# taz.de -- Neuer Roman von Thomas Melle: Versuchte Selbstauslöschung | |
> Thomas Melle schreibt in „Haus zur Sonne“ erneut über seine bipolare | |
> Störung. Im Roman findet er eine Sprache für das Unvermittelbare. | |
Bild: Nach „Die Welt im Rücken“ schreibt Thomas Melle ein zweites Mal übe… | |
Über psychische Erkrankungen und Depression im Besonderen zu schreiben, | |
bedeutet in der Regel, sich aus einem bestimmten Set an Metaphern und | |
Bildern zu bedienen. Gerne greift man zur Farbe Schwarz oder beschreibt den | |
depressiven Zustand als sinnbildlichen Abgrund, in den man gestürzt ist. | |
Die Metapher schützt den Betroffenen, so meint man, vor Scham und Stigma, | |
vor dem Ausgeliefertsein und der Nacktheit vor den Symptomen. Das Bild | |
macht das Leiden erträglicher, denn es verbirgt den monströsen Charakter | |
der Erkrankung, die wie kaum eine andere inkompatibel ist mit dem Leben | |
unter Menschen und ultimativ auch mit dem Leben an sich. | |
„Tell all the Truth but tell it slant“, forderte Emily Dickinson einmal von | |
der Literatur: die Wahrheit erzählen, jedoch nicht geradeheraus. In der | |
Verfremdung liegt schließlich die vielleicht größte Kraft der Literatur. | |
Durch Verfremdung kann geschrieben werden, was unsagbar ist, erzählt | |
werden, was sonst übersehen bliebe, und Literatur wird universell. | |
[1][Der Schriftsteller Thomas Melle] wählte bereits mit seinem 2016 | |
erschienenen Buch „Die Welt im Rücken“ einen umgekehrten, aber ebenso | |
dichterischen Ansatz. Auf drastische wie unverblümte Weise schilderte der | |
Autor [2][in diesem autobiografischen Roman sein Leben mit einer bipolaren | |
Störung,] in dem die einzige Kontinuität im hoffnungslosen Wechselspiel | |
zwischen Manie und Depression besteht. Und auch Melles neuer, | |
autofiktionaler Roman „Haus zur Sonne“ ist kaum metaphernreiche | |
Selbstschonung – sondern versuchte Selbstauslöschung. | |
## Wer hier eincheckt, hat vom Leben genug | |
Nachdem der namenlose Protagonist ein Buch über seine bipolare Erkrankung | |
veröffentlicht und im Zuge dessen schon an seine Heilung geglaubt hat, | |
findet er sich stattdessen erneut in der Talsohle einer fürchterlichen | |
depressiven Episode wieder. Über eine Zeitungsanzeige stößt er auf eine | |
rätselhafte Institution, die durch „Traumverwirklichung und | |
Selbstschaffung“ hoffnungslosen Fällen wie ihm Heilung verspricht. Doch | |
bald wird klar: Dieses Sanatorium befindet sich auf keinem Zauberberg und | |
der Protagonist ist höchstens ein umgedrehter Hans Castorp. | |
Denn wer hier eincheckt, hat vom Leben genug und willigt ein, den | |
Aufenthalt am Ende mit ebenjenem zu bezahlen. Bis es so weit ist, bekommen | |
die lebensmüden Patient:innen – hier als Klienten geführt – allerdings | |
jeden nur erdenklichen Wünsch erfüllt, ob nun in real oder in von den | |
Ärzt:innen gesteuerten „Simulationen“, die als Baudrillard’sche Simulacra | |
langsam, aber sicher die Grenze zwischen Tatsächlichem und Geträumtem | |
verschwimmen lassen, eine sedierende Gegenrealität bilden und gleichzeitig | |
die heimlichen Sehnsüchte des Protagonisten und weiterer Patienten | |
offenbaren. | |
Um Wärme und Geborgenheit geht es da oft, um trostspendende | |
Kindheitserinnerungen, aber je länger der Aufenthalt andauert, desto öfter | |
mischen sich auch gewaltsame Sterbefantasien und Wahnhaftes ins Programm: | |
Die Todessehnsucht tötet den durchaus immer wieder aufkeimenden Lebensmut | |
zuverlässig ab. | |
Ein wenig fantastisch wirkt das stellenweise, wenn sich zum Beispiel als | |
Sponsoren des Hauses zur Sonne das Bundeswirtschaftsministerium und die | |
nicht näher bestimmte „Werbeindustrie“ herausstellen, die die vorgetragenen | |
Wünsche der Sterbewilligen zu Marktforschungszwecken verwerten. Diese | |
Sozialkritik wirkt unnötigerweise ausgedacht, denn in Gestalt von Peter | |
Thiel und Palantir kommt das Böse heute mit weitaus weniger plakativen „Bad | |
Guy“-Film-Tropen aus und kennt deutlich weniger drastische Mittel, die | |
Träume und Wünsche aller anzuzapfen. | |
## Der Tod des Autors | |
Schwerfällig wird es, wenn Traumsequenz auf Traumsequenz folgt, die sich | |
als Non sequitur nicht immer zu einer stringenten Handlung kombinieren | |
lassen. Doch natürlich wird hier auch aus unverlässlicher Position heraus | |
