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# taz.de -- „Hier bin ich“ von Jonathan Safran Foer: Die wichtigsten „Ste…
> Der Versuch einer Selbstbestimmung angesichts totaler Überforderung:
> Jonathan Safran Foers Roman schlägt über alle Stränge.
Bild: „Hier bin ich“, auf Englisch „Here I Am“ und auf Althebräisch �…
„Meine Synagoge besteht aus Worten“, schreibt Jonathan Safran Foer ziemlich
am Ende seines fast 700 Seiten starken Romans „Hier bin ich“. „Wenn die
Erde bebt, pendelt sie sich dank der vielen Zwischenräume wieder ein.“
Tatsächlich sind Foers Romane so etwas wie literarische Aufräumarbeiten
nach der Katastrophe.
Die Helden seines fast noch wunderkindlichen Frühwerks „Alles ist
erleuchtet“ (2002) und „Extrem laut und unglaublich nah“ (2005) waren Enk…
von Holocaustüberlebenden und ein Kind, das bei 9/11 im World Trade Center
seinen Vater verlor; und auch die industrielle „Fleischproduktion“, auf die
vor sieben Jahren Foers autobiografisch gefärbtes Sachbuch „Tiere Essen“
reagierte, kann man getrost als Verheerung bezeichnen.
Auch „Hier bin ich“ erzählt ausschweifend und doch immer wieder
hochkonzentriert die Geschichte einer Katastrophe, genauer: zweier
Katastrophen. Die erste könnte biografisch motiviert sein in der Trennung
des Autorentraumpaares, das der 1977 in Washington, D.C., geborene Jonathan
Safran Foer und die Schriftstellerin Nicole Krauss bis vor zwei Jahren noch
waren. Die zweite braucht Foer, um die erste zu reflektieren – doch dazu
später.
Foers Protagonist Jacob ist 42 Jahre alt, Autor einer Fernsehshow und ein
typischer bourgeois bohemian, der mit seiner Frau, der Architektin Julia,
den drei hochbegabten Söhnen Sam, Max und Benji und dem altersschwachen,
inkontinenten Hund Argus in Washington, D.C., lebt – ökonomisch obere
Mittelklasse, politisch liberal, intellektuell Elite.
Außerdem ist er dem jüdischen Leben durch die Geschichte etwa seines
Großvaters Isaak, einem Holocaustüberlebenden, durch seinen zionistischen
Vater Irv und einen Familienzweig in Israel verbunden, aber auch durch
Reste religiöser Praxis wie der Bar-Mizwa, die dem ältesten Sohn Sam
unmittelbar bevorsteht.
## Jacobs zweites Handy
„Hier bin ich“, auf Englisch: „Here I Am“ und auf Althebräisch „Hine…
woran erst neulich Leonard Cohens Abschiedsalbum erinnert hat, ist der
Satz, mit dem die Stammesväter Abraham, Moses, Isaiah einst vor Gott
traten. „Hier bin ich“, das ist als Romanprojekt auch eine konkrete
Statusmeldung aus dem Gewimmel des Lebens, der Versuch einer Orts- und
Selbstbestimmung angesichts totaler Überforderung.
Bei Jacob und Julia besteht diese darin, in ihrem Familienprojekt auch das
Paar zu bleiben, das sie zweifellos sein könnten, verbunden durch Liebe,
Freundschaft, Herkunft, Humor, und in der hingebungsvollen Zuwendung zu
ihren Söhnen.
Hilflos sehen sie zu, wie sich ihre eigenen und gemeinsamen Spielräume
verkleinern: „Eltern erleben Momente der Wärme und Nähe (mit ihren
Kindern), aber sie sind nicht die Regel. Diese besteht im Aufräumen“ – um
solche sarkastischen Pointen ist Foer nie verlegen.
Seinen klassischen Lauf nimmt das Scheitern jedoch erst in Folge eines
klischeehaften Ereignisses: Julia stößt zufällig auf ein Zweithandy ihres
Mannes, in dem er, dessen Erektionsstörungen für gewöhnlich das gemeinsame
Sexleben lahmlegen, einem digitalen Gegenüber verspricht: „Jetzt hast du es
verdient, in den Arsch gefickt zu werden.“
## Material für eine TV-Show
Das Hochgehen der Handybombe trifft nicht nur Jacobs Beziehung zu Julia
empfindlich, sondern auch sein Selbstverständnis. „Er war ein Vater für
seine Söhne, ein Sohn für seinen Vater, ein Ehemann für seine Frau, ein
Freund für seine Freunde, aber wer war er für sich selbst?“
Ja, was ist das für ein Mann, der es einfach nicht übers Herz bringt, den
alten Hund einschläfern zu lassen, dem das Mittel gegen Haarausfall
wichtiger ist als die eigene Potenz, auf die es sich negativ auswirkt, der
heimlich das Leben seiner Familie als Material für eine TV-Show, sprich:
für die Kunst verwendet? Der in allen Bereichen ein Overachiever und am
Ende vielleicht doch – ausgerechnet – ein unbeschriebenes Blatt ist?
