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# taz.de -- Wenn Eltern psychisch krank sind: Ich sehe was, was du nicht siehst
> Die Mutter von Alina Lanisch (Name geändert) ist manisch-depressiv. Stets
> versuchte sie, ihre Mutter zu unterstützen, und weiß doch: Sie kann sie
> nicht retten.
Bild: Alina Lanisch (Name geändert) mit Blumen vorm Gesicht
Ich höre, „diese Nummer ist vorübergehend nicht erreichbar“, gerate in
Panik, rechne nach: Wann habe ich meine Mutter zuletzt gesprochen? Vor zwei
Wochen? Vor drei? Ist sie wieder weggetrampt? Wieder obdachlos? Oder
schlimmer: Liegt sie tot auf dem Boden der Wohnung?
Seit vier Wochen hat meine Mutter den Weiterbewilligungsantrag für ihre
Sozialhilfe ignoriert. Ich weiß nicht, wie sie an Essen kommt, weiß nur,
ihre Miete ist nicht bezahlt. Sie fliegt raus, wenn ich nichts tue.
Vor zwölf Jahren war sie schon mal obdachlos. Ich war 20 und mitten im
Abitur, als ich meine Mutter im Winter in meiner WG aufnahm, nachdem sie
mehrere Nächte im Freien verbracht hatte. Kaum da, mischte sie sich in
meine Beziehungen ein, unterstellte uns, sie zu beklauen, und hielt mich
mit ihren Verschwörungstheorien von den Abiturvorbereitungen ab. Mit 17 war
ich wegen Konzentrationsschwierigkeiten nach wiederholtem Sitzenbleiben
vom Gymnasium geflogen. Die externen Prüfungen waren meine letzte Chance.
Schlechten Gewissens setzte ich sie wieder vor die Tür.
Nach zwei Monaten in wechselnden Obdachlosenunterkünften kam sie wegen
einer nicht bezahlten Geldstrafe ins Gefängnis. Die Vorladung und die
Zahlungsaufforderung hatten sie nie erreicht. Als die Polizei sie in einem
Obdachlosenheim auffand, hatte sie ihr gesamtes Geld verliehen und
ausgegeben.
Meine Mutter leidet an einer bipolaren Störung. Sie hat nie Hilfe
angenommen. Obwohl selbst Psychologin, spielt sie ihre Krankheit runter.
Sie habe, meint sie, manchmal leichte Depressionen, von ihren manischen
Phasen will sie nichts wissen. Wenn ich versuchte, mit ihr darüber zu
reden, begann sie sofort zu weinen, zu schreien und brach das Gespräch ab.
Ich weiß, ein Drittel aller Betroffenen nimmt sich früher oder später das
Leben. Meist beim Übergang zwischen zwei Episoden: Dann treffen die
selbstzerstörerischen Gedanken der Depression auf die überhöhte Energie
einer Manie.
## Die Mutter fragt: „Was verschafft mir die Ehre?“
Sofort nach meinem Anruf fahre ich zu ihr, klingele, nein, drücke mit aller
Macht auf die Klingeln. Sie öffnet nicht. Ein Nachbar lässt mich ins Haus.
Ihr Briefkasten quillt über, ihre Briefe, fast alle von Ämtern, verteilen
sich auf dem Boden im Hausflur. Ich klopfe an ihre Tür. Meine Mutter guckt
durch den Türspalt, macht vorsichtig auf, fragt: „Was verschafft mir die
Ehre?“ Sie ist abgemagert, trägt zwei Hüte übereinander, in ihrer Wohnung
türmt sich Müll. „Ich wollte nur nach dem Rechten sehen“, sage ich. Sie
lacht übertrieben, sagt: „Mir geht’s blendend. Ich räum hier um.“ Und i…
„Dann ist ja alles in Ordnung!“ Noch im Türrahmen stehend mache ich kehrt.
