# taz.de -- Ex-tazlerin über selbstbestimmtes Sterben: „Ich glaube an meinen… | |
> Sigrid Bellack, Ex-tazlerin und passionierte Wanderin, hat Multiple | |
> Sklerose. Sie hatte ein erfülltes Leben und will nun ein selbstbestimmtes | |
> Ende. | |
Bild: Sigrid Bellack, 2014 im Oderbruch | |
taz: Sigrid, es gibt in diesem Zimmer sehr viele Rottöne. Hast du eine | |
besondere Beziehung zu dieser Farbe? | |
Sigrid Bellack: Neulich sagte ein Pfleger zu mir: Gott sei Dank, bei Ihnen | |
kann ich Rot anziehen. Es gibt Leute, die erinnert Rot an Schmerz. Mich | |
erinnert das ans Leben. Die Decke hier habe ich in meiner Hütte in Portugal | |
aus 36 verschiedenen roten Stoffresten gewebt. | |
Du hast über 20 Jahre in Hütten gewohnt. Nicht durchgängig, aber mehrere | |
Monate im Jahr. Wie muss man sich das vorstellen? | |
Das waren selbst gebaute Hütten aus recycelten Materialien. Die Bedingungen | |
waren denkbar einfach. Ich habe nie viel zum Leben gebraucht. Frei sein und | |
draußen, das war für mich immer das Wichtigste. | |
Du hattest drei Hütten. Wo befanden die sich? | |
Die Hütte in Portugal war direkt am Atlantik. Den 60 Kilometer langen | |
Strand vor meiner Haustür hatte ich praktisch für mich allein. Meistens war | |
ich in den Wintermonaten dort. Die Sommer habe ich in meiner Hütte im | |
Oderbruch verbracht. Und zwischendrin, wenn ich in Berlin Geld verdienen | |
musste, habe ich in einer Hütte in der Laubenkolonie in der Lehrter Straße | |
am Hauptbahnhof gewohnt. | |
Arbeit war für dich nur Mittel zum Zweck, um deinen Lebensunterhalt zu | |
verdienen? | |
Nein. Eigentlich habe ich gern gearbeitet. Beim Tagesspiegel war ich bis | |
Juli freiberufliche Korrektorin. Früher war ich auch mal bei der taz. | |
Das war Anfang der 90er Jahre. | |
Ich hatte eine halbe Stelle als Setzerin. Nebenher habe ich in der | |
Auslandsredaktion Vertretung gemacht. Das war anstrengend. Wir waren immer | |
zu wenig Personal. Alle haben bis in die Nacht hinein gearbeitet. Das war | |
die Zeit, in der ich anfing, zu Fuß zu gehen. Ich bin jeden Tag zur Arbeit | |
gelaufen, um wenigstens eine Stunde am Tag für mich zu haben. | |
Der taz ging es damals sehr schlecht. Eine Rettungskampagne jagte die | |
nächste. | |
Für mich war das die Zäsur. Viele wurden entlassen, ich bin freiwillig | |
gegangen. Fast zeitgleich ging das dann mit der Hütte im Oderbruch los. | |
Warum gerade das Oderbruch? | |
Da bin ich geboren. Mein Großvater war dort Förster. Ihm verdanke ich die | |
Liebe zum Wald. Kurz vor dem Mauerbau waren meine Eltern 1961 mit meiner | |
Schwester und mir in den Westen geflohen. Das Oderbruch hat meinen Vater | |
aber nie losgelassen. Nach der Wende haben wir einen Bauwagen am Waldrand | |
aufgestellt. Den haben wir dann zu einer Hütte umgebaut. | |
In deinem Tagebuch zitierst du den 1817 geborenen Schriftsteller Henry | |
David Thoreau. Was verbindest du mit ihm? | |
Ich habe immer salopp gesagt: Wo andere eine Religion haben, habe ich | |
Thoreau. Sein philosophisches Buch über die Natur, „Walden or Life in the | |
Woods“, habe ich in den frühen 80ern gelesen und später noch mal. | |
Thoreau hat viele Aussteiger inspiriert. Würdest du dich als Aussteigerin | |
bezeichnen? | |
Nein. Mein Rückzug in die Natur war keine Weltenflucht. Ich war politisch | |
immer sehr engagiert. In den 70er Jahren habe ich in Moabit die | |
Bürgerinitiative Essener Park mitbegründet. Wir haben uns für den Erhalt | |
der begrünten Innenhöfe eingesetzt. Im Oderbruch haben wir Ende der 90er | |
Jahre gegen die Abholzung der alten Alleebäume gekämpft. Von 1987 bis 1989 | |
war ich auch Bezirksverordnete in Tiergarten. | |
Für welche Partei? | |
Für die Alternative Liste (AL). Das war die Vorläuferin der Grünen. Die AL | |
hatte nicht genug Leute, die sie aufstellen konnte. Wir haben in Tiergarten | |
dann über 25 Prozent bekommen. Das ging alles auf Kosten der SPD. | |
Deine Zeit im Bezirksparlament endete mit einem Skandal. Was ist passiert? | |
Die CDU und SPD waren ein Block. Die haben uns ausgebremst, wo sie konnten. | |
Irgendwann, als wir in der BVV wieder mal nicht zu Wort kommen sollten, hat | |
