# taz.de -- Roman „Die Welt im Rücken“: Überfunkende Nervenenden | |
> Jedes Lob muss im ersten Moment schal wirken: Thomas Melle beschreibt in | |
> seinem Roman , wie es ihm mit einer bipolaren Störung ergeht. | |
Bild: Schildert sein eigenes Zerreißen: Thomas Melle | |
„Und am Ende ist selbst das Gähnen noch nicht erklärt.“ Der Satz vom | |
unerklärten Gähnen steht am Ende des Epilogs in Thomas Melles Geschichte | |
„Die Welt im Rücken“ und verweist nicht nur auf eine Leerstelle in | |
Anthropologie, Primatologie und Verhaltensforschung. Denn außer, dass das | |
auffällige Verhalten des Gähnens wenig bis nichts mit Sauerstoffmangel zu | |
tun hat, gibt es bis heute keine klare, eindeutige Erklärung, warum und | |
wozu Lebewesen gähnen. Vom Konfliktanzeiger bis zur unverhohlenen milden | |
Drohgeste reichen die Erklärungen zur Funktion des weit geöffneten Mundes | |
in bestimmten Situationen, ohne dass daraus etwas anderes folgen würde als | |
die Forderung, sich jeweils den Kontext sehr genau anzuschauen. | |
Thomas Melle setzt den Satz an den Schluss seiner Überlegungen zum Wort | |
„bipolar“. Bipolar heißt die Krankheit, die die Ärzte Thomas Melle | |
attestieren, heute, früher bezeichnete man solche Menschen als | |
„manisch-depressiv“. Melle findet den alten Namen für seinen Fall | |
treffender, ohne allerdings den neuen zu verdammen. Der gebildete Bürger, | |
schreibt Melle, könne mit dem Begriff „Bipolarität“ wenig anfangen und mit | |
dem Krankheitsbild natürlich noch weniger. Solche Dinge seien den Menschen | |
noch immer völlig fremd und zutiefst unheimlich. Für Melle ist die | |
Feststellung aber kein Vorwurf, nur der erste Hinweis, dass das Wort billig | |
ist, der Sachverhalt aber erschütternd. | |
Aus dieser Erschütterung heraus liefert Melle zum Anfang eine ziemlich | |
präzise Beschreibung der unexakten Wissenschaft der Medizin in ihrem Umgang | |
mit Ursachen und Wirkungen. So haben, und das ist immerhin eine Zahl, | |
sechzig Prozent aller Bipolaren eine Vorgeschichte des | |
Substanzenmissbrauchs. Man kann aber, solange man jung ist und der Körper | |
gut mitmacht, Depressionen wegtrinken oder mir anderen Substanzen | |
verkleiden. Das gilt auch für eine Überempfindlichkeit gegenüber | |
Geräuschen, Gesichtern, Gesten und Worten in sozialen Räumen. | |
Und Melle ist so etwas wie ein Spezialist der Dämpfungs- und | |
Verbindungswirkung von Alkohol in sozialen Räumen. Sein erster Roman | |
„Sickster“, erschienen 2011, untersucht die soziale Kittfunktion des | |
Alkohols bis in die Werbe- und Platzierungsstrategien des Stoffs in | |
Tankstellen mit angeschlossenem Warenverkauf. | |
## Er will seine Geschichte zurück | |
Trotzdem bleibt natürlich der Ursache-Wirkung-Zusammenhang zwischen | |
Krankheit und Drogen unklar und die Medizin reagiert auch darauf, indem sie | |
den Begriff der „Selbstmedikation“ einführt, der die Möglichkeit des Gangs | |
von der Krankheit zur Droge offen lässt. Nur weiß der Patient damit immer | |
noch nicht, was zuerst war: die Krankheit oder die Droge. Mit dem | |
Ursache-Wirkung-Schema kommt man außerhalb der Wissenschaft nicht weiter. | |
Deshalb sieht Thomas Melle keinen anderen Ausweg, als zu beschreiben, wie | |
es bei ihm gewesen ist. | |
Er hat schlicht keine Lust mehr, als Gerücht, als „ein echter Melle“, als | |
die ein Freund einen seiner Ausraster kommentiert, durch die Welt zu | |