Aber ich schaffe es nicht zu gehen, setze mich ins Treppenhaus, starre die
Wände an. Ich bin 32 Jahre alt, habe eine zweijährige Tochter und keine
Kraft mehr, meine Mutter daran zu hindern, ihr Leben wegzuwerfen. Durch
meine ständige Alarmbereitschaft bin ich so gestresst, dass ich immer
wieder die Nerven verliere. Jetzt, im Hausflur sitzend, bin ich traurig,
aber zum ersten Mal spüre ich auch Wut. Wut, dass sie mir nie eine Mutter
war. Wut, dass ich kein ruhiges Leben haben werde, solange sie lebt.
Bis zu vier Millionen Kinder in Deutschland wachsen bei psychisch kranken
Eltern auf. Ich bin eines. Die Krankheit meiner Mutter brach aus, als ich
fünf Jahre alt war. Meine Mutter, so erzählt es mein Vater, schrieb damals
ihre Diplomarbeit, organisierte nebenbei einen Streik an der Universität,
gründete auf dem Unigelände einen Notkindergarten, nahm mich mit in die
Seminare und behielt mich auch über Nacht dort. Mein Vater sagt, er wurde
immer besorgter wegen ihrer abwegigen Ideen, ihrer Gedankensprünge, ihres
aggressiven Gebarens. Meine Eltern hatten sich getrennt, als ich drei Jahre
alt war, lebten aber meinetwegen weiter zusammen. Sie stritten ständig.
Kurz vor meinem sechsten Geburtstag fuhr meine Mutter Hals über Kopf nach
Portugal. Ein Dreivierteljahr blieb sie dort. Danach zog sie in ihr
Heimatdorf. Mich ließ sie bei meinem Vater. Als ich eines Abends am Telefon
zu weinen begann, weil mein Vater sagte, dass ich nun auflegen müsse, um
meine Hausaufgaben zu machen, wurde sie wütend, verlangte nach ihm und
schrie in den Hörer: „So geht das nicht! Sie kann nicht länger bei dir
bleiben. Sie braucht mich.“ Am nächsten Tag stand sie mit ihrer roten Ente
vor meiner Schule, sagte: „Steig ein, wir fahren in Urlaub.“
Aus dem Urlaub wurden zwei Jahre. Meine Mutter hatte mich hinter dem Rücken
meines Vaters von meiner Schule ab- und an der Dorfschule in ihrer Heimat
angemeldet: 800 Kilometer von meinem Vater und meinem gewohnten Umfeld in
der Stadt.
## Der Vater hält sich zurück
Meine Eltern waren nicht verheiratet, nur meine Mutter hatte das
Sorgerecht. Mein Vater hatte Angst vor einer Kurzsschlussreaktion bei
meiner Mutter, falls er gerichtlich gegen sie vorging, und fürchtete,
während eines Rechtsstreits käme ich nicht gleich zu ihm, sondern zunächst
in ein Heim. Er vereinbarte mit dem Jugendamt, erst mal abzuwarten, und
ließ sich von einer Nachbarin im Dorf meiner Mutter über mein Befinden auf
dem Laufenden halten.
Meine Mutter hatte von ihrem Vater ein Haus überlassen bekommen, in dem wir
zu zweit lebten. Wir malten und musizierten auf dem Dachboden, lasen und
bastelten im Wohnzimmer, bauten Hütten im Wald. Das alles weiß ich anhand
von Fotos. Ich habe das meiste aus dieser Zeit vergessen, verdrängt.
Zumindest nach außen hin fand ich mich in mein neues Leben ein: In meinen
Briefen an meine Freundin schwärmte ich von der Schäferhündin der
Nachbarin, in meinem Zeugnis der zweiten Klasse steht: „Sie ist aufgeweckt
und hat sich gut integriert.“
Meine Klassenkameraden jedoch lebten im Nachbardorf, die zwei anderen
Kinder in unserem Ort durften nicht mit mir spielen. Ihre Eltern sagten mir
ins Gesicht: „Weil deine Mutter nicht richtig tickt.“ Ich zog mich zurück.
Die Schäferhündin wurde meine Verbündete, meine Oma, die Mutter meines
Vaters, die mich oft besuchte und in den Ferien zu sich holte, meine engste
Vertraute.