einer von uns eine Torte auf den SPD-Fraktionschef geschmissen. Und ich | |
habe mich umgedreht, meine Hose runtergezogen und ihm meinen nackten | |
Hintern gezeigt. Das habe ich dann im Studium in meinem Nebenfach | |
Psychologie verwertet: „Bedeutungswandel in der Symbolik des | |
Hinternzeigens“, hieß meine Abschlussarbeit. Sie hat mir eine Eins | |
eingebracht (lacht). | |
In deinem Tagebuch zitierst du Thoreau: „Um nicht, wenn es ans Sterben | |
geht, die Entdeckung machen zu müssen, nicht gelebt zu haben.“ Wusstest du | |
da schon, dass du krank bist? | |
Nein. Mir gefiel der Satz. Aber jetzt, wo sich zeigt, dass es bei mir ans | |
Sterben geht, wird er um so richtiger. Ich muss mir keine Vorwürfe machen, | |
dass ich nicht gelebt habe. | |
Du hast Multiple Sklerose. Wie ging das los? | |
Anfang der 90er Jahre fing es mit einer leichten Taubheit in den Händen an. | |
Aber es war noch nicht beeinträchtigend, etwa beim Nähen und Aquarellbilder | |
malen. Ende der 90er war ich im Krankenhaus, weil mir das allmählich | |
komisch vorkam. Die Diagnose Multiple Sklerose wurde aber erst 2007 | |
gestellt. Ich bin der Überzeugung, dass meine vielen Zeckenbisse die | |
Krankheit mit ausgelöst haben. | |
Trotzdem hast du bis 2012 weiter in den Hütten gelebt? | |
Ja. Ich habe den Ausgang ja nicht abgesehen. Ich wusste nicht, dass ich | |
hier liegend im Bett enden werde. Das Taubheitsgefühl in den Händen und | |
Füßen wurde immer größer, aber es ging ja immer noch was. Vor allen Dingen | |
hatte ich Freude an dem was ich weiter getan habe. | |
Wie sah das aus? | |
In Portugal habe ich Wanderungen geführt. Braungebrannt, mit Lust an der | |
Landschaft, am Wetter, an den blühenden Dünen bin ich voran. Die Dünen | |
blühen dort ja noch im November. Ich war die ausdauerndste Wanderin von | |
allen. Meine Teilnehmer klagten immer über zu weite Strecken. | |
Überkommt dich Sehnsucht, wenn du das erzählst? | |
Nein. Höchstens eine Melancholie, wenn ich im Fernsehen Bilder aus Portugal | |
sehe. Oder aus dem Oderbruch. Dann weine ich ein bisschen … | |
… so wie jetzt. | |
Nicht so sehr aus Trauer, sondern aus Dankbarkeit, dass ich dieses Leben | |
hatte. Andere hatten das selten. Selbst Leute, die da gelebt haben, waren | |
nicht so viel draußen wie ich. Was ich für seltene Tierarten gesehen habe! | |
In deinem Tagebuch taucht oft ein Name auf: Adelino. Wer ist das? | |
Adelino ist ein portugiesischer Bauer. An die 20 Jahre hatten wir ein | |
Liebesverhältnis – immer wenn ich in Portugal war. Er hatte grüne Augen und | |
war ein großer Charmeur. Als es anfing, war ich Ende 30, er war fast 60 und | |
verheiratet. In einer normalen Ehe ist in dem Alter ja nicht mehr so viel | |
Feuer, sexuell meine ich. Er war ein extrem lebendiger, wunderbarer Mensch | |
und ein begnadeter Erzähler. Ja, es ging schon auch um die Sexualität. | |
Er lebte mit seiner Familie in einem Dorf nahe dem Strand, wo du wohntest. | |
Gab es da kein Gerede? | |
Ja und nein. Dadurch, dass er ein beliebter Mann war, war das nicht so | |
tragisch. Gut, seine Frau war jetzt nicht meine beste Freundin. Aber am | |
Schluss, als es für ihn ans Sterben ging, hat sie die Größe besessen, mich | |
aufs Grundstück zu lassen, damit ich ihn besuchen konnte. | |
Wie alt ist Adelino geworden? | |
76. Ihm sind viele Jahre Extraglück beschert worden. So würde ich das | |
interpretieren. | |
Hast du von Orten bewusst Abschied genommen? | |
Das gab es schon. Da fällt mir eine lustige Situation ein (lacht). Das war | |
vor circa zwei Jahren bei einer meiner letzten Reisen ins Oderbruch. | |
Erzähle bitte. | |
Ich fahre mit meinem Rollstuhl auf dem Deich an der Oder entlang und muss | |
pinkeln. Ich stehe auf, mache meinen elektrischen Rollstuhl aber | |
dummerweise nicht aus. Und da fährt das depperte Ding einfach den Hang | |
runter. Dann bin ich natürlich hingefallen. Und dann lieg ich da wie die | |
Fliege in der Buttermilch auf dem Bauch und komme nicht mehr hoch. Zum | |
Glück kam ein Skater von der einen Seite und ein Radfahrer von der anderen. | |
