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# taz.de -- Kolumne Stimmen für Aslı Erdoğan: Von der Unlust, Märchen zu er…
> Unsere Autorin hört vor allem eine Frage oft: Was passiert eigentlich in
> deinem Land? Nach Erklärungen ist ihr schon lange nicht mehr zumute.
Bild: Ist die Geschichte der Türkei wie die einer Burg?
Vor dieser einen Nacht, als der Boden unter unseren Füßen bebte und der
Dachboden über uns erzitterte, war in unserer kleinen Gemeinde die
Schreckensbotschafterin für gewöhnlich ich gewesen. Als eine von zwölf
Künstler*innen und Autor*innen, die als Stipendiaten in einer
mittelalterlichen Burg in den Bergen nahe der italienischen Stadt Perugia
leben, wurde mir die Rolle zuteil, über tagesaktuelle Politik und Tragödien
zu berichten. Einmal mehr habe ich gelernt, dass das Schicksal von
türkeistämmigen Autoren noch vor ihrem literarischen Schaffen darin
besteht, von Politik und den damit verbundenen Katastrophen zu sprechen.
Wie könnte es denn anders sein in diesen Tagen? Egal, in welches Gebirge
ich mich flüchte oder in welchem Schloss ich mich verstecke, letztlich gibt
es nur einen Ort, an den ich zurückkehren werde. Viel öfter als die Frage,
worüber ich schreibe, höre ich folgende: Was passiert eigentlich in deinem
Land? Ein versuchter Putsch, Tote, Massengräber, Rätsel darüber, wer von
wem wie hintergangen wurde, alle Ereignisse aus Jahrzehnten zuvor und
natürlich Krieg. Eigentlich ist dir weder nach Erzählen noch nach Erklären
zumute. Aber mit den Gedanken bist du stets dort – sobald du online gehst,
gieren deine Augen nach Nachrichten und dein Herz ist so schwer wie das
Tagesgeschehen.
Dabei ist es möglich, die Geschichte dieses Landes, aus dem ich stamme, das
etliche Kriege und Erdbeben erlebt hat, gleich der Geschichte dieser Burg
wie ein Märchen zu erzählen. Schließlich ist man es im Westen gewohnt,
Märchen aus dem Osten zu hören. Aber mal abgesehen von meiner Unlust,
Märchen zu erzählen: Was ist, wenn der Osten alles andere als märchenhaft
ist? Vielleicht hat dieses Land mit seinen etlichen Geflüchteten an seinen
Landesgrenzen und den Bombenanschlägen seinen exotischen Zauber verloren
und ist nur noch ein Ort der Angst?
Nur einen Tag vor dem verheerenden Beben in Perugia, das mich übrigens mit
seinen grünen Feigen und den jahrhundertealten Olivenbäumen an die Ägäis
und mit seiner Küche und der roten Erde an Anatolien erinnert, sprach ich
mit einem griechischstämmigen Künstler aus England darüber, ob der Ort und
die Sprache seines Herkunftslandes das Schicksal eines Schriftstellers
bestimmt. Ich berichtete von Schriftstellern und Journalisten, die nur
aufgrund ihrer Texte festgenommen wurden und seit Jahren in Haft saßen.
Michael, der auf die griechische Aussprache seines Namens bestand,
erinnerte an seine Großmutter, die vor fast einem Jahrhundert gezwungen
war, aus Izmir zu fliehen. Seine Erzählung war persönlich und schmerzhaft,
lag aber in der Vergangenheit, meine hingegen passierte gegenwärtig, auch
wenn sie nicht persönlich war, schmerzte sie und war ermüdend.
Ich erzählte ihm von Aslı Erdoğan, die unter großen persönlichen
Entbehrungen Romane und Geschichten schrieb. Michael war bestürzt, aber
nicht überrascht. Er wusste, dass in Ländern wie in der Türkei die
Leidenschaft des Schriftstellers nicht nur ihm selbst gelten darf, fiktive
Texte nicht genug waren und Widerspruch sofort erfolgen muss.
Traurigerweise werden gerade dort, wo Texte am wenigsten geschätzt werden,
die meisten Autoren bestraft.
Als wir uns in derselben Nacht durch zitternde Mauern über klirrende
Korridore ins Freie retteten, wurde uns bewusst, dass sich ein Erdbeben
ereignet hatte. Zum Schmerz, den Menschen einander zufügten, addierte sich
nun der Schmerz, verursacht durch die Natur. Und selbst inmitten dieser
Katastrophe, wo Hunderte Menschen ihr Leben und Obdach verloren hatten,
schmerzte mich am meisten der Gedanke an unsere eigenen Erdbeben.
Beim Blick hinab vom Turm der Burg hoch in den Bergen sehe ich unseren
gesellschaftlichen Absturz, aus den Abgründen Italiens wähle ich unseren
eigenen. Obwohl ich den Spruch des arabischen Historikers Ibn Khaldun,
„Geografie ist Schicksal“, mehr und mehr ablehne, bin ich besorgt über die
Entwicklung „meiner Geografie“ – die Entwicklung des Landes, in das ich
bald zurückkehren werde.
Aus dem Türkischen von Canset Içpınar
20 Jan 2017
## AUTOREN
Menekşe Toprak
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Aslı Erdoğan
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Schwerpunkt Türkei
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