Menschen, die komisch über meine Mutter redeten, mied ich. Obwohl ich auch
nicht verstand, warum sie manchmal wie versteinert dasaß oder plötzlich
euphorisch auf Fremde einredete und mit mir in die Disco ging, war sie für
mich doch einfach: meine Mama. Als ich mit neun Jahren immer wieder darum
bat, zurück in die Stadt zu meinem Vater und meinen Freunden ziehen zu
dürfen, ließ sie mich gehen.
## Endlich eine Diagnose: manische Depression
Erst mit 22 erfuhr ich, was mit meiner Mutter los ist. Ich studierte im
Ausland, als sie mich in der Nacht anrief. Sie erzählte, dass sie nach
einem Streit von Fremden in die Psychiatrie eingewiesen worden sei, und
flehte mich an, dem Arzt zu sagen, dass er sie gehen lassen müsse, weil ihr
nichts fehle. Der Arzt aber meinte: „Sie hat eine bipolare Störung,
allgemein auch als manische Depression bekannt.“ Was er mir damals über die
extremen Schwankungen ihrer Stimmung, ihres Antriebs und ihrer Aktivität
erklärte, deckte sich mit meinem Erleben. Endlich hatte ich für die
exzessartigen und deprimierten Phasen meiner Mutter einen Namen.
Ich recherchierte Behandlungsformen, las, dass eine Therapie nur Erfolg
hat, wenn die Betroffenen krankheitseinsichtig sind, und erreichte durch
weitere Telefonate, dass meine Mutter entlassen wurde, weil sie keine
konkrete Gefahr für sich oder andere darstellte. Die Behandlung blieb
ohnehin wirkungslos. Wie meine Mutter mir stolz erzählte, spuckte sie alle
verabreichten Medikamente unbemerkt aus. Jahrelang hoffte ich dennoch, sie
könne geheilt werden, und übernahm die Mutterrolle für sie.
Auf den Stufen sitzend realisiere ich, dass ich es nicht länger kann.
Andere sollen die Verantwortung tragen. Noch vor ihrem Haus rufe ich den
Sozialpsychiatrischen Dienst an. Ein Psychiater tippt ihren Namen in den PC
und sagt: „Ihre Mutter ist uns seit 2009 bekannt. Damals schalteten die
Nachbarn uns ein.“ Davon wusste ich nichts. „Und Sie haben Ihre Mutter
dennoch die ganze Zeit über aufgefangen?“, fragt der Psychiater. „Das ist
selten. Die meisten betroffenen Kinder ziehen sich zurück.“ Ich breche in
Tränen aus – aus Erleichterung, dass es jemanden gibt, der mein Problem mit
meiner Mutter versteht, und aus Wut auf mich, dass ich nicht früher
versucht habe, Hilfe einzufordern. Es wäre mir wie Verrat vorgekommen.
Psychiater sind für meine Mutter ein rotes Tuch: Die Mutter meiner Mutter
war über zehn Jahre wegen manischer Depression in der Psychiatrie. Wenn sie
an ihre Kindheit denke, erzählte mir meine Mutter während einer nächtlichen
Autofahrt, als ich acht Jahre alt war, sehe sie ihre Mutter in der
Gummizelle vor sich: zugedröhnt in einer Zwangsjacke. In den seltenen
Momenten, in denen ihre Mutter zu Hause war, konnte sie sie nicht
wiedererkennen – sie war aufgedunsen und außerstande, auch nur den Abwasch
zu machen. Ich war übermüdet und konnte nicht ganz folgen, musste aber
weinen, weil meine Mama weinte.
Die Mutter meiner Mutter erhängte sich in der Scheune
Als Kind war das mit der Mutter meiner Mutter nur eine Geschichte für mich:
Ich habe ihre Mutter nie kennengelernt. Als meine Mutter 16 Jahre alt war,
fand sie sie in der Scheune – an einem Strick. Meine Tante erzählte mir
später, dass meine Großmutter mehrfach versucht hatte, ihrem Leben ein Ende
zu setzen. Meine Mutter gibt der psychiatrischen Behandlung die Schuld an
dem Suizid: In den 60er Jahren sei noch mit Elektroschocks ohne
Einwilligung der Patienten gearbeitet worden.
