# taz.de -- Autorin Maddalena Vaglio Tanet: Eine Lehrerin verschwindet | |
> Die italienische Schriftstellerin Maddalena Vaglio Tanet erzählt in ihrem | |
> Debütroman „In den Wald“ vom erdrückendem Einfluss der Vergangenheit. | |
Bild: Der Wald ist ein Ort, an dem man sich, getrieben von der Schuld der ander… | |
Es ist die unbefriedigende Leere zwischen den Zeilen einer | |
Nachrichtenmeldung, die Maddalena Vaglio Tanets Debütroman „In den Wald“ | |
vielleicht zur Genese gebracht hat. Die Schlagzeile ist: In Biella, einer | |
norditalienischen Kleinstadt zu Füßen der Alpen, tötet sich eine 11-jährige | |
Schülerin selbst, woraufhin ihre Lehrerin, von Schuldkomplexen getrieben, | |
spurlos im Wald verschwindet, statt morgens zum Unterricht in der Schule zu | |
erscheinen. | |
Die echte Lehrerin ist eine Verwandte Tanets, der Fall liegt Jahrzehnte | |
zurück, gehört längst zur Familienfolklore – doch lässt er die Autorin | |
nicht los. Sie beginnt eine umfassende Recherche, wie um sich die | |
Unfassbarkeit einer derartigen Meldung selbst begreifbar zu machen und das | |
dichte Netz an Geschichten aufzudecken, das jeder Schlagzeile in | |
Wirklichkeit zugrunde liegt. Tanet trägt Zeitungsartikel zusammen, spricht | |
mit Zeitzeugen, rekonstruiert das Biella der späten 1960er und 70er Jahre, | |
dasselbe Biella, aus dem auch sie selbst stammt. Nur mit der verwandten | |
Lehrerin kann sie nicht mehr sprechen, denn die ist inzwischen verstorben. | |
Langsam kristallisiert sich eine Erzählung heraus, die sich selbst | |
bisweilen wie eine Recherche liest, ein langsames Aufdecken und | |
Schärferzeichnen der Lehrerin in ihrem selbstgewählten Exil, der | |
Angehörigen, die nach ihr suchen und sich bald auf das Schlimmste | |
vorbereiten, sowie ihrer Schüler:innen, die sich insgeheim über den ganzen | |
Trubel und Schulausfall freuen. | |
## Psychogramm eines Ortes | |
Es ist ein Psychogramm eines Ortes, der die Traumata seiner Geschichte | |
nicht überwinden kann. Denn die vermeintliche Gemeinschaft Biellas ist an | |
vielen Stellen nur behauptet, ausgehöhlt durch unaufgearbeitete | |
Kriegsschicksale: Biella und die Täler der Prealpi Biellesi waren eine | |
Hochburg [1][antifaschistischer Partisanengruppen] und Schauplatz schwerer | |
Kämpfe während des Zweiten Weltkriegs. | |
Es ist ein Ort, der um eine kollektive Erzählung der Vergangenheit ringt, | |
der Kriegsjahre und aller damit einhergehender Traumata. An jeder Fassade | |
klebt die Last der Schuld: Schuld, die Gräuel des Kriegs überlebt zu haben, | |
Schuld, dem Faschismus entweder zu wenig oder überhaupt nicht | |
entgegengetreten zu sein, die Hilflosigkeit der Hinterbliebenen, die | |
erlebte Ohnmacht, ein Spielball weltumspannender Kräfte zu sein, die | |
besonders konzentriert wirken an einem kleinen Ort wie Biella. | |
Tanets vermeintlich faktische Arbeitsweise erinnert an den New Journalism, | |
an [2][Truman Capotes große „Non-Fiction Novel“] „In Cold Blood“: Auch | |
Tanet verzichtet auf eine eingreifende Erzählinstanz und erzählt die | |
Geschichte nach den Regeln eines Romans. Doch wo Capote mit einiger | |
Überheblichkeit behauptete, jedes seiner Worte sei wahr und würde nichts | |
als den tatsächlichen Fakten entsprechen, transzendiert Tanet dieses | |
orthodoxe Verständnis von Wirklichkeit. | |
## Erweiterung der Wirklichkeit | |
„In den Wald“ ist keine versuchte Rekonstruktion eines Kriminalfalls, | |
sondern das literarische Erweitern einer Wirklichkeit, die sich in Form | |
eines bloßen Protokolls nicht erfassen ließe. Tanet forscht nicht dem | |
genauen Ablauf der Vorgänge nach, sondern hebt die Figuren aus ihrem bloßen | |
Zeugentum heraus. | |
Es geht um Mutterschaft, es geht um den erdrückenden Einfluss der | |
Vergangenheit auf die Gegenwart, es geht um die Abwesenheit von Vätern, das | |
Fehlen von Vorbildern. Es geht um das Auserzählen der Schicksale hinter den | |
Schlagzeilen einer Berichterstattung, vorbei an reißerischen Details, um | |
die Textur hinter dem Offensichtlichen. | |
Die multifokale Erzählweise lässt dabei nicht immer die notwendige | |
