| # taz.de -- Vom Leben mit einer bipolaren Störung: Plötzlich ist nichts mehr … | |
| > Jens Cencarka-Lisec ist Mitte 40, als er die Diagnose erhält. Nun soll er | |
| > einen Teil von sich bekämpfen. Und lernt, damit umgehen. | |
| Bild: Von den letzten fünf Jahren hat Jens Cencarka-Lisec etwa acht Monate in … | |
| In mir herrscht Krieg. Ich habe einen inneren Feind, gegen den ich immerzu | |
| kämpfe. Gegen diesen Feind schicke ich meine Heerscharen, aber die kommen | |
| geschlagen zurück. Noch habe ich nur Schlachten verloren. Den Krieg darf | |
| ich nicht verlieren. | |
| Das Absurde aber ist: Mir ist gar nicht richtig klar, warum ich gegen | |
| diesen Feind überhaupt kämpfe. Der ist doch ein Teil von mir. Zwar ein Teil | |
| von mir, den ich nicht erklären kann, der auch gern den Schalter umlegt, | |
| mal in die, mal in die andere Richtung – aber eben ein Teil von mir. Ich | |
| muss versuchen, eine halbwegs vernünftige Koexistenz herzustellen, wenn ich | |
| mit der Bipolaren Störung umgehen will. Aber befrieden kann ich den Zustand | |
| nicht. Der Krieg in mir wird den Rest meines Lebens weitergehen. | |
| ## * * * | |
| Was mit mir los ist, wurde richtig klar 2014, da war ich 44 Jahre alt. Das | |
| Jahr war eine Zäsur. Ich ging mit Freunden auf eine Reise, die gründlich | |
| schief ging. Geplant war ein Segeltörn von New York nach Deutschland. Schon | |
| New York hat mich gestresst, die Stadt war so laut und wahnsinnig heiß. Als | |
| wir dann aus New York raus gefahren sind, den Hudson hinunter, vorbei an | |
| der Freiheitsstatue, habe ich den Anker eingepackt – und mir wurde | |
| schlecht. Zuerst dachte ich noch: Ist ja normal, ich habe ja gerade nach | |
| unten geguckt. Oder ich bin seekrank. Aber das ging nicht mehr weg. Das war | |
| dann doch eine andere Nummer. | |
| Mir war permanent komisch auf dieser Reise – außer, es ist gerade was | |
| passiert, es waren Wale da oder irgendeine Action, wie an dem Tag, an dem | |
| wir jemanden aus Seenot gerettet haben. Ansonsten habe ich in meiner Koje | |
| gelegen und trübe vor mich hingestarrt. Alles war schlimm und schrecklich. | |
| Die anderen haben irgendwann Angst bekommen, dass ich über die Reling | |
| hüpfe, und beschlossen, dass ich nach Hause muss. Also sind wir abgebogen | |
| zu den Bermudas. Von da aus bin ich dann zurückgeflogen, begleitet von | |
| einem meiner Freunde. | |
| Über den Sommer habe ich mich erholt, hatte in der Freien Schule, in der | |
| ich damals als Geschäftsführer arbeitete, viel zu tun und dachte, mir | |
| geht’s wieder gut. Bis mich die Kollegen eines Tages zum Teamgespräch | |
| geladen und mir gesagt haben: So, Jens, du packst jetzt deine Sachen, gehst | |
| nach Hause, lässt dich krankschreiben und kommst mindestens zwei Wochen | |
| nicht wieder. | |
| Ich habe gar nicht verstanden, was die meinen, was die von mir wollen. Die | |
| sagten: Du bist unerträglich, ein völliger Kontrollfreak. Du bist unfassbar | |
| nervig und gereizt. Okay, hab ich mir da gesagt, geh ich morgen halt mal zu | |
| meiner Hausärztin. Und die hat mich dann direkt einweisen wollen. Das war | |
| noch komischer, das habe ich erst recht nicht verstanden, mich aber | |