laufen. Er will seine Geschichte zurück haben, sie selbst erzählen. Und das | |
gelingt ihm in einer nicht nur sprachlichen Konzentration, dass einem vor | |
dieser Anstrengung jedes Lob im ersten Moment schal vorkommt, und das auch, | |
weil in diesem Fall die Sprache die Anstrengung fast völlig verdeckt. Denn | |
Melles Text hat mit Ich-Literatur wie mit dem grassierenden literarischen | |
Biografismus nicht das Geringste zu tun. | |
Gilles Deleuze hat einmal über Marcel Proust gesagt, das niemand sich | |
weniger für „seine“ Kindheit interessiere als Proust. Prousts Interesse | |
hätte vielmehr „einer“ Kindheit gegolten, den unpersönlichen Kräften und | |
Wirkungen, die dann auch „seine“ Kindheit natürlich durchzogen hätten. | |
Deleuze, der Theoretiker der widerstreitenden Affektmengen und der | |
Zerreißproben, unter die die Affekte jeden Körper stellen, ist im Fall von | |
Melles Geschichte aber nicht nur eine Referenz, er ist der Denker, der | |
unter dem Begriff der „Schizoanalyse“ die Kräfte des Feldes überhaupt erst | |
benannt hat, in dem Körper wie der von Melle sich zusammenhalten oder | |
zerreißen. | |
Nur ist seit Deleuze’ Zeiten, der 1995 durch freien Entschluss aus dem | |
Leben getreten ist, einiges passiert. Die Feier der Kreativität der | |
Schizophrenie, der Deleuze unter dem Einfluss der Antipsychiatrie anhing, | |
ist unter der Wirklichkeit von tausend Diagnosen und drei Medikamenten zu | |
deren Behandlung im profanen Elend gelandet. Zudem sind die letzten | |
Kollektivsubjekte, wie der Fortschritt der Menschheit oder das Proletariat, | |
ebenso gestorben wie die Party der Antipsychiatrie in der Obdachlosigkeit | |
der entlassenen Patienten endete. | |
Und wie Thomas Melle nun sein eigenes Zerreißen zwischen überfunkenden | |
Nervenenden und nicht mehr kontrollierbaren Synapsenabstürzen als | |
körperlichen wie geistigen Prozess beschreibt, ist schlicht umwerfend. | |
Melle wählt den einzig richtigen Ausweg unserer Tage. Er spricht in nichts | |
anderem als seinem eigenen Namen. Auf seine Art hat er beschlossen, seinen | |
Namen auf die würdevollste Art zu bewohnen, die noch möglich ist: in der | |
verständlichsten Schrift. | |
Von den Höhenflügen, die ihn eine Nacht mit Madonna im Bett verbringen | |
lassen, erzählt er auf die angemessen intimste Art. Höhensätze wie „ich bin | |
ein Opfer des Weltgeistes. Ich bin der, den der Weltlauf aus der Kurve | |
warf“, belässt er in der immanenten Logik seiner Manie. Es wird so leichter | |
nachvollziehbar, wie jemand die Ideen des Wahn hervorbringen kann. „Hätte | |
ich die Erkenntnis von 1999 nicht verdrängt, es hätte den elften September | |
nicht gegeben! Das muss man sich mal vorstellen!“, beschreibt Melle das | |
Selbstgespräch in einem seiner Maniemomente. | |
Der Moment spielt im Jahr 2006 auf Sylt, wo er als Schreibstipendiat einige | |
Zeit verbrachte. 1999 war sein erster Zusammenbruch, gefolgt von einer | |
Einweisung in die Psychiatrie. 1999 ist auch das erste Jahreskapitel seiner | |
Geschichte überschrieben. 2006, 2010 und 2016 heißen die anderen Kapitel – | |
seine „Jahreskarte“. | |
Die „Jahreskarte“ steht für die langen Zyklen seiner manischen und | |
depressiven Phasen. Wenn er sich gut und zu allem Möglichen fähig fühlt, | |
dauert der Zustand lange an, scheint stabil zu sein, bis der Abbruch folgt, | |
