# taz.de -- Krimiautorin zur Situation in der Türkei: „Hier herrscht de fact… | |
> Esmahan Aykols Kriminalromane werden international übersetzt. Die | |
> jüngsten Ereignisse sind für ihre Werke sogar von Nutzen, sagt sie. | |
Bild: Arbeitet derzeit an einem Polititkthriller: Esmahan Aykol | |
taz: Frau Aykol, in einem Interview fünf Tage nach dem Putschversuch in der | |
Türkei haben Sie gesagt: „Es ist wie in einem Horrorfilm.“ | |
Esmahan Aykol: So war es auch in den ersten Tagen. Die Nacht des | |
Putschversuchs vom 15. zum 16. Juli war düster und traumatisch. Kampfjets | |
flogen über unseren Köpfen. Das Parlament wurde bombardiert. Tagelang gab | |
es Dschihad-Rufe aus den Moscheen. Zwei Bekannte hatten am Putschabend | |
einen Herzinfarkt. | |
Besonders nach der Großdemo vor etwas mehr als zwei Wochen haben Sie eine | |
bessere Stimmung im Land wahrgenommen. | |
Ja. Es herrschte eine mildere und weniger bedrückende Stimmung zwischen | |
Menschen verschiedener politischer Lager. Staatspräsident Erdoğan und die | |
Oppositionspolitiker haben sich einander angenähert. Vorher war die | |
Gesellschaft stark gespalten. Ich dachte: Es geht in die richtige Richtung. | |
Sind Sie immer noch so optimistisch? Jetzt, nachdem die Regierung die | |
kurdische Zeitung Özgür Gündem vor einer Woche geschlossen und Asli Erdo | |
ğan, eine über die Türkei hinaus bekannte Schriftstellerin, verhaftet hat? | |
Erdo ğan war ja Mitglied im Beirat der Zeitung und hat für sie geschrieben. | |
Jetzt ist alles wieder sehr ungewiss und besorgniserregend. Wohin treibt | |
die Türkei? Das ist schwer zu sagen. | |
Welche Absicht verfolgt die Regierung mit diesen Verhaftungen Ihrer Meinung | |
nach? | |
Ich kann nur vermuten: Mit der Schließung der kurdischen Zeitung will die | |
Regierung die einzig übrig gebliebene große Opposition, die Kurden, | |
unterdrücken. Sie übt Druck aus, um den Widerstand der kurdischen | |
Arbeiterpartei PKK zu brechen. Vermutlich will sie sie so indirekt zu | |
Friedensverhandlungen drängen, denn die Situation ist nicht haltbar: | |
Täglich gibt es zehn bis zwanzig Tote im Osten des Landes. | |
Asli Erdo ğan ist bekannt als unbequeme und regierungskritische | |
Schriftstellerin. Will die Regierung kritische Stimmen zum Schweigen | |
bringen? | |
Einen generellen Angriff auf die Meinungsfreiheit sehe ich in diesen | |
Verhaftungen zunächst nicht. Man kann aber schon sagen, dass die Stimmen | |
von Oppositionellen zu leise sind. Sie haben nur wenige Kanäle, um sich | |
Gehör zu verschaffen. 70 bis 80 Prozent der Medien gehorchen dem | |
Präsidenten Erdoğan und seiner näheren Clique. Das ist aber nicht neu. Für | |
uns sind wenige Alternativen im Internet und die sozialen Medien nach wie | |
vor um so wichtiger. | |
Seit dem Putschversuch hat die türkische Regierung rund 80.000 Menschen von | |
ihren Posten suspendiert oder entlassen. Von 40.000 Festnahmen ist die | |
Rede. Die Mehrheit der Betroffenen sind mutmaßlich Anhänger der | |
Gülen-Bewegung. Kennen Sie darunter aber auch andere, zum Beispiel | |
kritische Kulturschaffende? | |
Ein Bekannter ist einer von sieben Theaterschauspielern, die suspendiert | |
worden sind. Sein Name war auf einer Liste von Verdächtigten, die im | |
Internet kursierte. So viel ich weiß, hat er nichts mit der Gülen-Bewegung | |
am Hut. | |
