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# taz.de -- Kolumne Stimmen für Aslı Erdoğan: Angst, aber keine Überraschung
> Aslı Erdoğan ist in der Türkei inhaftiert. Freunde und Kollegen schreiben
> der Journalistin in dieser Serie – die Festnahme überrascht sie nicht.
Bild: Demonstration für die Pressefreiheit in der Türkei
„Denn Macht treibt zur Allmacht, Sieg zum Mißbrauch des Siegs, und statt
sich zu begnügen, viele Menschen so sehr für ihren persönlichen Wahn
begeistert zu haben, dass sie freudig bereit sind, für ihn zu leben und
sogar zu sterben, fallen diese Konquistadoren alle der Versuchung anheim,
Majorität in Totalität zu verwandeln und auch den Parteilosen ihr Dogma
aufzwingen zu wollen; nicht genug haben sie an ihren Gefügigen, ihren
Trabanten, ihren Seelensklaven, an den ewigen Zuläufern jeder Bewegung –
nein, auch die Freien, die wenigen Unabhängigen wollen sie als ihre
Lobpreiser und Knechte, und um ihr Dogma als alleiniges durchzusetzen,
brandmarken sie von Staats wegen jede Andersmeinung als Verbrechen. Ewig
erneut sich dieser Fluch aller religiösen und politischen Ideologien, daß
sie in Tyranneien ausarten, sobald sie sich in Diktaturen verwandeln.“
(aus: „Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt“ von
Stefan Zweig)
Vor genau achtzig Jahren hat diese Zeilen der große österreichische Autor
und Humanist Stefan Zweig verfasst. Interessant, oder? Es scheint, dass
repressive Regime einem sich wiederholenden Muster folgen und dass sie
dabei nicht allzu kreativ sind.
In der Türkei haben wir heute eine Regierung, welche die Realität selbst
zur Verschwörung gegen sich erklärt – und sie vielleicht auch tatsächlich
als solche wahrnimmt. Die rechtsextremen und rassistischen Tendenzen, deren
Aufstieg wir derzeit auch in anderen Teilen der Welt beobachten, werden von
den Meistern der inzwischen als „postfaktische Politik“ betitelten
Disziplin produziert, gestärkt und in Umlauf gebracht.
Die Rede ist von einer Politik, die nicht auf Wahrheiten basiert, sondern
auf den Ängsten ihrer Zielgruppe und die deren chauvinistische Sprache
beherrscht.
In Gesellschaften wie der unsrigen, wo es de facto nie einen aufrichtigen
Bezug zur Demokratie gegeben hat, sind die Konsequenzen einer solchen
Politik zweifellos verheerender als anderswo.
## Im Namen des „Nationalstolzes“
In einem Land, in dem Rektoratsassistenten behaupten: „Alle Probleme der
Türkei kommen von den Taten der Gebildeten!“, stellt Aslı Erdoğan als
weltbekannte Autorin, als renommierte Forscherin und als gewissenhafte
Intellektuelle natürlich eine Bedrohung dar.
So werden Aufgeklärte wie Aslı Erdoğan oder die Autorin Necmiye Alpay im
Namen des „Nationalstolzes“ verhaftet, von Menschen, die nicht annähernd so
viel für dieses Land geleistet haben und niemals so viel werden leisten
können wie diese eingesperrten Intellektuellen. Es ist beängstigend, doch
überraschend ist es nicht.
Von Regierungsanhängern hört man in letzter Zeit immer wieder dieses
Argument: Das Land habe eine große Gefahr überstanden. Es möge Verstöße
gegen das Recht geben, auch Verhaftungen von Unschuldigen. Doch sobald die
Türkei wieder in den Normalzustand zurückkehre, würden dem Volk seine
Rechte zurückgegeben und die Fehler wiedergutgemacht werden … Und so
weiter.
## Das Gehirn des Landes
Wann immer ich diese unverfrorenen Worte höre, muss ich an eine Geschichte
denken, die mir ein befreundeter Arzt einmal unter Tränen erzählte.
Es ging um ein Kind, das sich einer Gehirnoperation unterziehen musste. Der
behandelnde Chirurg habe den Tumor „endgültig“ entfernen wollen und habe
dabei ein etwas zu großes Stück des Gehirns entfernt. In der Konsequenz
habe das Kind sein Sprachvermögen vollkommen verloren und konnte seinen
Speichel nicht mehr im Mund behalten.
Auch das Gehirn dieses Landes liegt in den Händen eines schlechten
Chirurgen, ich möchte sagen, vielleicht sogar eines Metzgers, der glaubt,
wir als einfaches Volk hätten dieses Organ nicht nötig.
Bleibt zu hoffen, dass wir bald wieder zu Verstand kommen können.
22 Dec 2016
## AUTOREN
Alper Canıgüz
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