der sich dann seine Zeit nimmt. In den Phasen des Zusammenbruchs gibt es | |
oft Momente einer immanenten Logik, der nichts näher zu liegen scheint, als | |
die Erinnerung an die Erkenntnisse des vorangegangenen Ausrasters. | |
Melle beschreibt diese Affektgemengelagen der verlorengegangenen Kontrolle | |
in einer Sprache, die sich kaum von der seiner kontrollierten | |
Selbstbeobachtung als ein von den Medikamenten um seine Attraktivität | |
gebrachter Bewohner des aktuellen Neukölln unterscheidet. | |
Es fällt schwer, im Vorgang der Sprache den Riss, den Knacks, der den Autor | |
von der Welt im Wahn trennt, nachzuvollziehen. Denn dass etwas nicht | |
stimmt, kann kaum jemand bestreiten. Nur wird die Perspektive im bipolaren | |
Fall kaum vermittelt. Die Welt, die Umgebung, die Freunde meinen, es stimme | |
etwas mit Melle nicht, und Melle meint, es stimmt etwas mit der Welt nicht. | |
Dass man in solchen Fällen beim Lesen lachen muss, ist ganz im Sinne des | |
Autors, denn Humor, heißt es einmal, helfe dem Bipolaren mehr als das | |
verständnisvolle Nicken der Psychiater. Selbst schlechter. | |
30 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Cord Riechelmann | |
## TAGS | |
Literatur | |
Roman | |
Thomas Melle | |
Buch | |
Thomas Melle | |
Literatur | |
Shortlist | |
Literatur | |
Fethullah Gülen | |
Weimar | |
Deutscher Buchpreis | |
Literatur | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Neuer Roman von Thomas Melle: Gegen die innere Leere | |
Thomas Melles Roman „Das leichte Leben“ analysiert die narzisstische | |
Medien- und Kulturszene. Dabei arbeitet er raffiniert mit Schockeffekten. | |
Thomas Melle Uraufführung in Wien: Die Welt ist voller Zeichen | |
Ein virtuoser Sprung auf die Nachtseite der Vernunft: In Wien interpretiert | |
Joachim Meyerhoff „Die Welt im Rücken“ von Thomas Melle. | |
Schriftsteller Thomas Melle: Der Versehrte | |
Thomas Melle hat in seinem aktuellen Roman „Die Welt im Rücken“ über seine | |
bipolare Störung geschrieben. Er musste, sagt er. Eine Begegnung. | |
Shortlist Deutscher Buchpreis 2016: Vom Sommer und der Welt | |
Sechs Bücher haben die Chance, zum besten Roman des Jahres gewählt zu | |
werden. Unter anderem ist Thomas Melles „Die Welt im Rücken“ nominiert. | |
Deutsch-französische Nachkriegszeit: Das Staunen in der Fremdheit | |
Ein atmosphärisch verdichtetes Bild einer Epoche: Sylvie Schenks Roman | |
„Schnell, dein Leben“. Er erzählt eine Biografie im Schnelldurchgang. | |
Krimiautorin zur Situation in der Türkei: „Hier herrscht de facto Krieg“ | |
Esmahan Aykols Kriminalromane werden international übersetzt. Die jüngsten | |
Ereignisse sind für ihre Werke sogar von Nutzen, sagt sie. | |
Auftakt vom Kunstfest Weimar: Barfuß zum Konzert | |
Am schönsten war eine Lesung von Peter Weiss am Beginn des Kunstfestes in | |
Weimar. Hart dagegen ein Theaterstück von Oliver Frljić. | |
Longlist des Deutschen Buchpreises: Trend zur Midlife-Krisen-Literatur | |
Der Vorauswahl fehlen Komik und Spielfreude. Migrantische Autoren spielen | |
keine tragende Rolle. Und zwei wichtige Namen fehlen ganz. | |
Hamburgs Stadtschreiberin und eine Frau ohne Vergangenheit: Schreiben unter Gei… | |
Hamburgs Stadtschreiberin Doris Konradi wird an drei Orten arbeiten: dem | |
Bergedorfer Schloss, dem Ohnsorg-Theater und der Kulturwerkstatt in | |
Harburg. |