass über Jahre in Abständen immer
wieder dasselbe passierte: Auf Phasen extremer Aktivität folgte ein
Zusammenbruch, einmal auch mitten auf der Straße. Doch da wurde gesagt: Das
ist ja normal, der hat zu viel gearbeitet, und jetzt ist er halt schlapp.
Das hieß mal Überlastungssyndrom, später Burnout. Da macht man eine Pause,
vielleicht eine Therapie, und dann geht es wieder.
Nach acht Wochen in der Klinik stand die Diagnose fest: Bipolare Störung.
Seitdem werde ich mit Medikamenten eingestellt.
## * * *
In der Zeit danach war ich erst einmal sehr wütend, weil mir bewusst wurde,
um was es ging: Der Jens, der ich bin, wurde von allen und auch von mir
selbst zum Kranken erklärt. Der sollte jetzt ein Medikament wie Lithium
nehmen, das ihn unter eine Käseglocke verbannt, ihn gefühllos macht.
Vor unserem Haus steht eine Kletterrose. Ein irres Ding, das quasi
explodiert, wenn sie blüht. Das sind Gerüche und Farben, Wahnsinn. Wenn ich
unter Lithium bin, dann weiß ich nur, dass die Rose schön ist. Aber ich
spüre es nicht mehr.
Noch schlimmer: Die Medikamente produzieren einen Jens, der angeblich
normal ist, den ich aber gar nicht kenne. Dagegen habe ich mich lange
gewehrt. Ich wollte das nicht wahrhaben und habe gesagt: Leckt mich doch,
ich bin eben so. Geht doch selber damit um! Von angeblich normalen Menschen
wird doch auch nicht erwartet, anders zu sein als sie sind. Von mir aber
wird etwas verlangt, was ich nicht leisten kann. Was ich nur unter dem
Einfluss von Medikamenten leisten kann.
Von außen kommt ganz viel Unverständnis. Denn es gibt ein großes
Missverständnis zwischen den Bipolaren und ihrer Umwelt: Ich kann
niemandem, absolut niemandem beschreiben, wie ich mich fühle. Jemand, der
keine Depressionen hat, dem kann man nicht vermitteln, was eine Depression
ist. Ich kann umschreiben, immer neue Adjektive finden. Aber die anderen
können nicht wissen, wie man sich fühlt.
Mir ging das ja selbst so: Ich habe vorher ja auch gehört, was andere über
Depressionen oder die Manie berichten, ich habe Bücher gelesen. Trotzdem
wusste ich nicht, dass ich krank war, weil es bei mir ganz anders war.
Vielleicht kann man es so erklären: Ich sitze in einem Rollstuhl, nur sieht
ihn keiner. Ich bin wie ein Rollstuhlfahrer, der nach dem Unfall versuchen
muss, sein Leben im Rollstuhl zu leben, der sich damit arrangieren muss.
Ich hoffe, ich lerne mit dem Rollstuhl zu leben. Aber ich weiß, ich werde
nie wieder aus dem Rollstuhl rauskommen.
Bloß verlangt niemand von einem Rollstuhlfahrer, dass er aufsteht und geht.
Von Bipolaren wird das verlangt. Wir müssen diese mehr oder weniger
schrecklichen Medikamente nehmen, damit wir normal werden – was immer das
ist. Das heißt aber, dass ich meine innere Normalität verleugnen muss, und
das verletzt mich: Ich darf nicht mehr der sein, der ich eigentlich bin.
Ich verstehe dieses Ansinnen total, denn wir sind zeitweise schlimm
anstrengend. Aber ich empfinde es auch als extrem verletzend, dass ich mich
mit Medikamenten kastrieren soll. Dass ich ständig auf mich selbst achten
muss. Andere dürfen doch auch einfach sie selbst sein.