| trotzdem krankschreiben lassen. | |
| Also habe ich zu Hause rumgehangen, und mich mit meiner Frau so schwer | |
| gestritten, so existenziell, das sie mir nach 19 Jahren Ehe mit Trennung | |
| gedroht hat. Am darauf folgenden Tag bin ich völlig zusammengeklappt: Ich | |
| habe nur noch geheult, ich konnte mich nicht mehr bewegen, ich war tief | |
| verzweifelt. Ein Freund hat mich in die Klinik gebracht, da haben sie mich | |
| erst einmal zwei Wochen ruhiggestellt. | |
| Dann ging die Diagnostik los, aber das ist nicht ganz einfach. Schon weil | |
| die Bipolare Störung so ein breites Spektrum hat. Man kann nicht sagen: Die | |
| Störung beginnt hier und endet dort. In meiner Selbsthilfegruppe erzählt | |
| keiner dieselbe Geschichte, die Krankheitsverläufe sind immer anders. Bei | |
| den einen geht das im Wochentakt oder sogar täglich hoch und runter, das | |
| nennt man Rapid Cycling. Bei anderen baut es sich ganz langsam auf, da | |
| können die Perioden anderthalb Jahre dauern. Andere fliegen ein paar Tage | |
| ab, wie man das aus dem Kino kennt. | |
| Bei mir war das zudem noch schwieriger zu diagnostizieren, weil ich ein | |
| Hypomaniker bin. Das heißt, man merkt nicht so richtig, dass ich manisch | |
| werde. Es steigert sich langsam über Wochen, manchmal Monate, und ich | |
| funktioniere auch in der Manie noch ganz gut. Während schwere Maniker Haus | |
| und Hof versetzen, laufe ich zur Hochform auf, bin unheimlich kreativ, | |
| schaffe viel weg, fange aber auch irrsinnig viel an und bringe es nicht zu | |
| Ende. | |
| Ich war bei einer Reha, aber da hatten sie nicht wirklich eine Ahnung, was | |
| bipolar bedeutet, und haben mich machen lassen: In den sechs Wochen habe | |
| ich ein Buch gemacht, einen dicken Folianten mit Gedichten und Zeichnungen, | |
| dazu noch eine ganze Serie mit anderen Arbeiten, ich hab für meine Frau | |
| eine Isländer-Strickjacke gestrickt und mich nebenbei noch in eine | |
| Mitpatientin verliebt, die gar nichts von mir wollte. Aber da steckte ich | |
| eben schon mitten im Wahn, ohne es zu merken. Mit Anfang 20 habe ich mal | |
| ein Theaterstück geschrieben und wollte das dann nicht nur inszenieren, | |
| sondern auch gleich die Hauptrolle übernehmen, die Kostüme, alles. Am | |
| Schluss war ich fest überzeugt: Ich bin ein großer Künstler! Ich kann | |
| alles! | |
| Der Wahn ist gigantisch. Plötzlich ist der Himmel offen, und ich habe das | |
| Gefühl, alles schaffen zu können. Aber man kriegt dann eben auch sein Leben | |
| nicht mehr geregelt, der Alltag ist einem egal. In solchen Phasen würde ich | |
| am liebsten alles hinschmeißen, den Job, die Beziehung, und nur noch Kunst | |
| machen. Aber das hält eben nur eine Weile an, und dann macht es puff, und | |
| alles ist vorbei, und man fällt in die Depression. | |
| Die Depression ist dann, als würde mir jemand Tropfen für Tropfen Blei ins | |
| Hirn gießen. In letzter Konsequenz ist es wie eine Starre, aus der ich | |
| nicht mehr herauskomme. Außerdem tut mir auch körperlich alles weh, der | |
| ganze Körper schmerzt. Und mir ist ständig kalt, ich lege mich jeden Tag in | |
| die Badewanne. In solchen Augenblicken denke ich, ich habe keine Haut mehr. | |