Erzählzeit zu, jede Figur gleichermaßen verständlich zu machen. Hier und da | |
wünscht man sich eine Rückblende und einen biografischen Exkurs weniger, | |
denn die vermeintliche Hauptgeschichte, das Schicksal der Lehrerin im Wald, | |
gerät mitunter arg ins Hintertreffen. Doch irgendwann wird klar: „In den | |
Wald“ ist zu gleichen Teilen die Geschichte der verschwunden Lehrerin wie | |
derer, die nach ihr suchen. | |
Man verzeiht Tanet das ausschweifende Dramatis Personae. Auch wenn es | |
anders als bei Capote durchaus zu dramaturgischen Längen kommt, bleibt der | |
dahinterliegende Anspruch an erzählerischer Wahrhaftigkeit stets erfüllt. | |
Wo Tanets Text ein Produkt ihrer Fantasie wird, erhebt sie sich nie über | |
die Figuren, sondern ehrt immer ihren Anspruch, die Geschichte (und | |
ultimativ ihre eigene) über alle Hindernisse hinweg begreifbar zu machen. | |
## Biografische Verwicklung | |
Man merkt ihr den inneren Kampf mit dem Stoff, ihrer Recherche, ihrer | |
biografischen Verwicklung, sowie dem universellen Anspruch der | |
literarischen Form und ihrer Unzufriedenheit über das Reduktive des | |
Journalistischen förmlich an. Es ist auch der klaren und poetischen | |
Übersetzung Annette Kopetzkis zu verdanken, dass man nicht selbst im Wald | |
aus Rückblenden und Traumsequenzen verlorengeht. | |
Nicht nur die Erzählzeit, die Jahre nach dem Ende des miracolo economico, | |
erinnert dabei an Elena Ferrantes Neapel-Romane. Auch „In den Wald“ ist | |
eine Geschichte über Frauen, die sich den Zwängen der patriarchalen | |
Strukturen Nachkriegsitaliens und seiner Klassengesellschaft zu entziehen | |
versuchen. | |
Die Männer Biellas stellen für tatsächlichen Fortschritt das größte | |
Hindernis dar: Sie sind Taugenichtse, nutzlose Spielsüchtige oder | |
jähzornige Wüteriche, die von ihren Frauen längst nicht mehr ernst genommen | |
werden und nur aufgrund des weitreichenden Katholizismus (noch) keine | |
Scheidung befürchten müssen. | |
## Affäre Fenster zur Flucht | |
Die Frauen arrangieren sich und versuchen ihren Männern zum Trotz das Beste | |
aus ihrer Lage zu machen. So besitzt die Nonne Annangela als eine der | |
wenigen die Unabhängigkeit eines eigenen Autos und wird dafür schwer | |
bewundert. An anderer Stelle wird von Anbahnungen einer Affäre erzählt, die | |
einer der Protagonistinnen plötzlich wie ein verbotenes Fenster zur Flucht | |
aus einem unglücklichen Leben erscheint. | |
„In den Wald“ ist auch ein Roman über Literatur als Mittel der | |
Traumabewältigung, und Tanet macht den Akt des Erzählens auf eine Weise | |
selbst zum Inhalt. Es ist bestimmt kein Zufall, dass es Gianni, ein | |
Schriftsteller, ist, der als eine der wenigen männlichen Figuren eine | |
gewisse Verlässlichkeit verkörpert und unter den Bewohnern Biellas | |
gleichsam „eine Ausnahme ist, da er der Erzählung [seines] Leidens nicht | |
ausweicht“. | |
Man fühlt sich an den magischen Realismus jüdisch-amerikanischer | |
Autor:innen wie Jonathan Safran Foer oder [3][Nicole Krauss] erinnert, | |
die in ihren Werken ebenfalls um eine Schreibweise ringen, die den | |
Erlebnissen ihrer Vorfahren in Europa ansatzweise gerecht wird und in denen | |
auch immer die Erzählbarkeit des Unfassbaren selbst verhandelt wird – | |
insbesondere als Teil der nachfolgenden Generation. | |
## Erträumter Urzustand | |
Doch ist der Wald in Tanets Roman nicht magisch-verwunschen oder Ausdruck | |
eines südlichen Arkadiens im Sinne Goethes. Es ist ein nasser, kalter und | |
knarzender Wald, bedrohlich, für die Lehrerin aber auf angenehme Weise | |
existenziell, ein erträumter Urzustand, an dem man sich doch vor der | |
Vergangenheit allerhöchstens verstecken kann. | |
Tanets Wald ist ein Ort der Buße, ein Ort der Bestrafung, an den sich die | |
Lehrerin und später die nach ihr Suchenden zurückziehen, um eine Schuld zu | |
sühnen, die weder die Lehrerin noch die Nachkriegsgeneration direkt auf | |
sich geladen haben, die aber dennoch jede Faser ihres Wesens durchzieht. | |
23 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Yannic Walter | |
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