Schließlich habe ich doch jahrelang wie jeder andere daran geglaubt, dass
ich der bin, der ich bin. Jemand, der kreativ ist, der viel schafft. Ich
habe immer Kunst gemacht, gemalt und gebildhauert, ich war Meisterschüler
an der Hochschule der Künste in Berlin, ich habe ausgestellt. Wir haben in
der Prignitz ein Haus gekauft und ausgebaut, eine kleine Firma aufgebaut,
wir haben Kräutertee hergestellt und verkauft, nebenbei habe ich
mitgeholfen, dort in der Einöde eine freie Schule aufzubauen. Nachdem wir
in die Nähe von Dresden umgezogen sind, haben wir einen zweiten Hof
renoviert, und die Freie Schule Dresden wurde mit mir als Geschäftsführer
immer größer, Schulneubau inklusive. Und das alles, während wir vier Kinder
großgezogen haben.
Im Nachhinein betrachtet klingt das auch für mich irre und überfordernd,
aber damals war das völlig normal. Ich war so. Ich habe Sachen in meinem
Leben geschafft, auf die ich stolz bin. Sachen, die manch anderer nicht
geschafft hätte. Sachen, die ich aber eben ohne die Störung vielleicht nie
angegangen hätte, vielleicht nie geschafft hätte.
Aber jetzt soll ich etwas ganz anderes sein. Der Jens, den ich kenne, der
ist seit der Diagnose krank. Der Jens ist jetzt bipolar, und das geht
nicht. Ich soll jetzt ein anderer Jens sein, ich soll der normale Jens
sein. Aber dieser Jens will ich eigentlich nicht sein.
Es ist nur die Vernunft, die mir sagt: Versuche dieser normale Jens zu
sein. Denn mittlerweile habe ich verstanden und akzeptiert, dass ich die
Krankheit in den Griff bekommen muss, weil sie selbstzerstörerisch ist.
Weil mein Rücken, mein ganzer Körper die manischen Phasen auf Dauer nicht
mitmachen würde, weil ich meine Frau nicht verlieren will, nicht verlieren
kann, weil ich meine sozialen Beziehungen nicht zerstören will, weil ich
mich irgendwann umbringen würde. Also nehme ich meine Medikamente.
Das Lithium, das ich früher nehmen musste, war schrecklich. Das hat mich
lahmgelegt und dafür gesorgt, dass die Phasen sich zum Teil täglich
abgewechselt haben. Mittlerweile nehme ich ein neues Medikament, das heißt
Quetiapin und ist zwar sehr viel besser, aber auch das hat Nebenwirkungen.
Ich muss genau planen, wann ich es einnehme, weil ich manchmal eine Stunde
später einfach ausgeschaltet werde und einschlafe.
Eine andere Nebenwirkung ist, dass ich mich an fast jeden Traum erinnern
kann. Ich wache morgens auf und statt die Träume zu vergessen wie andere,
verfolgen sie mich den ganzen Tag lang. Einige sind so präsent, die muss
ich aufschreiben, sonst werde ich sie nicht mehr los. Letzte Nacht habe ich
zum Beispiel geträumt, ich bin Regaleinräumer in einem Großmarkt. Aber ich
mache alles falsch, was man falsch machen kann. Und jedes Mal, wenn ich
etwas falsch mache, wird mir nach einem komischen Punktesystem etwas vom
Lohn abgezogen, so dass ich am Schluss gar nichts mehr verdiene. So was ist
noch kein echter Albtraum, aber wenn man das dann den ganzen Tag mit sich
rumschleppt, ist das auch scheiße.
Es gibt auch richtige Albträume, wo ich nachts schreiend aufwache, weil ich
ermordet werde. Oft haben sie mit meiner Familie zu tun, zum Beispiel:
Vater fliegt ein Flugzeug. Mutter steigt auf die Tragfläche, redet die
ganze Zeit, bindet sich fest und stellt sich wie ein Artist vor das
Cockpit. Ich klammere mich an auf der Tragfläche liegende Seile und habe
furchtbare Höhenangst. Vater sitzt jetzt am Ende der Tragfläche und lacht.
Später beschimpfe ich ihn wegen seiner Ignoranz und werfe Meißner Teller
mit Zwiebelmuster, von denen nur der Rand etwas angeschlagen ist.
## * * *
Ich weiß, ich werde nie gesund werden. Die Bipolare Störung heißt nicht
umsonst Störung und nicht Krankheit, weil das suggerieren würde, sie wäre
heilbar. Ich bin nicht krank, ich bin so. Das ist das Problem.
