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# taz.de -- Interview mit Autorin Nicole Krauss: „Liebe kommt nicht ohne Gewa…
> Nicole Krauss hat mit „Waldes Dunkel“ ihren bislang besten Roman
> geschrieben. Es geht darin um den Mut, mit alten Rollen zu brechen, und
> um das Ende einer Ehe.
Bild: Nicole Krauss ist nicht ihre Romanfigur – auch wenn die genau so heißt
Ein eisiger Nachmittag am Berliner Zoo, Nicole Krauss sieht verfroren aus,
als sie von einem anderen Termin in ihr Hotel, das Hotel Savoy,
zurückkommt– kleiner, zarter und weicher als auf all den Fotos. Nicole
Krauss ist eine der meist beachteten Autorinnen Amerikas, auch durch ihre
Ehe mit dem ebenso umjubelten Autor Jonathan Safran Foer. Das Ende dieser
Ehe 2014 ist eines der Themen in Nicole Krauss ’ fünftem Roman „Waldes
Dunkel“, der gerade bei Rowohlt in Deutschland erschienen ist – ihrem
vielleicht besten Roman bisher, da er offener und unsicherer daherkommt als
die früheren Romane. Es geht um zwei Figuren, die es völlig aus der Bahn
geworfen hat – und eine der beiden heißt Nicole.
taz am wochenende: Frau Krauss, was fasziniert Sie am Kontrollverlust?
Nicole Krauss: Ich glaube nicht, das es der Kontrollverlust ist, den ich so
aufregend finde. Ich habe mit „Waldes Dunkel“ ein Buch über Leute
geschrieben, die allmählich begreifen, dass ihnen die Rollen, die sie in
ihrem Leben eingenommen haben, nicht mehr passen. Dass sie nicht mehr
authentisch sind. Sie sammeln Mut, um mit ihnen zu brechen, denn bevor man
eine Form findet, die besser passt, muss man formlos werden.
Ist es schwieriger, ein Buch mit einer konsistenten Geschichte zu erzählen
oder über Formlosigkeit?
Was meinen Sie mit einer konsistenten Geschichte?
Ihre früheren Bücher wirken deutlich kontrollierter.
Das trifft vielleicht auf die Figuren zu. Aber die Struktur meiner Romane
ist immer erst mal lange Zeit völlig außer Kontrolle. Ich weiß nicht im
Voraus, wie die Struktur funktionieren wird.
Eine der Figuren heißt Nicole. Sie ist Schriftstellerin, jüdisch, lebt in
Brooklyn, hat zwei Söhne, ihre Ehe ist zu Ende gegangen, sie hat eine
Schreibkrise und reist nach Israel, in die zweite Heimat. Was hat diese
Nicole mit Nicole Krauss zu tun? Ich meine: Sie hätten ihr einen anderen
Namen geben können, oder nicht?
Aber dann wäre ich mit den Lesern nicht so direkt ins Gespräch gekommen.
Ich schreibe jetzt seit 15 oder 16 Jahren Romane. Ich bin ich mir darüber
im Klaren, was passiert, wenn ich selbst zur Romanheldin werde. Ich meine:
Wenn man sich in eine literarische Figur hineinbegibt, dann nimmt man auch
ihre Weltsicht und Einbildungskraft ein. Man verwandelt sich bis zu einem
gewissen Grad in diese Figur. Und fügt dem Buch eine neue Dimension hinzu.
So machen uns die Bücher doch süchtig, oder nicht?
Schon …
Die Bücher geben uns die Möglichkeit, über uns hinauszuwachsen. Aber dann,
wenn wir das Buch zuklappen und in den Supermarkt gehen oder die Kinder von
der Schule abholen, bricht dieses neue Selbstgefühl in sich zusammen, und
es wird wieder eng und stabil. Der Grund ist der: Das menschliche Gehirn
braucht eine kohärente Erzählung. Das Selbst ist eine Geschichte. Eine
lange Geschichte.
An der wir ganz schön hartnäckig kleben.
Sogar dann, wenn wir merken, dass wir nicht ganz und gar in diese
Geschichte hineinpassen. Dass sie uns einschnürt.
Und was hat das mit den beiden Nicoles zu tun?
Ich wollte der Nicole im Buch Details aus meinem Leben geben und sie dann
in die Geschichte werfen, die stellenweise ins Surreale kippt. Aber: Sie
glauben doch nicht, dass das alles autobiografisch ist, oder?
War das Surreale eine Art Absicherung dagegen, dass Ihr Buch mit dem Ihres
Exmanns Jonathan Safran Foer verglichen würde, der ebenfalls vor Kurzem
einen Roman über eine gescheiterte Ehe geschrieben hat?
Meinen Sie wirklich, das hätte etwas mit uns zu tun?
Liegt das nicht nahe?
Nun: Ich habe keine Angst vor Vergleichen.
Es gibt noch eine andere Romanfigur in „Waldes Dunkel“; den erfolgreichen
New Yorker Anwalt Epstein, der plötzlich alles verschenkt und in Israel
verloren geht: Nicole und er treffen sich nie.
Und dennoch können die beiden Erzählungen nicht für sich stehen. Sie
funktionieren die ganze Zeit wie Echos.