Erzählerisch schlägt der Roman nach allen Seiten über die Stränge und ufert
bis in die disproportionale Zeitstruktur aus. Foer holt seine Leser*innen
direkt hinein in das wuselige und doch auseinanderdriftende Familienleben,
in dem die Liste mit Schimpfwörtern, die Sam im Religionsunterricht
verfasst hat, auf derselben Problemstufe stehen wie die potenzielle Untreue
der Eltern und weltpolitische Verwicklungen.
Aber wenn man unbedingt ein Ranking erstellen würde, dann in dieser
Reihenfolge. Die Dialoge, die Sams Avatar Samantha im Onlinespiel „Other
Life“ führt, nehmen mitunter ähnlich viel Platz ein wie die
Auseinandersetzungen zwischen Julia und Jacob, aus deren personaler
Perspektive zunächst im Wechsel berichtet wird, bis nach gut einem Drittel
Jacobs Sicht dominiert.
Darüber hinaus spielt ein Großteil des Romans an nur wenigen Tagen; gefolgt
von Jacobs Script für die TV-Show, der er und seine eigene Familie als
Vorlage dienen. Es erinnert an einen lithurgischen Gesang, in dem Foer noch
einmal die wichtigsten „Stellen“ im Leben seines Protagonisten auflistet,
von früher Kindheit bis ins hohe Alter; ein Ende der Weisheit ist nicht in
Sicht.
Doch zuvor kommt zur Schärfung der vermeintlich blassen
Persönlichkeitskonturen der Besuch der Israelis wie gerufen: Jacobs viriler
Cousin Tamir umarmt Jacobs Vater Irv schon zur Begrüßung so kräftig, dass
dieser furzen muss.
Überhaupt ist Tamir das Gegenteil von Jacob, der sich und seine Generation
wie folgt beschreibt: „Sie mieden Kämpfe, suchten aber Diskussionen. […]
Sie definierten sich durch – und waren stolz auf – ihre eklatante Schwäche.
Trotzdem waren sie von Muskeln besessen. Nicht von den eigentlichen Muskeln
– die fanden sie verdächtig, lächerlich und albern. Nein, was sie
berauschte, war die Muskelkraft des jüdischen Gehirns […].“
Auf diese Definition dürften sich von Woody Allen bis Mark Zuckerberg alle
einigen können – und gleich auch noch all jene, die von der popkulturellen
Produktivität dieser Hirnsportkanonen geprägt wurden.
## Spielberg auf der Toilette
In einer der witzigsten Szenen des Buches beschreibt Jonathan Safran Foer,
wie Jacob auf der Toilette des Flughafenrestaurants glaubt, den Regisseur
von „Schindlers Liste“, Steven Spielberg, zu erkennen – samt dem pikanten
Detail, dass dieser nicht beschnitten sei.
Zurück am Tisch erzählt er von seiner Promibegegnung und ist verblüfft,
dass Tamir nicht weiß, von wem er überhaupt spricht. Als Tamir wenig später
seinerseits von der Toilette zurückkehrt, behauptet er, den blasenschwachen
Steve dort ebenfalls getroffen und, klaro, zu Vermögensstand und
Vorhautstatus befragt zu haben.
Woraufhin sein Cousin ihn spontan umarmt, „weil er all jene Eigenschaften
besaß, die Jacob weder hatte noch haben wollte und doch verzweifelt
ersehnte: die Direktheit, die Furchtlosigkeit in Situationen, in denen
Furcht unangebracht war, das Sich-einen-Dreck-Scheren“.
Die Spielberg-Szene ist auch deshalb so genial, weil sie die zweite
Katastrophe einleitet. Noch am selben Tag verwüstet ein schweres Erdbeben
den gesamten Nahen Osten – Israel, Palästina, Syrien, Jordanien sind
betroffen. Dagegen wirkt das Ehebeben von Julia und Jacob geradezu
lächerlich mikroskopisch, zumal Chaos und Zerstörung schon bald die
politischen Konflikte um den Staat Israel, die letzte und einzige Zuflucht
der Juden, erneut befeuern.
Doch für Jonathan Safran Foer ist diese apokalyptische Fiktion vor allem
der grausame Deus ex Machina, vor dem er Jacobs Ringen um eine, um seine
Identität umso schärfer herausmeißeln kann. Dazu gehört der unvermeidliche
jüdische Witz: „Und Yael?“, fragt Jacob Tamir nach dem Verbleib seiner
Nichte. „Geht ihr gut. Sie ist in Auschwitz.“ (Auf einer Schulexkursion.)
Lachen, wenn einem zum Weinen ist: Über diese habituell gewordene
Überlebensstrategie lässt Foer seinen Protagonisten ausführlich meditieren.
Die drohende Zerstörung Israels stellt schließlich auch Jacob vor die
grundsätzliche Frage: Handeln oder Nichtstun? Jacobs bisher so biegsames
Wesen erweist sich als zäher als auch von ihm erwartet. Und das gilt ebenso
für die entschlossenen Verteidiger von Israel.
Der kluge, weiche, Witze reißende, bedenkenträgerische Mann hat viel
verloren, aber doch überlebt. Ob Jonathan Safran Foer diesen Schluss nach
der Präsidentschaftswahl anders geschrieben hätte? Wie auch immer, an Stoff
für das nächste Buch wird es nicht mangeln.
28 Nov 2016
## AUTOREN
Eva Behrendt
## TAGS
Rezension
US-Literatur
Kitsch
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