Die haben mich auf die Beine gestellt und den Rollstuhl geholt. Ich hab | |
mich reingesetzt und weiter ging’s. Solche Erlebnisse hatte ich öfter. Zu | |
dem Zeitpunkt habe ich mir überhaupt keine Gedanken gemacht, was passiert, | |
wenn keiner kommt. Wird schon klappen, war ich mir sicher. | |
Aber jetzt hat dich die Zuversicht verlassen? | |
Ja. Ich habe keine Lust mehr. Am 25. Juli haben meine Beine zweimal am | |
selben Tag versagt. In Sekundenbruchteilen sind sie mir weggeklappt. So war | |
das in den letzten Jahren oft: Irgendwann konnte ich nicht mehr | |
Fahrradfahren. Irgendwann nicht mehr Tanzen. Irgendwann nicht mehr Boot | |
fahren, irgendwann nicht mehr das und nicht mehr das … In meinem Apartment | |
ging es noch eigenständig, solange ich allein in den Rollstuhl kam. Das | |
geht nun auch nicht mehr. Mein Leben wird kleiner und kleiner. Bereits im | |
Januar hatte ich deswegen beschlossen, dass ich den nächsten Winter nicht | |
mehr erleben will. Ich werde das nun auf den Herbst vorziehen. | |
Was hast du vor? | |
Ich werde aufhören zu essen und zu trinken. Es hat gedauert, bis meine | |
Familie und Freunde das ernst genommen haben. Aber jetzt sind sie alle so | |
weit. Meine 84-jährige Mutter hat für mich völlig überraschend den | |
dringenden Wunsch geäußert, bei mir sein zu wollen (weint). Wenn ich das | |
erzähle, muss ich immer weinen. Vor Rührung. (Pause) Das tröstet mich so | |
sehr. Denn das habe ich mir insgeheim gewünscht. | |
So ein Sterbeprozess, wenn man nichts isst und trinkt, kann mehr als zehn | |
Tage dauern. | |
Wie das in letzter Konsequenz sein wird, weiß ich natürlich nicht. Ich habe | |
noch nie nicht getrunken. Aber ich habe viel darüber gelesen. Alles wird | |
gut organisiert sein. Es wird auch eine palliative Begleitung geben. | |
Hast du keine Angst? | |
Komischerweise nicht. Ich glaube an meinen Mut und an meine Stärke. Zu | |
meiner Mutter habe ich auch schon gesagt: Wenn es mir beim ersten Mal nicht | |
gelingt, mache ich es gleich noch mal. | |
Was geht in dir vor, wenn du an den Tod denkst? | |
Ich bin damit aufgewachsen, dass da nichts ist, was einen ängstigen kann. | |
Und ich habe nicht vor, in dieser Situation noch religiös zu werden. | |
Zweifelst du manchmal an deinem Entschluss? | |
Ich liege hier. Morgens und abends räumt man mir die Windel aus. | |
Zwischendrin gucke ich fern. Ich kann nicht mehr schreiben. Ich kann nicht | |
mehr lesen. Ich kann nicht mehr malen. Weben schon gar nicht. All das, was | |
mich ausmacht – nämlich kreativ zu sein – kann ich nicht mehr. Nein, ich | |
zweifele nicht! | |
Du hast einen großen Freundeskreis. | |
Meine Freunde und Verwandten kommen jetzt natürlich verstärkt. Aber wenn | |
sich das Ende noch Jahre hinziehen würde, oder nur Monate? Dann dünnt das | |
immer weiter aus. Das möchte ich nicht. Im Moment ist das ganz | |
unterhaltsam. Wir weinen auch alle ein bisschen zusammen. Aber ich bin fest | |
entschlossen. Alles, auch die Beerdigung, ist vorbereitet. Nichts ist mehr | |
offen. | |
Es gäbe andere Methoden, aus dem Leben zu scheiden. | |
Ich habe Leute gefragt, ob sie mir ein Barbiturat besorgen. In Deutschland | |
ist das verboten. Als klar war, es traut sich keiner, war mir klar, dass | |
ich es selber machen muss. | |
Zur Sterbehilfe in die Schweiz zu fahren ist keine Option? | |
Auch in der Schweiz ist das gar nicht so einfach. Selbst dort muss man | |
Gutachten von mindestens zwei Ärzten haben, soweit ich das verstanden habe. | |
Jetzt liege ich ja. Ich müsste eine weite Reise antreten, um in irgendeinem | |
kargen Zimmer den Todestrunk zu schlucken. Das erscheint mir inzwischen | |
vollkommen absurd. | |
Nicht auf Knopfdruck sterben wollen, Schluss aus, vorbei – ist es das? | |
Vielleicht. So werde ich vielleicht erleben, wie ich schwächer und | |
schwächer werde und langsam hinüberdämmere. Das Einzige, was ich zu sagen | |
hätte, zu unserem System: Es sollte möglich sein, auch auf eine etwas | |
leichtere Art zu gehen. | |
11 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Plutonia Plarre | |
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