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# taz.de -- Neuer Roman von Thomas Melle: Gegen die innere Leere
> Thomas Melles Roman „Das leichte Leben“ analysiert die narzisstische
> Medien- und Kulturszene. Dabei arbeitet er raffiniert mit Schockeffekten.
Bild: Keine Gesellschaftskritik im klassischen Sinn verübt Thomas Melle in sei…
Dieser Roman geht in die Vollen. Er gehört sicher zu den aufregendsten,
ambitioniertesten und literarisch bewusstesten der letzten Zeit. Aber
gleichzeitig geht er ein immenses Risiko ein: Er erreicht einen Punkt, an
dem die Realität extrem wird und wehtut, vor allem für die in ihren eigenen
Bezügen und Netzen lebenden Akteure der Medien- und Kulturszene.
Unlängst sah man ein Foto, auf dem sich die [1][ehemalige Intendantin des
RBB als eine Art Gangsterbraut] und Bildschirm-Vamp inszeniert, und genau
diese Sphäre hat [2][Thomas Melle] mit seinem Buch „Das leichte Leben“ im
Visier. Er geht aber noch weit darüber hinaus und schafft eine Art
Hyperrealität, er durchdringt das sich verselbstständigende und
leerlaufende Leben der happy few im urbanen Kreativmilieu und arbeitet mit
kalkulierten Schockeffekten.
Kathrin und Jan, beide etwa Mitte vierzig, sind seit Beginn der nuller
Jahre ein Paar. Und mehr noch: Sie waren, wie es heißt, damals in der Stadt
„das Paar der Stunde“, zogen durch die Clubs, putschten sich mit
verschiedensten Drogen auf und standen für Glamour. Jan machte als
Redakteur und Manager Karriere im größten kommerziellen Fernsehsender, und
Kathrin galt als eine herausragende Romanautorin.
Mit ihrem Debüt „Nesthäkchenkreuze“ hatte sie einen sensationellen Erfolg
und brachte das einflussreichste Nachrichtenmagazin zu hymnischen
boulevardesken Jubelschlenkern.
## Lebenskrise eines ehemaligen Szenepaars
Doch schon der Titel ihres Bestsellerromans lässt ahnen, dass der Autor
Thomas Melle da über mehrere Banden spielt, die in den letzten Jahren
grassierenden Debütantinnenromane solchen Typs karikiert er wie nebenbei.
Schon kurz danach, bei ihrem zweiten Roman, wird Kathrin ihr Starruhm zum
Verhängnis, man zahlt es ihr branchenüblich heim. Sie verschwindet in der
Versenkung, sattelt um auf Lehrerin und unterstützt erst mal als „echte,
liebende Ehefrau“ ihren Mann.
Jetzt, zwanzig Jahre später, befinden sich beide in einer Lebenskrise. Jan
ist stellvertretender Chefredakteur einer Boulevardsendung und wird, als
der Moderator kurzfristig ausfällt, von der Senderspitze selbst zum
Anchorman befördert – er ist damit eine öffentlich bekannte Figur, aber das
macht die Sache nicht besser.
Beide, Kathrin und Jan, spüren eine verheerende innere Leere. Immer noch
steht ihnen das „leichte Leben“ vor Augen, das sie in ihrer großen Zeit f�…
sich proklamierten, „nie sollte es schwer und spießig werden“, sie waren
ein Szenepaar, in „Strobolicht und Donnerbässen und Brutalobeats, im Strom
der immer gleichen und doch immer neuen Nacht“. Jetzt sind sie auf sich
selbst zurückgeworfen und können damit nicht umgehen.
Und damit kommt eine Ebene ins Spiel, mit der dieser Roman provoziert und
die gewohnten literarischen Übereinkünfte sprengt. Was bleibt, ist der
Körper. Und zwar nicht im Sex zwischen den Ehepartnern, der funktioniert
schon länger nicht mehr richtig. Kathrin sucht gleich zu Beginn des Romans
einen ultimativen Kick, sie geht zu einer Sexparty, bei der auf extrem
künstliche, hektische, abgespaltene Weise jeder über jeden maskiert
herfällt.