Man kann nur versuchen, mit den Medikamenten die höchsten Spitzen und die
tiefsten Tiefen zu kappen. Jemand, der nicht bipolar ist, kann sich das
wahrscheinlich nicht vorstellen: Ich kapiere nicht, dass ich in einer
Notsituation stecke. Ich registriere schon, dass alles schräg ist, dass
Menschen auf mich seltsam reagieren, aber ich denke dann nicht daran, mir
helfen zu lassen.
Es gibt beispielsweise gemischte Episoden, in denen man gleichzeitig
manisch und depressiv ist. Das sind eigentlich die gefährlichsten
Situationen. Mitten in so einer Episode bin ich einmal losgelaufen und
meinte, Deutschland zu Fuß durchqueren zu müssen. Ich bin kreuz und quer
durch die Gegend gewandert. Von Dresden nach Leipzig, mit dem Zug nach
Prenzlau, von dort an die Ostsee, die ganze Küste lang und das Grüne Band,
also die ehemalige innerdeutsche Grenze, bis zum Brocken, durch den Südharz
und das Saaletal.
Insgesamt waren es 1.300 Kilometer in sechs Wochen, manchmal bin ich mehr
als 50 Kilometer am Tag gelaufen. Ich hatte so viel Druck im Kopf, so viel
Druck auf den Schultern, ich wusste, dass etwas Blödes passieren würde,
wenn ich nicht weiterlaufe. Kurz vorm Saaletal war der Druck dann so groß,
dass ich das Bedürfnis hatte, mich umzubringen. Dann bin ich von da aus
nach Bad Kösen in eine Reha-Klinik gelaufen, die ich schon kannte, damit
die mich auffangen.
Deshalb ist es wahnsinnig wichtig, dass man ein funktionierendes soziales
Umfeld hat. Menschen, die einen auffangen und notfalls eben einweisen. Denn
eine schwere Depression bedeutet: Wenn ich jetzt nicht in die Klinik komme,
bringe ich mich wahrscheinlich um.
Viele Bipolare haben aber kein funktionierendes soziales Umfeld mehr, weil
sie es im Wahn zerstört haben. Ich habe meine Frau, ich habe einen
Freundeskreis, eine Arbeit. Meine Frau und unsere beiden besten Freunde
haben sich schon zwei-, dreimal zusammengesetzt und mir anschließend die
Pistole auf die Brust gesetzt: Du musst jetzt in die Klinik.
Doch wird das Umfeld koabhängig von meiner Störung, vor allem meine Frau
natürlich. Die hat den ganzen Scheiß dann allein an der Backe, muss sich
nicht nur um mich kümmern, sondern auch um die Kinder, um den Hof, um
alles, was liegen bleibt, weil ich depressiv in der Ecke hänge oder in der
Klinik bin. Ihr Leben und zum Teil auch das meiner Kinder muss sich während
der Episoden nach mir ausrichten: Der Kranke mit seinen Höhen und Tiefen
bestimmt das Leben aller anderen. Dass meine Frau trotzdem bei mir bleibt,
ist auch der Beweis, wie sehr sie mich liebt.
Deswegen trage ich aber auch immer eine Schuld mit mir herum. Es sagt zwar
niemand zu mir: Du bist doch wieder manisch! Du bist doch wieder depressiv!
Aber ich hinterfrage das andauernd. Ich beobachte mich ständig selbst. Das
ist eine permanente unfreiwillige Selbstkontrolle. Immerzu frage ich mich:
Bin ich normal? Oder schon manisch? Oder depressiv? Heute, wenn ich auf
Arbeit einen Fehler mache, dann sage ich mir nicht: Jeder macht mal einen
Fehler. Stattdessen frage ich mich: War das jetzt die Krankheit?
Ich darf nicht einfach leben wie andere, ich muss immerzu mich selbst
reflektieren und jede meiner Handlungen hinterfragen. Das nervt, das ist
wahnsinnig anstrengend. Diese ständige Schuld werde ich nicht los.
Auf der anderen Seite hilft einem die Gesellschaft nicht. Es ist klar, dass
ich keine 40 Stunden die Woche arbeiten kann, weil mich der Stress so
antriggern würde, dass eine manische oder depressive Periode ausgelöst
werden würde. Und so ein Aufenthalt in der Psychiatrie ist kein Spaß, das
ist großer Scheiß. Weggesperrt zu werden, weil du dich im Ernstfall
umbringen könntest.