Wie stehen Sie zur Gülen-Bewegung? In Ihrem letzten Buch kommen zwei ihrer | |
Anhänger vor. | |
Ich halte die islamistische Gülen-Bewegung für eine gefährliche Sekte. Ihre | |
Anhänger haben den Staat seit mehr als 40 Jahren mit unfairen Mitteln | |
unterwandert. Sie agieren verdeckt. Das haben sie in der Vergangenheit | |
unter Beweis gestellt: Ihre Kader im Staatsapparat haben unschuldige | |
kemalistische Militärs und Journalisten wegen angeblicher Putschversuche in | |
Gefängnisse gesteckt. Später hat das Oberste Gericht die Beweise für | |
gefälscht befunden. | |
Die eigentliche Gefahr geht aber gerade von der Erdo- ğan-Regierung aus. | |
Sicherheitsbehörden foltern laut Menschenrechtsorganisationen Inhaftierte | |
in Gefängnissen. | |
Ich verteidige nicht Erdoğan oder die menschenunwürdige Behandlung der | |
Inhaftierten. Als Linke bin ich aber lediglich Zuschauerin im Kampf von | |
Islamisten gegen andere Islamisten. Für mich unterscheiden sich diese | |
beiden Gruppen nicht groß voneinander. | |
Staatspräsident Erdo ğan hat zu Denunziationen von Gülen-Anhängern und | |
Kritikern im In- und Ausland aufgerufen. Das ist nicht fürchterlich | |
beklemmend? | |
Für uns ist das nicht neu. Erdoğan hatte sich schon vor dem Putschversuch | |
jede Woche mit Ortsvorstehern in seinem Palast getroffen und sie | |
aufgefordert, Oppositionelle zu denunzieren. | |
Haben Sie persönlich Angst? | |
Ja, weil ich nicht weiß, was als Nächstes kommt. Die Ungewissheit wird uns | |
aber noch eine Weile begleiten. Ich versuche, mich nicht von der Angst | |
lähmen zu lassen, und beteilige mich an Protestaktionen. | |
Wie ist die Stimmung unter Schriftstellern und anderen Intellektuellen in | |
Ihrem Umfeld? | |
Viele aus meinem Freundeskreis haben sich zurückgezogen. Andere, vor allem | |
prominente, beteiligen sich an der Kampagne für die Freilassung von Asli | |
Erdoğan. | |
Gewinnen Sie als Krimiautorin den aktuellen Ereignissen auch etwas | |
Positives ab? | |
Für meine Romane sind sie ein Segen. Jeden Tag lasse ich mich von | |
kriminellen Typen im Fernsehen inspirieren. Davon abgesehen: Krimis | |
verkaufen sich in der Türkei schlecht. Statt eines Krimis liest man hier | |
die Zeitung. | |
Wie sehen Sie die Zukunft der Türkei? | |
In der Türkei herrscht de facto Krieg. Seit dem ersten Bombenattentat in | |
der Stadt Suruç im Juni letzten Jahres gibt es immer wieder welche, wie | |
gerade am Sonntag in Gaziantep. Ich glaube, dass wir insgesamt auf einen | |
Dritten Weltkrieg zusteuern. | |
Gibt es auch Momente der Hoffnung? | |
Für die gesamte islamische Welt habe ich für die Zeit danach Hoffnungen. | |
Ich denke, dass die Zeit des Islam als Gesellschaftsentwurf irgendwann | |
ablaufen wird. Die Muslime werden die Islamisten vielleicht nicht morgen, | |
aber bestimmt in zehn oder zwanzig Jahren satthaben. | |
Welchen Stellenwert kann eigentlich die Literatur in diesen politisch | |
schwierigen Zeiten einnehmen? | |
Unter totalitären Regimen blüht die Literatur. Die Türkei macht gerade | |
eigenartige Zeiten durch. Wir haben eine faschistische Regierung. Viele | |
Künstler werden aus dieser Atmosphäre bestimmt großartige Schöpfungen | |
hervorbringen. | |
23 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Hülya Gürler | |
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