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# taz.de -- Kolumne Südpost: Der unendliche Prozess
> Kafka öffnet uns die Augen für die Ungerechtigkeit, den Terror der
> Institutionen und die Brutalität totalitärer Systeme. Doch wem gehört er?
Bild: Aus dem Unterricht nicht wegzudenken: Kafkas „Process“.
Kaum ein deutschsprachiger Autor hat solchen Ruhm erreicht wie der Prager
Franz Kafka. Seine Werke haben weltweit ganze Generationen geprägt und
ungeachtet von Sprache, Hautfarbe oder Religion hat er überall
Seelenverwandte. Auch jene, die seine Existenzangst teilen und vom
obdachlosen Umherirren des Menschen schreiben, sind über den Erdball
verstreut.
Die Liste der von Kafka geprägten Schriftsteller ist lang: William
Faulkner, García Márquez, George Orwell, Milan Kundera, Orhan Pamuk.
Solchen Einfluss hätte Kafka sich vielleicht gewünscht, aber sich nie in
diesem Ausmaß erträumt.
Kafka öffnet uns die Augen für die Ungerechtigkeit, den Terror der
Institutionen und die Brutalität der Maschinerie totalitärer Systeme. Darum
ist es auch nicht verwunderlich, wenn man sich dabei wiederfindet, über die
Verteidigung der Freiheit und den Widerstand gegen totalitäre Systeme zu
schreiben, obwohl man eigentlich über Kafkas Ästhetik als Teil des
kulturellen Erbes der Menschheit hatte sprechen wollen.
Kafka hat mit seinem Satz: „Der Weg zum Nebenmenschen ist für mich sehr
lang“, recht behalten. Denn was er sich wohl nie gedacht hätte: dass er
auseinandergerissen, missinterpretiert oder zu einem Erbstreitthema würde.
Oder ahnte er es doch und wünschte darum in seinem Testament die
Verbrennung seines Nachlasses? Ein Wunsch, den sein Freund und Interpret
Max Brod ihm nicht erfüllen wollte.
## Spielball der Interessen
Ausgerechnet Kafka, der 1924 einsam und arm in einem Sanatorium in Kierling
(heute Klosterneuburg) in Österreich verstarb, wird viel später Opfer von
Politik, Geldgier und Intrigen. Kafka, der nie religiös oder ideologisch
agiert hatte, wird, nachdem seine Werke weltweit bekannt geworden sind, von
den Köchen der Ideologien je nach Bedarf zerlegt, neu gemischt und
serviert.
In arabischen Ländern, insbesondere im Schatten jener Regime, die sich
selbst als „Volksrepubliken“ bezeichneten, der Erben des inzwischen
ausgestorbenen „sozialistischen Realismus“, erlitt Kafka dabei ein
besonders absurdes Schicksal: In den 1970er Jahren nahm die Kampagne gegen
Kafka ihren Anfang im Irak Saddam Husseins. Dabei wurde Kafkas jüdische
Herkunft, die ihm schon im Europa des Antisemitismus ungerechte Behandlung
eingetragen hatte, in Form einer Beschuldigung auf abscheulichste Weise
gegen ihn gewendet.
Im Irak überrumpelte uns damals eine Reihe von Studien über zionistische
Literatur, in denen Kafkas Name ganz oben stand. Zionismus heißt Israel.
Das hieß auch, Kafka verteidigt den Staat Israel, den Hauptfeind der
Araber. Er wurde mit Israel in Zusammenhang gebracht, obwohl Israel doch
erst 24 Jahre nach Kafkas Tod entstand.
## Der Nachlass nach Jerusalem
Als ein israelisches Gericht jüngst nach jahrelangem Rechtsstreit
entschied, dass Kafkas Nachlass an die israelische Nationalbibliothek in
Jerusalem gehe, begrüßte ein Kurator der Bibliothek das Urteil mit der
Begründung, Kafka, der weder in Jerusalem noch im damaligen Palästina
gewesen ist, gehöre selbstverständlich zu Jerusalem.
Als Beweis zeigte er ein altes Heft, in dem Kafka ein paar hebräische Sätze
notiert hatte. Kafka wollte in seinen letzten Tagen Hebräisch lernen, so
der Kurator, um nach Jerusalem zu kommen, und nur der Tod hinderte ihn. In
„Der Prozess“ wird Josef K. dem Gericht in einer Sache vorgeführt, mit der
er nichts zu tun hat. Fast genau wie seinem Helden ergeht es Kafka jetzt.
Er wird zur Mitgliedschaft in einer Nation verurteilt.
Mal war er Österreicher, mal Deutscher, mal Zionist, jetzt Israeli und,
weil er 1883 in Prag (damals Österreich-Ungarn) geboren ist, könnte er,
sobald der Populist Viktor Orbán sein ungarisches Reich errichtet hat,
vielleicht noch Ungar werden. Aber gehört Kafka überhaupt zu einer Nation?
Kann man ihn einem Klan zuordnen? Kaum. Denn wie alle Großen der
Weltliteratur gehört Kafka nur sich selbst.
30 Oct 2012
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