# taz.de -- Weltall-Roman von Samantha Harvey: Diese ungeheuerliche blaue Murmel | |
> Samantha Harvey reist in ihrem Roman „Umlaufbahnen“ mit sechs | |
> Astronaut*innen auf die ISS. Sie findet eine ganz eigene Sprache für | |
> das All. | |
Bild: 16-mal am Tag um die Erde: Blick aus der ISS | |
Gerade einmal 90 Minuten benötigt die Internationale Raumstation (ISS) für | |
einen Orbit um die Erde. Groß wie ein Fußballfeld umkreist sie uns in 400 | |
Kilometern Höhe, 16-mal am Tag. In den unterschiedlichen Modulen an Bord | |
erlebt die Besatzung 16 Sonnenauf- und -untergänge und je nach Flugbahn | |
alle vier Jahreszeiten an einem Vormittag. | |
Sechs Astronaut*innen versetzt Samantha Harvey in ihrem Roman | |
„Umlaufbahnen“ in diesen Zustand der Zeitlosigkeit und begleitet sie einen | |
Tag lang auf ihrer Reise entlang des unteren Erdorbits. Dem Wechselspiel | |
von Tag und Nacht enthoben, wird ihr Schlafrhythmus nunmehr von Pillen | |
bestimmt, und auch sonst ist die Reise durch den Kosmos eine, die nur dem | |
Körper noch mehr abverlangt als dem Geist. | |
Muskelschwund, ständige Übelkeit, der Einfluss kosmischer Strahlung. Nur | |
wer die nötige Resilienz besitzt, wen der Anblick des blauen Planeten vor | |
der unendlichen Schwärze des Alls nicht in existenzielles Unbehagen stürzt, | |
hat Chancen, die rigorosen Auswahlverfahren erfolgreich zu durchlaufen. | |
Meist werden die Besatzungen von Spaceshuttles und Raumkapseln aus | |
Wissenschaftler*innen und Militärs zusammengesetzt, vermutet man bei | |
ihnen wohl den nötigen Pragmatismus, beim Reisen durchs All nicht plötzlich | |
in metaphysische Selbstauseinandersetzungen abzugleiten. | |
Und doch: Um das Weltall und uns in ihm zu begreifen, [1][braucht es | |
Sprache,] denn der Kosmos erschließt sich uns nicht als reines Gebilde aus | |
Zahlen und physikalischen Grundgesetzen. Es ist Neil Armstrongs | |
vielzitierter „small step for man“, der uns die Entfernung zwischen Erde | |
und Mond und die staubige Textur seiner Oberfläche begreifen lässt. Es ist | |
Michael Collins berühmtes Foto der Apollo-11-Mission, das nach Worten | |
schreit, um die Ungeheuerlichkeit zu ertragen, ein Bild zu betrachten, auf | |
dem außer dem Fotografen jeder andere Mensch abgebildet ist. | |
„Umlaufbahnen“ ist ein Versuch, der Unbegreiflichkeit des Kosmos eine | |
Sprache entgegenzusetzen. Es ist ein Roman der Innerlichkeit, eine | |
Meditation über den Menschen an sich, eine Beschwörung des Weltgeists, in | |
der die Reise ins All als große Metapher für die menschliche Suche nach | |
Sinn verstanden werden kann. | |
## Genaues Gespür für Rhythmus | |
Harveys „Umlaufbahnen“ entspinnen sich mal als Essayroman, dann wieder als | |
langes Prosagedicht: Mal umkreist sie die Vorgänge an Bord mit | |
wissenschaftlicher Akribie, dann wieder in ausladender Poesie oder als | |
philosophische Auseinandersetzung mit der semiotischen Welt und den sie | |
ordnenden Dichotomien. Harvey besitzt ein genaues Gespür für Rhythmus und | |
Fluss, und so entwickelt der Text von Beginn an eine soghafte Wirkung, | |
dreht sich wie ein kreiselndes Unwetter, von dem man sich gern fortreißen | |
lässt. | |
Ihre Erzählweise folgt dabei keinem klassischen narrativen Bogen. Nur | |
bruchstückhaft erfahren wir Details aus den Leben, die die | |
Astronaut*innen auf Erden zurückgelassen haben: vom Tod einer Mutter, | |
vom Zweifel am westlichen Fortschrittsgedanken oder all den Zufällen, die | |
letztendlich dafür verantwortlich sind, dass genau diese sechs Menschen | |
hier den letzten Außenposten der Menschheit bilden. | |
Der Alltag auf der Station ist ebenso zirkulär wie eintönig, streng | |
getaktet durch wissenschaftliche Arbeit und Reparatur der in die Jahre | |
gekommenen Station. Die Kapitel folgen jeweils einer der 16 Umrundungen, | |
widmen sich mal den Raumfahrenden und ihrer Funktion als kleine Zahnräder | |
in der großen Maschine des menschlichen Drangs nach Fortschritt und Wissen, | |
nur um im nächsten Kapitel den Menschen ganz herauszukürzen und sich in | |
lyrischem Nature Writing aufzulösen. | |
Streckenweise erinnert Harveys Schreibweise an [2][Susan Sontags] Prosa, in | |
der Figuren und Plot hinter Ideen zurücktreten und sich die Erzählung von | |
Bedeutung zu Bedeutung statt von Plotpoint zu Plotpoint entwickelt. Wie in | |
Sontags „Liebhaber des Vulkans“ verhandelt Harvey Fragen der | |
Kunstgeschichte, Philosophie und Religionskritik, mischt Fiktionales mit | |
Tatsächlichem. | |
## Unser Denken kalibrieren | |
In kreisförmigen Bewegungen macht sie deutlich, wie viele unserer | |