| Und dann kommen natürlich die Suizidgedanken. Ich stand schon mal an einer | |
| der meist befahrenen Bahnstrecken Europas, da kommt alle paar Minuten ein | |
| Zug lang. Aber ich konnte mich nicht vor einen werfen, weil mir der | |
| Lokführer leid tat. Letztes Jahr wollte ich auf die Autobahn rennen, aber | |
| ich machte mir Sorgen um den Lkw-Fahrer. Tatsächlich sind es solche | |
| Gedanken, die mich schon ein paarmal gerettet haben. | |
| 2014 in der Klinik sollte ich mein Leben aufschreiben, meine | |
| Stimmungsbrüche protokollieren. Da habe ich zwei Tage drüber gesessen – und | |
| dann haben wir festgestellt, dass es immer schon so war. Spätestens mit 17 | |
| hatte ich die erste heftige manische Episode, gefolgt von einer schweren | |
| Depression. Da erst wurde mir klar, dass über Jahre in Abständen immer | |
| wieder dasselbe passierte: Auf Phasen extremer Aktivität folgte ein | |
| Zusammenbruch, einmal auch mitten auf der Straße. Doch da wurde gesagt: Das | |
| ist ja normal, der hat zu viel gearbeitet, und jetzt ist er halt schlapp. | |
| Das hieß mal Überlastungssyndrom, später Burnout. Da macht man eine Pause, | |
| vielleicht eine Therapie, und dann geht es wieder. | |
| Nach acht Wochen in der Klinik stand die Diagnose fest: Bipolare Störung. | |
| Seitdem werde ich mit Medikamenten eingestellt. | |
| ## * * * | |
| In der Zeit danach war ich erst einmal sehr wütend, weil mir bewusst wurde, | |
| um was es ging: Der Jens, der ich bin, wurde von allen und auch von mir | |
| selbst zum Kranken erklärt. Der sollte jetzt ein Medikament wie Lithium | |
| nehmen, das ihn unter eine Käseglocke verbannt, ihn gefühllos macht. | |
| Vor unserem Haus steht eine Kletterrose. Ein irres Ding, das quasi | |
| explodiert, wenn sie blüht. Das sind Gerüche und Farben, Wahnsinn. Wenn ich | |
| unter Lithium bin, dann weiß ich nur, dass die Rose schön ist. Aber ich | |
| spüre es nicht mehr. | |
| Noch schlimmer: Die Medikamente produzieren einen Jens, der angeblich | |
| normal ist, den ich aber gar nicht kenne. Dagegen habe ich mich lange | |
| gewehrt. Ich wollte das nicht wahrhaben und habe gesagt: Leckt mich doch, | |
| ich bin eben so. Geht doch selber damit um! Von angeblich normalen Menschen | |
| wird doch auch nicht erwartet, anders zu sein als sie sind. Von mir aber | |
| wird etwas verlangt, was ich nicht leisten kann. Was ich nur unter dem | |
| Einfluss von Medikamenten leisten kann. | |
| Von außen kommt ganz viel Unverständnis. Denn es gibt ein großes | |
| Missverständnis zwischen den Bipolaren und ihrer Umwelt: Ich kann | |
| niemandem, absolut niemandem beschreiben, wie ich mich fühle. Jemand, der | |
| keine Depressionen hat, dem kann man nicht vermitteln, was eine Depression | |
| ist. Ich kann umschreiben, immer neue Adjektive finden. Aber die anderen | |
| können nicht wissen, wie man sich fühlt. | |
| Mir ging das ja selbst so: Ich habe vorher ja auch gehört, was andere über | |
| Depressionen oder die Manie berichten, ich habe Bücher gelesen. Trotzdem | |
| wusste ich nicht, dass ich krank war, weil es bei mir ganz anders war. | |
| Vielleicht kann man es so erklären: Ich sitze in einem Rollstuhl, nur sieht | |