erzählt, schließlich haben die bipolare Erkrankung und die jahrelange | |
Medikamenteneinnahme Spuren hinterlassen. | |
Ja, nun, bei wem denn eigentlich? Seit der „Welt im Rücken“ ziehen sich | |
Fragen nach Autorschaft durch Melles Werk. Möchte man Roland Barthes | |
folgen, der in seinem Essay „Der Tod des Autors“ denselbigen als alleinige | |
Bedeutungsinstanz über die Zeichen beerdigte, steht man vor einem Dilemma. | |
Wie mit einem Text umgehen, in dem der Protagonist seinen eigenen Tod nicht | |
nur fordert, sondern auch selbst einzufädeln im Begriff ist? Und der eben | |
bis auf den Namen alles mit dem tatsächlichen Autor gemein hat? | |
Es scheint verlockend, hier Autor und Protagonist zu einem | |
zusammenzufassen, sich dann vielleicht Sorgen um den Menschen Thomas Melle | |
zu machen, oder sich vom Inhalt zu distanzieren, den Text im Angesicht der | |
Erkrankung des Autors als beachtenswert zu würdigen – und ihn dadurch zum | |
pathologischen Fallbeispiel zu degradieren. | |
Man täte diesem Buch unrecht, denn es ist eine große literarische Leistung, | |
in der Melle beinahe Unmögliches schafft: Das Schrecklichste an der | |
Depression ist vielleicht ihre Unvermittelbarkeit. Für die | |
Missverständnisse, die daraus erwachsen, muss sich der Depressive nicht nur | |
vor anderen, sondern auch sich selbst rechtfertigen. In der Depression Sinn | |
zu ergeben, scheint genauso unmöglich, wie von anderen verstanden zu | |
werden. | |
## Trotz in der Seelenzergliederung | |
Und doch: Melle gelingt es, eine Sprache für einen Zustand zu finden, der | |
eigentlich unerzählbar ist. Schließlich ist die Depression geprägt von | |
Stillstand, Nichtstun, vor lauter kreisenden Gedanken bald ganz die | |
Orientierung zu verlieren. In „Haus zur Sonne“ wird einem schnell | |
schwindelig. Die Dimension der Krankheit wird einem auf erschreckende Weise | |
bewusst, und es sind vor allem die Kapitel mit den Rückblicken auf die | |
schlimmsten Phasen der Depression, die einem durch den Kopf fahren wie die | |
Aphorismen von Emil Cioran und dort kleine Wunden hinterlassen. | |
Doch neben all der Seelenzergliederung ist es auch immer wieder Trotz, der | |
durchklingt: „Einmal nicht nur sich selbst anklagen. Einmal kurz auch | |
zeigen, wie falsch und bescheuert sich andere verhalten haben. Ich wollte | |
das nicht mehr verschweigen. […] Die Häme, die Gleichgültigkeit, die Freude | |
an meinem Untergang. Ich hatte es ja gesehen und gehört.“ | |
Man kann das staatlich finanzierte „Haus zur Sonne“ auch als bittere Satire | |
auf eine Gesellschaft lesen, in der Depression eine folgenreiche Abweichung | |
von der Norm darstellt und die über ihre Mechaniken das Leiden der | |
Betroffenen noch potenziert und sich am Ende nicht besser zu helfen weiß, | |
als diese Menschen in einem halb-freiwilligen Euthanasie-Programm zu | |
entsorgen. | |
Denn depressiv zu sein, das bedeutet nach Melle auch, zu einer | |
solipsistischen Existenz zu werden, die den Anforderungen der | |
Klassengesellschaft nicht mehr genügt und keinen Zweck mehr erfüllt. Sich | |
der zweckgemeinschaftlichen Verwendung zu entziehen, ohne einen | |
revolutionären Gedanken dabei zu hegen, ist dabei vielleicht noch | |
verdächtiger, als einen Umsturz anzuzetteln. Denn die Motive des | |
Revolutionärs sind in der Regel zumindest für jeden zu begreifen, der es | |
versucht. | |
## Leiser literarischer Hardcore | |
Melles neuer Roman ist der Beweis, dass literarischer Hardcore auch mit | |
leisen Tönen gespielt werden kann. Es lohnt sich, auch diesen leisen Tönen | |
zuzuhören, schließlich befindet sich die manisch-depressive Erfahrung an | |
den Enden desselben Spektrums, auf dem sich auch die Gesunden wiederfinden. | |
Dann ist das Manisch-Depressive nur der maximale Ausschlag in der | |
Amplitude, und in einem so gelebten Leben, im Wechsel zwischen manischem | |
Zeitraffer und depressiver Verlangsamung bis hin zum Stillstand, zeigen | |
sich all die Einsamkeit stiftenden Mechaniken der modernen | |
Klassengesellschaft im Extremum. Und dann ist „Haus zur Sonne“ zwar ein | |
sehr schmerzhafter und trauriger, aber auch entlarvender Roman der Zeit. | |
19 Aug 2025 | |
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## AUTOREN | |
Yannic Walter | |
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