Denksysteme an ein physikalisches Phänomen wie Schwerkraft gebunden sind | |
und wie sich unser Denken neu kalibriert, wenn wir uns ihr entziehen. | |
Raumfahrende sprechen auch vom Overview-Effekt, nachdem ein Blick auf die | |
Erde als blaue Murmel das Denken nachhaltig und unwiderruflich verändert. | |
Harveys großer Einfluss ist jedoch Virginia Woolf, vor allem der | |
experimentelle Gestus ihrer späteren Werke wie „Die Wellen“. Woolf seziert | |
hier ebenso episodenhaft und unverklärt das Innenleben von sechs Menschen, | |
ohne sie als voneinander getrennte Figuren zu begreifen. Das Raumschiff | |
wird bei Harvey zur Einheit, und die Crewmitglieder dienen als Organe einer | |
menschlichen und von Menschen gemachten Maschine, die sisyphoshaft den auf- | |
und absteigenden Umlaufbahnen um die Erde nachjagt. | |
Auch das weitere Œuvre der nun mit [3][dem Booker Prize] ausgezeichneten | |
Autorin setzt sich mit Erinnerung, Zeit und den existenziellen Fragen des | |
menschlichen Lebens auseinander. Bereits ihr 2009 erschienenes Debüt „Tage | |
der Verwilderung“, in der sie auf niederschmetternde Weise das | |
Fortschreiten einer Alzheimer-Erkrankung protokolliert, fand sich auf der | |
Longlist des wichtigsten britischen Literaturpreises wieder. | |
Auch „Umlaufbahnen“ ist von sanfter Melancholie durchzogen, verfällt | |
allerdings nie in hoffnungsloses Lamentieren oder Nihilismus gegenüber | |
Klima, Krieg und all den anderen Tragödien, die aus der großer Höhe so | |
deutlich in ihrem Wahnsinn hervortreten. Denn wie die echte ISS ist auch | |
Harveys Raumstation ein utopischer Raum und international gleich im | |
doppelten Sinn: Ist doch das All Niemandsland und die Herkunftsländer der | |
Crewmitglieder für die Arbeit an Bord nebensächlich. | |
## Meditation über die Erde | |
Als nach Beginn des Ukrainekriegs den Russen und Amerikanern plötzlich die | |
Nutzung der nationalen Bordtoiletten verboten wird, macht sich die | |
Besatzung einen Scherz draus. Nationalismus und staatliche Konkurrenz | |
werden spätestens beim Anblick einer grenzenlosen, durchs Nichts | |
schwebenden fragilen Welt zu kleinlichen, ja lächerlichen Gedanken. | |
„Umlaufbahnen“ ist Hymne, Klagelied, Totentanz und Gloria in excelsis Deo | |
zugleich, ein Roman von betörender Klarheit und Schönheit, in dem jeder | |
Satz ein eigenes Universum umschließt. Mal liest sich der Text als leise | |
Meditation über dieses wundersame Stück Stein, dann wieder als | |
humanistisches Plädoyer oder sprachgewaltiges Naturgedicht, das an Herman | |
Melville erinnert. Anders als der von Harvey beklagte Umgang der Menschheit | |
mit dem Planeten Erde dient diese sprachliche Gewalt aber keinem | |
gewalttätigen Zweck, sondern dem Gegenteil. | |
„Umlaufbahnen“ ist eine universelle Auseinandersetzung mit der Conditio | |
humana, eine metaphorische Reise ins All und zu uns selbst, bei der die | |
Figuren in der größtmöglichen Distanz zur Heimat doch der Essenz ihres | |
Menschseins auf der Spur sind und schließlich ohne Antworten, aber voller | |
Demut auf die Erde zurückkehren. | |
24 Nov 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Astronaut-Matthias-Maurer-im-Gespraech/!6011510 | |
[2] /Biografie-ueber-Susan-Sontag/!5719479 | |
[3] /Auszeichnung-fuer-Autorin-Jenny-Erpenbeck/!6009836 | |
## AUTOREN | |
Yannic Walter | |
## TAGS | |
Literatur | |
Weltraum | |
Booker Prize | |
Astronauten | |
Nationalismus | |
Astrologie | |
Astronaut | |
wochentaz | |
wochentaz | |
wochentaz | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Roman „Stars“ von Katja Kullmann: Was in den Sternen steht | |
Katja Kullmann folgt in ihrem ersten Roman „Stars“ den Spuren einer | |
Astrophilosophin – oder einer Hochstaplerin? | |
Erste deutsche Frau im Weltraum: Rabea Rogge ist keine Berufsastronautin | |
Bei einer Skiexpedition lernte die Doktorandin einen Milliardär kennen. Er | |
ermöglicht ihr, am Dienstag mit einer Musk-Rakete ins All zu fliegen. | |
Autorin Maddalena Vaglio Tanet: Eine Lehrerin verschwindet | |
Die italienische Schriftstellerin Maddalena Vaglio Tanet erzählt in ihrem | |
Debütroman „In den Wald“ vom erdrückendem Einfluss der Vergangenheit. | |
Weltraumforschung: All unsere Fragen | |
Das All ist mehr als ein Hobbyraum für reiche weiße Männer, es ist ein | |
wissenschaftliches Rätsel. 7 Fragen, auf die wir noch keine Antworten | |
haben. | |
Astronaut Matthias Maurer im Gespräch: „Im All ist man ein wenig dümmer“ | |
Ein halbes Jahr lebte Matthias Maurer auf der Internationalen Raumstation. | |
Dort hat er einiges gelernt – auch über die Menschen auf der Erde. |