| ihn keiner. Ich bin wie ein Rollstuhlfahrer, der nach dem Unfall versuchen | |
| muss, sein Leben im Rollstuhl zu leben, der sich damit arrangieren muss. | |
| Ich hoffe, ich lerne mit dem Rollstuhl zu leben. Aber ich weiß, ich werde | |
| nie wieder aus dem Rollstuhl rauskommen. | |
| Bloß verlangt niemand von einem Rollstuhlfahrer, dass er aufsteht und geht. | |
| Von Bipolaren wird das verlangt. Wir müssen diese mehr oder weniger | |
| schrecklichen Medikamente nehmen, damit wir normal werden – was immer das | |
| ist. Das heißt aber, dass ich meine innere Normalität verleugnen muss, und | |
| das verletzt mich: Ich darf nicht mehr der sein, der ich eigentlich bin. | |
| Ich verstehe dieses Ansinnen total, denn wir sind zeitweise schlimm | |
| anstrengend. Aber ich empfinde es auch als extrem verletzend, dass ich mich | |
| mit Medikamenten kastrieren soll. Dass ich ständig auf mich selbst achten | |
| muss. Andere dürfen doch auch einfach sie selbst sein. | |
| Schließlich habe ich doch jahrelang wie jeder andere daran geglaubt, dass | |
| ich der bin, der ich bin. Jemand, der kreativ ist, der viel schafft. Ich | |
| habe immer Kunst gemacht, gemalt und gebildhauert, ich war Meisterschüler | |
| an der Hochschule der Künste in Berlin, ich habe ausgestellt. Wir haben in | |
| der Prignitz ein Haus gekauft und ausgebaut, eine kleine Firma aufgebaut, | |
| wir haben Kräutertee hergestellt und verkauft, nebenbei habe ich | |
| mitgeholfen, dort in der Einöde eine freie Schule aufzubauen. Nachdem wir | |
| in die Nähe von Dresden umgezogen sind, haben wir einen zweiten Hof | |
| renoviert, und die Freie Schule Dresden wurde mit mir als Geschäftsführer | |
| immer größer, Schulneubau inklusive. Und das alles, während wir vier Kinder | |
| großgezogen haben. | |
| Im Nachhinein betrachtet klingt das auch für mich irre und überfordernd, | |
| aber damals war das völlig normal. Ich war so. Ich habe Sachen in meinem | |
| Leben geschafft, auf die ich stolz bin. Sachen, die manch anderer nicht | |
| geschafft hätte. Sachen, die ich aber eben ohne die Störung vielleicht nie | |
| angegangen hätte, vielleicht nie geschafft hätte. | |
| Aber jetzt soll ich etwas ganz anderes sein. Der Jens, den ich kenne, der | |
| ist seit der Diagnose krank. Der Jens ist jetzt bipolar, und das geht | |
| nicht. Ich soll jetzt ein anderer Jens sein, ich soll der normale Jens | |
| sein. Aber dieser Jens will ich eigentlich nicht sein. | |
| Es ist nur die Vernunft, die mir sagt: Versuche dieser normale Jens zu | |
| sein. Denn mittlerweile habe ich verstanden und akzeptiert, dass ich die | |
| Krankheit in den Griff bekommen muss, weil sie selbstzerstörerisch ist. | |
| Weil mein Rücken, mein ganzer Körper die manischen Phasen auf Dauer nicht | |
| mitmachen würde, weil ich meine Frau nicht verlieren will, nicht verlieren | |
| kann, weil ich meine sozialen Beziehungen nicht zerstören will, weil ich | |
| mich irgendwann umbringen würde. Also nehme ich meine Medikamente. | |
| Das Lithium, das ich früher nehmen musste, war schrecklich. Das hat mich | |
| lahmgelegt und dafür gesorgt, dass die Phasen sich zum Teil täglich | |
| abgewechselt haben. Mittlerweile nehme ich ein neues Medikament, das heißt | |