Dass sich die Behandlungsmethoden seitdem verändert haben, will meine
Mutter nicht hören. Dass ich immer wieder befürchte, sie auch eines Tages
tot aufzufinden, nimmt sie nicht ernst: „Ich würde dir das nie antun. Ich
bin doch nicht meine Mutter.“ In ihren depressiven Phasen aber äußerte sie
wiederholt den Wunsch, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen.
Nach dem Anruf beim Sozialpsychiatrischen Dienst gehe ich wie paralysiert
zur U-Bahn. Was der Psychiater gesagt hat, hallt in mir nach: „Andere
Kinder wenden sich ab.“ Und ich, denke ich entsetzt, habe an ein Wunder
geglaubt. Mehr als drei Jahre hatte meine Mutter keine Krankheitsanzeichen:
Sie war ruhig, reflektiert, drehte sich nicht nur um sich. Dass ihre
Grundstimmung getrübt war, sah ich als Zeichen von Klarheit. Sie hatte
schließlich auch wenig Anlass, fröhlich zu sein: Sie war 60, bezog
Sozialhilfe, lebte in einem tristen Sozialbau, hatte keine Freunde und nur
noch die Hälfte der Zähne. Auf dem Arbeitsmarkt hatte sie keine Chance, mit
ihren Geschwistern keinen Kontakt.
Während die Treffen und Telefonate mit ihr in den Jahren zuvor meist
deprimierend waren und eine einfache Nachfrage nach ihrem Befinden oft
reichte, mir die Stimmung zu verderben, begannen unsere Begegnungen in
dieser Zeit sogar Spaß zu machen. Ich erlebte meine Mutter als die
kompetente Frau, die ich nur aus Erzählungen kannte: Sie kam mit selbst
gebackenem Kuchen, half beim Anschließen meiner Waschmaschine, brachte mir
Nähen bei. Obwohl ich wusste, dass ihre Krankheit als unheilbar gilt,
begann ich nach einem Jahr anzunehmen, sie sei überstanden – für uns beide.
Während ich mich davor oft fremdbestimmt gefühlt hatte, war ich nun
überzeugt, mein Leben im Griff zu haben.
Dann wurde ich ungeplant schwanger. Ich wollte nie ein Kind. Ich hatte
Angst, eines Tages selber psychisch krank zu werden und einem Kind zur Last
zu fallen wie meine Großmutter meiner Mutter und meine Mutter mir. Die
bipolare Störung ist zwar keine Erbkrankheit im engeren Sinne, doch
Familien- und Adoptionsstudien zeigen, dass es bei direkten Verwandten ein
erhöhten Risiko gibt. Ob die Krankheit ausbricht, liegt nach jetzigem Stand
der Forschung an Umweltfaktoren.
Als ich begriff, ich bin schwanger, hatte ich nur noch wenige Tage, über
einen Abbruch nachzudenken. Ich sagte mir, dass die Wahrscheinlichkeit,
selbst zu erkranken, mit 30 Jahren nicht mehr so hoch sei, die Störung nach
all meinen traumatischen Erlebnissen längst ausgelöst worden wäre, und
entschied mich, das Kind zu bekommen.
Nach der Geburt meiner Tochter bekam auch meine Mutter neuen Lebensmut: Sie
kümmerte sich um ihre Wohnung und ihr Gebiss und war für mich und meine
Tochter da. Sie kaufte für uns ein, kochte, putzte. Sie war so fürsorglich,
dass mein Freund und ich ihr unsere Tochter bedenkenlos anvertrauten. „Die
Kleine ist das Beste, was mir passieren konnte. Durch sie habe ich noch
einmal eine Aufgabe“, sagte sie.