## Sexszenen aus einem zoologischen Blickwinkel
Es ist natürlich nicht die „entgrenzende Ekstase“, die sie sich versprochen
hat, und doch: das „Tiersein“, das „Dingsein“, das „Phantasma einer
restlosen Anonymität“ erregt sie. Sie weiß, es ist nur „ein langweiliger
Exzess der dekadenten Gentrifizierung“ in einer „schnöden, schönen
Eigentumswohnung“, es ist kaputt und irgendwie auch erbärmlich – aber genau
das scheint sie zu brauchen.
Sexszenen spielen in diesem Roman immer wieder eine Rolle, und es fällt
auf, wie Thomas Melle sie schreibt. Sie haben nichts Voyeuristisches oder
Pornografisches und schon gar nichts Moralisches, am ehesten künden sie von
einer Art interessiertem zoologischen Blick. Für Melles Figuren ist der Sex
das Einzige, was sie noch umtreibt.
Der Roman ist formal entsprechend konstruiert. Es sind kurze Abschnitte,
schnelle Schnitte, prägnante Szenen, wie in einer der gängigen
professionell stilisierten Fernsehserien. Und dazu passt auch der
krimiähnliche Nebenstrang, in dem Jan von seiner Erziehung in einem
katholischen Internat eingeholt wird: Ein pädophiler Pater hat damals
anzügliche Fotos seiner Zöglinge gemacht, und jemand erpresst den
Medienstar Jan nun damit.
Melles Roman hat mit einer Gesellschaftskritik im klassischen Sinn nicht
viel zu tun, aber er zeigt radikal und direkt, ohne jegliche Didaktik oder
Wertung, die Abgründe unter einer glitzernden Oberfläche.
## Vermeidung von Endzeitstimmung und Destruktion
Für Kathrin wird der jugendliche, rätselhafte und verführerische Freund
ihrer Tochter, Keanu, schließlich zur gefährlichsten Versuchung. Und es ist
frappierend, dass bei den stilistischen Gratwanderungen dieser Passagen
keine Klischees oder Kolportageelemente auftauchen. Melles meist einfache
und klare Sätze sind voller irisierender Effekte.
Kathrin wie Jan werden psychologisch durchaus differenziert gezeichnet, es
sind Leute, wie man sie auf Vernissagen oder Premierenpartys trifft und die
in ihrem Habitus und in ihrem Kommunikationsverhalten sofort dazugehören.
Doch unvermittelt steht nebeneinander, wie rational, sozial engagiert und
politisch wach Kathrin vor ihrer Schulklasse spricht, und wie sie sich
gleichzeitig der merkwürdigen erotischen Anziehung, die von dem schönen
Keanu ausgeht, nicht entziehen kann. Die Dialoge zwischen Jan und seinem
Schulfreund Malte in der Kneipe wirken echt und pointiert, auf cool gepolte
Männer, die versuchen, perfekt ihre Rolle zu spielen. Und wie Keanu bei
seinem ersten Sex mit einem gleichaltrigen Mädchen die Pornoszenen, die er
aus dem Internet kennt, in die Quere kommen – das ist glänzend inszeniert.
Irritierend ist bei alldem nur der Schluss. Die Talfahrt von Kathrin und
Jan wird in all ihren Windungen und Kurven hautnah vor Augen geführt, in
sorgsam ausbalancierten Sequenzen, mit analytischer Schärfe. Der Roman
steuert stimmig und mit vollem Elan auf eine Tabula rasa zu. Doch ein wie
auch immer ausgestattetes offenes Ende, wie es in der Luft läge, wollte der
Autor anscheinend vermeiden und vor allem wohl den Eindruck völliger
Endzeitstimmung und Destruktion.
Vielleicht hat es etwas mit der Plotlastigkeit zu tun, [3][die das Theater
weitaus mehr verlangt als ein Roman] – denselben Stoff hat Thomas Melle
auch schon als Theaterstück verarbeitet: Am Ende leuchtet in „Das leichte
Leben“ etwas auf, was mehr an Hollywood als an Berlin-Mitte erinnert.
Für Kathrin scheint es, nach der einzigen sentimentalen Szene des gesamten
Textes, die in Venedig spielt, einen Neuanfang geben zu können. Doch in
seinem abendrotfarbenen Licht steht er in einem unauflösbaren Widerspruch
zur ästhetischen Wucht des Romans. Die aber bleibt, und damit lässt Thomas
Melle die übliche Saisonware weit hinter sich.
26 Sep 2022
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## AUTOREN
Helmut Böttiger
## TAGS
Buch
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