Also habe ich einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente gestellt. Es ist
klar, ich habe diese Störung. Es ist klar, dass ist eine der zehn
schlimmsten psychischen Störungen, die es gibt. Es ist klar, bis zu 30
Prozent der Bipolaren bringen sich um. Aber ich kriege keine
Erwerbsminderungsrente, weil ich nicht vor 1961 geboren wurde. Das ist die
Begründung. Es gibt einen Stichtag, ab dem kriegt man die Rente nicht mehr.
Stattdessen sagen Rentenversicherung und Arbeitsamt: Wenn ich den Job, den
ich mache, nicht mehr machen kann, soll ich mir einen neuen suchen. Aber
das ist totaler Quatsch: Dieser Job ist ja gerade ein wichtiger Teil meines
sozialen Umfelds, das ich brauche, um mit der Störung leben zu können, weil
es akzeptiert, dass ich jederzeit ausfallen kann.
Das Amt will das nicht verstehen. Da ist man verzweifelt. Ich sage mir dann
selber: Steh doch einfach auf aus deinem Rollstuhl und fang an zu laufen.
Das ist so entwürdigend: Ich bin krank, hab diese scheiß Kiste an der
Backe, die Gesellschaft erwartet von mir, ihre Normen einzuhalten, aber
weil man es mir nicht ansieht, habe ich nichts zu erwarten. Darunter leide
ich sehr.
## * * *
Wenn ich in meine Familiengeschichte blicke, dann ist das alles keine
Überraschung: Eine Großmutter und wahrscheinlich auch ein Großvater haben
Selbstmord begangen. Mein Vater hat sich in Raten umgebracht mit Alkohol,
Nikotin und Kaffee. Auch meine Mutter hat versucht, sich umzubringen, und
außerdem ist sie möglicherweise eine Borderlinerin: Man konnte nie sicher
sein, ob man sich eine einfing oder ob sie im nächsten Moment mit einem
durchs Zimmer tanzte.
Ich bin nicht wütend auf meine Eltern, jedenfalls nicht, weil sie selbst
irgendetwas in sich getragen haben. Aber weil sie sich nicht gekümmert
haben. Ich finde nicht, sie hätten unbedingt eine Therapie machen müssen.
Aber sie hätten sich um sich – und damit auch um mich und meine Brüder –
kümmern müssen. Stattdessen haben sie mir das alles unreflektiert
mitgegeben. Vielleicht konnten sie das damals nicht anders.
Ich habe mit meinen Kindern gesprochen. Ich beobachte meine Kinder sehr
genau, ob ich Symptome an ihnen erkennen kann. Und ich habe ihnen gesagt,
dass sie auf sich achten sollen. Zum Glück ist bislang kaum etwas zu sehen,
ich hoffe natürlich, das bleibt so. Natürlich tut mir leid, dass ich ihnen
womöglich etwas mitgegeben habe, zumindest die Veranlagung dazu, aber was
soll ich tun? Ich kümmere mich wenigstens. Ich habe drei Psychotherapien
hinter mir und in den letzten fünf Jahren etwa acht Monate in Kliniken
verbracht.
Mit dem neuen Medikament komme ich besser klar. Zu Beginn der depressiven
Phase, in der ich gerade bin, hatte ich das erste Mal das Gefühl: Ja, jetzt
beginnt eine Depression, aber ich komme aus der auch wieder raus. Das ist
schon eine Verbesserung. Das Loch ist immer noch genauso schwarz. Zumindest
glaube ich daran, dass ich es wieder verlassen werde.
In diesem Text werden Suizidgedanken geschildert. Wenn Sie sich selbst
betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte die [1][Telefonseelsorge] . Unter
der kostenlosen Hotline 0800-111 01 11 erhalten Sie Hilfe. Auch die
[2][Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen] bietet Beratung für
Betroffene und Angehörige.
19 Aug 2018
## LINKS
[1] http://www.telefonseelsorge.de/
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## AUTOREN
Thomas Winkler
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Thomas Melle
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