| Quetiapin und ist zwar sehr viel besser, aber auch das hat Nebenwirkungen. | |
| Ich muss genau planen, wann ich es einnehme, weil ich manchmal eine Stunde | |
| später einfach ausgeschaltet werde und einschlafe. | |
| Eine andere Nebenwirkung ist, dass ich mich an fast jeden Traum erinnern | |
| kann. Ich wache morgens auf und statt die Träume zu vergessen wie andere, | |
| verfolgen sie mich den ganzen Tag lang. Einige sind so präsent, die muss | |
| ich aufschreiben, sonst werde ich sie nicht mehr los. Letzte Nacht habe ich | |
| zum Beispiel geträumt, ich bin Regaleinräumer in einem Großmarkt. Aber ich | |
| mache alles falsch, was man falsch machen kann. Und jedes Mal, wenn ich | |
| etwas falsch mache, wird mir nach einem komischen Punktesystem etwas vom | |
| Lohn abgezogen, so dass ich am Schluss gar nichts mehr verdiene. So was ist | |
| noch kein echter Albtraum, aber wenn man das dann den ganzen Tag mit sich | |
| rumschleppt, ist das auch scheiße. | |
| Es gibt auch richtige Albträume, wo ich nachts schreiend aufwache, weil ich | |
| ermordet werde. Oft haben sie mit meiner Familie zu tun, zum Beispiel: | |
| Vater fliegt ein Flugzeug. Mutter steigt auf die Tragfläche, redet die | |
| ganze Zeit, bindet sich fest und stellt sich wie ein Artist vor das | |
| Cockpit. Ich klammere mich an auf der Tragfläche liegende Seile und habe | |
| furchtbare Höhenangst. Vater sitzt jetzt am Ende der Tragfläche und lacht. | |
| Später beschimpfe ich ihn wegen seiner Ignoranz und werfe Meißner Teller | |
| mit Zwiebelmuster, von denen nur der Rand etwas angeschlagen ist. | |
| ## * * * | |
| Ich weiß, ich werde nie gesund werden. Die Bipolare Störung heißt nicht | |
| umsonst Störung und nicht Krankheit, weil das suggerieren würde, sie wäre | |
| heilbar. Ich bin nicht krank, ich bin so. Das ist das Problem. | |
| Man kann nur versuchen, mit den Medikamenten die höchsten Spitzen und die | |
| tiefsten Tiefen zu kappen. Jemand, der nicht bipolar ist, kann sich das | |
| wahrscheinlich nicht vorstellen: Ich kapiere nicht, dass ich in einer | |
| Notsituation stecke. Ich registriere schon, dass alles schräg ist, dass | |
| Menschen auf mich seltsam reagieren, aber ich denke dann nicht daran, mir | |
| helfen zu lassen. | |
| Es gibt beispielsweise gemischte Episoden, in denen man gleichzeitig | |
| manisch und depressiv ist. Das sind eigentlich die gefährlichsten | |
| Situationen. Mitten in so einer Episode bin ich einmal losgelaufen und | |
| meinte, Deutschland zu Fuß durchqueren zu müssen. Ich bin kreuz und quer | |
| durch die Gegend gewandert. Von Dresden nach Leipzig, mit dem Zug nach | |
| Prenzlau, von dort an die Ostsee, die ganze Küste lang und das Grüne Band, | |
| also die ehemalige innerdeutsche Grenze, bis zum Brocken, durch den Südharz | |
| und das Saaletal. | |
| Insgesamt waren es 1.300 Kilometer in sechs Wochen, manchmal bin ich mehr | |
| als 50 Kilometer am Tag gelaufen. Ich hatte so viel Druck im Kopf, so viel | |
| Druck auf den Schultern, ich wusste, dass etwas Blödes passieren würde, | |
| wenn ich nicht weiterlaufe. Kurz vorm Saaletal war der Druck dann so groß, | |