Als meine Tochter sprechen lernte, las sie ihr vor, als sie Laufen lernte,
wurde sie nicht müde, sie an den Händen zu führen. Wenn sie kam, waren alle
anderen abgeschrieben: „Oma!“, rief meine Tochter, bevor sie Papa und Opa
sagte. Für meine Tochter waren meine Eltern Oma und Opa, ganz so, als
hätten sie sich nie getrennt. Mit meiner Tochter erlebte ich meine Eltern
als die Familie, die ich als Kind gern gehabt hätte.
Mein Vater und ich konnten mit meiner Mutter sogar über die Vergangenheit
sprechen. Sie erinnerte sich nur an wenig, glaubte uns aber, wenn wir von
ihren manischen Phasen erzählten, und reagierte betroffen. „Ich habe 25
Jahre meines Lebens verpasst“, sagte sie einmal, „und war für dich keine
richtige Mutter.“
Verschiedene Studien zeigen, dass in den Industrieländern drei bis vier
Prozent der Bevölkerung eine bipolare Störung haben. Eine prophylaktische
Behandlung, etwa mit Lithium, kann die Manien und Depressionen so
eindämmen, dass Betroffene ihrem Alltag nachgehen können. Ohne Therapie
sind die einzelnen Episoden ausgeprägter und länger.
Im Dezember kurz vor dem zweiten Geburtstag meiner Tochter nahm ich am
Telefon eine Stimmungsänderung bei meiner Mutter wahr: Sie klang
aufgekratzt. Darauf angesprochen, sagte sie: „Mir geht’s endlich wieder
richtig gut.“ Meine Mutter war in eine Manie gerutscht. Sie kam Stunden
verspätet, brachte meiner Tochter einen Haufen Müll, trug schrille Kleider,
sprach hastig und zusammenhangslos.
Die Mutter rutscht wieder in eine Manie
Sie wieder so wirr zu erleben war unerträglich. Als sie die Bilderbücher
meiner Tochter anmalte, hielt ich es nicht länger aus. Während ich zuvor
nie gewagt hatte, ihre Krankheit zu benennen, sagte ich meiner Mutter nun,
dass sie sich manisch verhalte. Sie schrie: „Du spinnst. Das sind deine
Unfälle. Du bist als Kind ja ein paar Mal auf den Kopf gefallen.“
Ich verlor die Beherrschung, zog sie aus der Wohnung, sagte, ich wolle sie
erst wiedersehen, wenn sie bei Sinnen sei. Meine Tochter begann zu weinen:
„Was ist mit Oma?“ Ich musste mich zusammenreißen, nicht vor ihr in Tränen
auszubrechen.
In den folgenden Wochen meldete ich mich nicht bei meiner Mutter und
ignorierte ihre kryptischen SMS. Dann fiel mir ein, dass der
Weiterbewilligungsantrag für ihre Sozialhilfe fällig war. Ich rief sie an.
Sie erzählte von einem Pur-Konzert in Hannover, zu dem sie mit neuen
Bekannten getrampt sei. Nach meinem Befinden fragte sie nicht. Zu dem
Antrag sagte sie nur: „Mache ich schon“, und fragte dann: „Wann sehe ich
meine Enkelin?“
Ich erklärte ihr, dass ich nicht wolle, dass meine Tochter sie in ihrer
Manie erlebe, dass ich aber für sie da wäre, wenn sie Unterstützung
wünsche. Sie fiel mir ins Wort: „Ich brauch keine Hilfe. Ich bin glücklich.
Wenn du mir das nicht gönnst, bitte. Leb dein Leben und halt dich aus
meinem raus.“ Nach kurzer Pause fügte sie scharf hinzu: „Du bist nicht
meine Mutter. Ich bin deine Mutter und lebe so, wie ich will. Kümmere du
dich um deine Dinge!“
## Eine Zwangseinweisung bringt die Tochter nicht übers Herz
Nach dem Telefonat mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst bin ich erst einmal
erleichtert. Der Psychiater informiert mich über sämtliche Entwicklungen:
Meine Mutter kam zu zwei Terminen und begann bei ihm, ihren
Weiterbewilligungsantrag auszufüllen. Plötzlich aber brach sie den Kontakt
wieder ab: „Sie will alleine zurechtkommen“, erklärt der Psychiater und
meint: „Der Sozialpsychiatrische Dienst kann nichts weiter für sie tun.“ Er
legt mir nahe, über eine Zwangseinweisung nachzudenken oder den Fall an das
Betreuungsgericht zu geben.