Es gibt noch andere Spiegelbilder in diesem Buch. Israel spiegelt die
Vereinigten Staaten, Palästina spiegelt Israel. Worum geht es da?
Einmal erklärt Nicole, sie würde keiner Liebe über den Weg trauen, die ohne
Gewalt auskommt. Dazu wurden mir schon viele Fragen gestellt. Es ist aber
ganz einfach. Wenn man die Wahrheit darüber, wer der andere wirklich ist,
ehrlich an sich heranlässt, dann muss man sich ändern. Weil die alten
Glaubenssätze und Sicherheiten zerstört werden. Oft sträuben sich die
Menschen dagegen. Denn es kann sich gewalttätig anfühlen. Das gilt für
romantische Liebesbeziehungen wie für den Nahostkonflikt.
Nicole erinnert sich in dem Buch oft an ihre Kindheit. Geht es da um
Glückssuche?
Nicole und Epstein halten das Glück nicht für das erstrebenswerte Ziel im
Leben. Man kann nicht zufrieden sein, wenn man keine Traurigkeit und keine
Konflikte kennt. Nicole denkt eher darüber nach, wie flexibel uns die
Wirklichkeit in der Kindheit erscheint. Sie stellt infrage, warum wir so
eine Religion aus unserer Vereinbarung machen, was die Wirklichkeit ist.
Auch, wenn das nicht unbedingt wahr ist, sondern nur eine kollektive
Fiktion.
Lassen Sie deshalb Nicole daran zweifeln, ob es so gut ist, wenn wir
unseren Kindern schon früh Märchen und Geschichten erzählen?
Geschichten lehren die Kinder Konventionen. Andererseits sind sie so
unfassbar schön und bedeutungsvoll, das wir gar nicht anders können, als
sie ihnen zu erzählen.
Nicole und Epsein gehen beide in die Wüste. Auch in Ihrem ersten Buch
„Kommt ein Mann ins Zimmer“ geht jemand in die Wüste. Was interessiert Sie
an dieser Landschaft?
Die Wüste ist der Ort, wo man mit dem Unbekannten konfrontiert wird. Das
hat eine lange literarische Tradition. Vielleicht liegt es an dieser
Unmenge von Raum und Himmel. Vielleicht an der Dehydrierung. Wir sehnen uns
danach, die Unendlichkeit zu berühren.
Wie kam Kafka in Ihr Buch?
Ich liebe Kafka. Er hatte für mich die Funktion des Onkels, der einem Wege
eröffnen kann, die kein anderer in der Familie auch nur sieht. Sie wissen
schon: dieser seltsame Onkel, dem man ewig dankbar ist (lacht).
Nicole ist verknallt in Kafka?
Ja, vielleicht (lacht noch mehr). Eines Tages bin ich jedenfalls in Israel
am Haus von Eva Hoffe vorbeigekommen, der Tochter der Sekretärin von Max
Brod, der den Nachlass Kafkas nach Israel gebracht hat.
Eva Hoffe hat, nachdem Sie Ihren Roman beendet hatten, den Prozess
verloren, mit dem sie erstreiten wollte, dass sie die rechtmäßige Erbin von
Kafkas Briefen ist.
Genau. Ich versuchte mir damals vorzustellen, was in dieser vergitterten
Erdgeschosswohnung von Eva Hoffe sein könnte. Es roch nach Straßenkatzen
und nach Paranoia. Könnte Kafka dort eingesperrt drin sein? Oder sind wir
es, die von dem ausgesperrt werden, was wir haben wollen? Und je mehr ich
über dieses Gefängnis nachdachte, desto mehr musste ich auch über die
Flucht nachdenken. In der Zwischenzeit hatte ich mit der Arbeit an meinem
Roman begonnen. Plötzlich begriff ich meine beiden Romanfiguren besser. Sie
sind echte Entfesslungskünstler.
War Kafka ein Entfesslungskünstler?
Ich meine: Alles, was wir über Kafka wissen, stammt von Max Brod. Er
schrieb Kafkas Biografie, er gab ihn heraus, redigierte ihn. Er hat ihn als
jemanden dargestellt, der sich nicht befreien konnte, weder aus seinem
Prager Leben noch aus der Versicherungsgesellschaft, für die er gearbeitet
hat. Aber wenn man heute Kafka liest, dann hat man doch den Eindruck, dass
Kafka ein Mensch war, der ziemlich genau wusste, wie man ausbricht.
Es lag also nahe, die Geschichte von Kafka anders zu denken?
Ich fuhr durch die Wüste und dachte darüber nach, was mit Epstein passiert
sein könnte. Und dann entdeckte ich ein Zelt, das einem 70-jährigen Israeli
gehört, der mir die ganze Nacht von seinen 27 Reinkarnationen erzählte. So
etwas gibt es nur in Israel.
Und dann?
Dann wankte ich in mein Hotelzimmer zurück, öffnete meinen Computer und
machte mir wieder Sorgen, was ich mit Epstein tun sollte. Und plötzlich:
die Erleuchtung. Es traf mich ganz einfach. Was, wenn Kafka gar nicht
gestorben wäre, sondern in der Wüste Israels als Gärtner gelebt hat? Das
war die Idee, die diesem Roman noch gefehlt hatte.
23 Mar 2018
## AUTOREN
Susanne Messmer
## TAGS
US-Literatur
Franz Kafka
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