| dass ich das Bedürfnis hatte, mich umzubringen. Dann bin ich von da aus | |
| nach Bad Kösen in eine Reha-Klinik gelaufen, die ich schon kannte, damit | |
| die mich auffangen. | |
| Deshalb ist es wahnsinnig wichtig, dass man ein funktionierendes soziales | |
| Umfeld hat. Menschen, die einen auffangen und notfalls eben einweisen. Denn | |
| eine schwere Depression bedeutet: Wenn ich jetzt nicht in die Klinik komme, | |
| bringe ich mich wahrscheinlich um. | |
| Viele Bipolare haben aber kein funktionierendes soziales Umfeld mehr, weil | |
| sie es im Wahn zerstört haben. Ich habe meine Frau, ich habe einen | |
| Freundeskreis, eine Arbeit. Meine Frau und unsere beiden besten Freunde | |
| haben sich schon zwei-, dreimal zusammengesetzt und mir anschließend die | |
| Pistole auf die Brust gesetzt: Du musst jetzt in die Klinik. | |
| Doch wird das Umfeld koabhängig von meiner Störung, vor allem meine Frau | |
| natürlich. Die hat den ganzen Scheiß dann allein an der Backe, muss sich | |
| nicht nur um mich kümmern, sondern auch um die Kinder, um den Hof, um | |
| alles, was liegen bleibt, weil ich depressiv in der Ecke hänge oder in der | |
| Klinik bin. Ihr Leben und zum Teil auch das meiner Kinder muss sich während | |
| der Episoden nach mir ausrichten: Der Kranke mit seinen Höhen und Tiefen | |
| bestimmt das Leben aller anderen. Dass meine Frau trotzdem bei mir bleibt, | |
| ist auch der Beweis, wie sehr sie mich liebt. | |
| Deswegen trage ich aber auch immer eine Schuld mit mir herum. Es sagt zwar | |
| niemand zu mir: Du bist doch wieder manisch! Du bist doch wieder depressiv! | |
| Aber ich hinterfrage das andauernd. Ich beobachte mich ständig selbst. Das | |
| ist eine permanente unfreiwillige Selbstkontrolle. Immerzu frage ich mich: | |
| Bin ich normal? Oder schon manisch? Oder depressiv? Heute, wenn ich auf | |
| Arbeit einen Fehler mache, dann sage ich mir nicht: Jeder macht mal einen | |
| Fehler. Stattdessen frage ich mich: War das jetzt die Krankheit? | |
| Ich darf nicht einfach leben wie andere, ich muss immerzu mich selbst | |
| reflektieren und jede meiner Handlungen hinterfragen. Das nervt, das ist | |
| wahnsinnig anstrengend. Diese ständige Schuld werde ich nicht los. | |
| Auf der anderen Seite hilft einem die Gesellschaft nicht. Es ist klar, dass | |
| ich keine 40 Stunden die Woche arbeiten kann, weil mich der Stress so | |
| antriggern würde, dass eine manische oder depressive Periode ausgelöst | |
| werden würde. Und so ein Aufenthalt in der Psychiatrie ist kein Spaß, das | |
| ist großer Scheiß. Weggesperrt zu werden, weil du dich im Ernstfall | |
| umbringen könntest. | |
| Also habe ich einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente gestellt. Es ist | |
| klar, ich habe diese Störung. Es ist klar, dass ist eine der zehn | |
| schlimmsten psychischen Störungen, die es gibt. Es ist klar, bis zu 30 | |
| Prozent der Bipolaren bringen sich um. Aber ich kriege keine | |
| Erwerbsminderungsrente, weil ich nicht vor 1961 geboren wurde. Das ist die | |
| Begründung. Es gibt einen Stichtag, ab dem kriegt man die Rente nicht mehr. | |
| Stattdessen sagen Rentenversicherung und Arbeitsamt: Wenn ich den Job, den | |