Die Zeit drängt: Ihre Miete wurde nun bereits zwei Monaten nicht gezahlt.
Eine Zwangseinweisung bringe ich nicht übers Herz. Ich recherchiere
Betreuung und erfahre, dass 1992 in Deutschland anstelle einer Entmündigung
eine rechtliche Betreuung eingeführt wurde, die von einem Gericht
angeordnet und im Einjahresrhythmus überprüft wird. Ziel der Reform
„Betreuung statt Entmündigung“. Die bestellten Betreuer erhalten eine
Vertretungsvollmacht nach außen, sind aber per Gesetz zur Beachtung des
Willens der Betreuten verpflichtet.
Ich weiß, dass meine Mutter wegen der Entmündigung ihrer Mutter sehr
empfindlich ist, stelle mir aber vor, dass eine Berufsbetreuerin ihr mit
den Formularen helfen und sie eher als ich motivieren könnte, sich
behandeln zu lassen. Mein Vater unterstützt den Antrag. Er bringt mir alte
Tagebücher und Aufzeichnungen, auf denen er in den 90er Jahren Vorkommnisse
mit meiner Mutter notierte, um dem Jugendamt gegenüber Auskunft erteilen zu
können.
Beim Lesen kommen Erinnerungen hoch. Ich sehe mich als Achtjährige eines
Morgens aufwachen und meine Mama ist verschwunden. Während meiner Radfahrt
zur Schule bin ich so in Gedanken, dass ich ausrutschte und mir das
Schlüsselbein breche. Die Bauern, die mich finden, können niemanden
erreichen. Ich werde allein in eine Klinik gebracht. Meine Mama taucht erst
zwei Tage später wieder auf: Sie war mit ihrem neuen Freund verreist.
Auch ein Brief, den meine Mutter mir zum sechsten Geburtstag geschickt hat,
ist unter den Erinnerungsstücken. Sie schrieb mir von ihren Geldsorgen,
malte sich aber aus, wie ich zu ihr fliegen könnte, und endete: „Mir ergeht
es in Portugal sehr gut, zwischendurch auch nicht, dann denke ich nach,
auch über Fehler von mir – doch die mussten eben sein, sorry!“
So klar wie nie erkenne ich, dass das, was ich seit meinem sechsten
Lebensjahr mit meiner Mutter erlebte, psychischer Missbrauch war. Am
liebsten würde ich sie sofort damit konfrontieren. Stattdessen rufe ich
meinen Vater an und frage aufgebracht, warum er nach meiner Entführung
nicht mehr unternommen hat. Er beginnt zu weinen, sagt: „Das frage ich mich
selbst oft und mache mir große Vorwürfe.“ Augenblicklich empfinde ich
Mitgefühl. Nach dem Gespräch mit ihm denke ich an meine mittlerweile
verstorbene Oma, die Mutter meines Vaters, die mich in meiner Kindheit
gerettet hat: Sie war meine Stütze.
Während der Psychiater Kontakt mit dem Sozialamt aufnimmt, schreibe ich dem
Betreuungsgericht: „Meine Mutter war in den vergangenen 25 Jahren immer auf
andere angewiesen. Mein Vater hat oft Rechnungen für sie bezahlt, weil sie
ihr eigenes Geld zum Fenster rausschmiss. Als sie wegen einer unbezahlten
Geldstrafe im Gefängnis saß, habe ich die Summe aufgetrieben und ihr
anschließend geholfen, die Wohnung zu finden, in der sie nun lebt. Nun aber
sehe ich mich außerstande, meine Mutter weiter vor sich selbst zu
beschützen, und bitte dringend, ihr schnellstmöglich jemanden zur Seite zu
stellen, der sie in ihren Belangen unterstützt und ihre Verfassung im Blick
behält.“ Ich beende mein Schreiben mit dem Appell: „Lassen Sie sich nicht
von der Eloquenz meiner Mutter täuschen. Es gelingt ihr auch in der
schlimmsten Manie, eine Fassade aufrechtzuerhalten.“
Das Gericht bestellt eine Betreuerin
Wochen vergehen. Da meine Mutter auf die Briefe des Gerichts nicht
reagiert, sucht der bestellte Gutachter sie in der Wohnung auf. In seinem
Bericht steht, er habe sie in einem psychotischen Wahnzustand angetroffen.
Das Gericht bestellt eine Betreuerin. Meine Mutter legt Widerspruch ein.
Dann erfährt sie, dass ich den Betreuungsantrag gestellt habe. Sie ruft
mich an, spricht auf die Mailbox: Sie will mich treffen, mit mir reden. Sie
sagt, dass sie sich um ihre Sozialhilfe gekümmert habe, und möchte, dass
ich den Antrag zurückziehe.
Seit Wochen denke ich viel über meine Beziehung zu ihr nach, habe
Schlafstörungen und große Mühe, die Trotzphase meiner Tochter gelassen zu
nehmen. Früher habe ich bei Stress zwei Schachteln Zigaretten geraucht, nun
stopfe ich Schokolade in mich hinein. Die Vorstellung einer Begegnung mit
meiner Mutter löst bei mir Herzrasen aus.
Zum Treffen nehme ich meinen Vater mit. Meine Mutter ist ordentlich
gekleidet, guter Dinge und freut sich, uns zu sehen. Sie überredet uns, in
ein Café zu gehen. Als ich das Gespräch sofort auf die Chancen einer
Betreuung bringe, schneidet sie mir das Wort ab, referiert über freien
Willen und endet mit den Worten: „Du siehst doch, dass ich zurechtkomme.
Wenn du deine Verleumdung nicht zurücknimmst, verüble ich dir das für
immer.“
Ich weiß nicht weiter. Jahrelang habe ich immer wieder überlegt, ob es
nicht unterlassene Hilfeleistung ist, niemanden über ihren Zustand zu
informieren. Jetzt befürchte ich, dass eine eingesetzte Betreuungsperson
keine Chance hätte, etwas für sie zu tun. Weil meine Mutter sie nicht
lassen würde. Ich weiß plötzlich selbst nicht mehr, ob der Antrag richtig
war. Muss ich meine Mutter ernst nehmen, wenn sie von ihrem freien Willen
redet?
## Die Mutter will keinen Kontakt mehr
Meine Mutter hat das Gespräch damit beendet, dass sie keinen Kontakt mehr
wünsche. Noch größer als die Enttäuschung ist bei mir die wieder
aufsteigende Angst, einmal so zu enden wie sie: Noch am selben Abend bitte
ich meinen Freund, mich bei den leisesten Anzeichen auf eine Manie sofort
in Behandlung zu bringen, zur Not gegen meinen Willen. Unserer Tochter
zuliebe.
Am liebsten würde ich meine Mutter nie wiedersehen. Meine Tochter aber
erkundigt sich täglich nach ihr. Ich antworte jedes Mal: „Du siehst deine
Oma bald“, und hoffe, dass sie aufhört, nach ihr zu fragen.
Monate später erhalte ich ein Schreiben vom Betreuungsgericht: Das
Verfahren wurde nach der persönlichen Anhörung meiner Mutter eingestellt.
Wenige Tage später ruft sie an und sagt, dass sie mich einladen wolle, sie
habe einen Kuchen gebacken. Als ich nicht reagiere, sagt sie: „Ja, hast du
denn den Brief vom Gericht nicht bekommen? Da steht schwarz auf weiß, dass
ich mich selbst um mich kümmern kann. Vielleicht glaubst du es endlich und
wir können das alles hinter uns lassen: Ich verzeihe dir. Du bist und
bleibst meine Tochter.“
29 Jun 2017
## AUTOREN
Alina Lanisch
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