| ich mache, nicht mehr machen kann, soll ich mir einen neuen suchen. Aber | |
| das ist totaler Quatsch: Dieser Job ist ja gerade ein wichtiger Teil meines | |
| sozialen Umfelds, das ich brauche, um mit der Störung leben zu können, weil | |
| es akzeptiert, dass ich jederzeit ausfallen kann. | |
| Das Amt will das nicht verstehen. Da ist man verzweifelt. Ich sage mir dann | |
| selber: Steh doch einfach auf aus deinem Rollstuhl und fang an zu laufen. | |
| Das ist so entwürdigend: Ich bin krank, hab diese scheiß Kiste an der | |
| Backe, die Gesellschaft erwartet von mir, ihre Normen einzuhalten, aber | |
| weil man es mir nicht ansieht, habe ich nichts zu erwarten. Darunter leide | |
| ich sehr. | |
| ## * * * | |
| Wenn ich in meine Familiengeschichte blicke, dann ist das alles keine | |
| Überraschung: Eine Großmutter und wahrscheinlich auch ein Großvater haben | |
| Selbstmord begangen. Mein Vater hat sich in Raten umgebracht mit Alkohol, | |
| Nikotin und Kaffee. Auch meine Mutter hat versucht, sich umzubringen, und | |
| außerdem ist sie möglicherweise eine Borderlinerin: Man konnte nie sicher | |
| sein, ob man sich eine einfing oder ob sie im nächsten Moment mit einem | |
| durchs Zimmer tanzte. | |
| Ich bin nicht wütend auf meine Eltern, jedenfalls nicht, weil sie selbst | |
| irgendetwas in sich getragen haben. Aber weil sie sich nicht gekümmert | |
| haben. Ich finde nicht, sie hätten unbedingt eine Therapie machen müssen. | |
| Aber sie hätten sich um sich – und damit auch um mich und meine Brüder – | |
| kümmern müssen. Stattdessen haben sie mir das alles unreflektiert | |
| mitgegeben. Vielleicht konnten sie das damals nicht anders. | |
| Ich habe mit meinen Kindern gesprochen. Ich beobachte meine Kinder sehr | |
| genau, ob ich Symptome an ihnen erkennen kann. Und ich habe ihnen gesagt, | |
| dass sie auf sich achten sollen. Zum Glück ist bislang kaum etwas zu sehen, | |
| ich hoffe natürlich, das bleibt so. Natürlich tut mir leid, dass ich ihnen | |
| womöglich etwas mitgegeben habe, zumindest die Veranlagung dazu, aber was | |
| soll ich tun? Ich kümmere mich wenigstens. Ich habe drei Psychotherapien | |
| hinter mir und in den letzten fünf Jahren etwa acht Monate in Kliniken | |
| verbracht. | |
| Mit dem neuen Medikament komme ich besser klar. Zu Beginn der depressiven | |
| Phase, in der ich gerade bin, hatte ich das erste Mal das Gefühl: Ja, jetzt | |
| beginnt eine Depression, aber ich komme aus der auch wieder raus. Das ist | |
| schon eine Verbesserung. Das Loch ist immer noch genauso schwarz. Zumindest | |
| glaube ich daran, dass ich es wieder verlassen werde. | |
| In diesem Text werden Suizidgedanken geschildert. Wenn Sie sich selbst | |
| betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte die [1][Telefonseelsorge] . Unter | |
| der kostenlosen Hotline 0800-111 01 11 erhalten Sie Hilfe. Auch die | |
| [2][Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen] bietet Beratung für | |
| Betroffene und Angehörige. | |
| 19 Aug 2018 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.telefonseelsorge.de/ | |
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| ## AUTOREN | |
| Thomas Winkler | |
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