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# taz.de -- Bildung in der Türkei: Evolutionstheorie ist islamisch
> Die Türkei will die Evolutionstheorie aus dem Unterricht verbannen. Die
> Politiker in Ankara sollten einen Blick in die islamische Geschichte
> werfen.
Bild: Bagdad war ein wichtiges Zentrum islamischer Gelehrsamkeit, Holzschnitt v…
Als Hoca Tahsin Efendi Mitte des 19. Jahrhunderts nach Konstantinopel
zurückkehrte, war er überzeugt: „Alle Arten verändern sich und unterliegen
einer dauernden Evolution.“ Zwölf Jahre lang hatte der Naturwissenschaftler
und Philosoph zuvor auf Geheiß des osmanischen Großwesirs Reşit Pascha in
Europa studiert. Als Erster brachte er nun die gerade veröffentlichte
Lehren Charles Darwins über die Entstehung des Lebens zurück in seine
osmanische Heimat. Seine Wissbegierde zahlte sich aus: Im Jahr 1869 wurde
Hoca Tahsin Efendi in Konstantinopel zum Direktor der ersten Universität
des Osmanischen Reichs ernannt. Und bald schon war auch dank ihm die
Evolutionstheorie Darwins nicht mehr aus den türkischen Lehrplänen
wegzudenken.
Bis vor zwei Wochen. Da kündigte das türkische Bildungsministerium an, die
Lehre von der Entstehung des Lebens via Vererbung, Mutation und Selektion
aus dem schulischen Unterricht zu streichen. Es handle sich um eine
„archaische Theorie“, die kaum belegt sei, hatte schon Anfang dieses Jahres
der türkische Vizepremier Numan Kurtulmuş gewettert. Als „zu fragwürdig, zu
kontrovers und zu kompliziert für Schüler“ bezeichnete sie nun ein
Vertreter des türkischen Bildungsministeriums und kündigte an, ab dem Jahr
2019 den „eurozentrischen Unterricht“ durch die Lehren muslimischer und
türkischer Wissenschaftler zu ersetzen.
Die Mächtigen in Ankara haben wohl selbst nicht gut aufgepasst in der
Schule. Sonst wüssten sie, dass islamische Gelehrte über Jahrhunderte zu
Erkenntnissen kamen, die den Lehren Darwins nicht unähnlich waren.
## Systematik von Tierarten
Schon im 9. Jahrhundert und damit rund 1.000 Jahre vor „On the Origin of
Species“ stellte der arabisch-afrikanische Lyriker und Lexikograf
al-Dschāhiz in einer siebenbändigen Enzyklopädie eine Systematik von 350
verschiedene Tierarten auf. In seinem „Buch der Tiere“ umriss al-Dschāhiz
nicht nur als einer der Ersten das Prinzip tierischer Nahrungsketten. Was
Darwin beim Anblick von Schildkröten und Finken erkannte, fiel al-Dschāhiz
bei der Beobachtung von Tauben, Hunden und Füchsen auf: Vertreter derselben
Tierart, die an unterschiedlichen Orten leben, weisen oft große
Unterschiede in ihrer äußeren Gestalt auf. Al-Dschāhiz war überzeugt, das
Leben befände sich in einem ständigen Entwicklungsprozess. Die Mechanismen
dieser „Evolution“ waren schon bei ihm: Anpassung an die natürliche Umwelt
und der Kampf ums Überleben.
Rund 100 Jahre nach al-Dschāhiz sorgte im heutigen Afghanistan der
persische Universalgelehrte al-Biruni in vielerlei Hinsicht für Aufsehen:
Als Mathematiker berechnete er den Erdumfang auf rund 40 Kilometer genau.
Als Astronom stellte er das damals gängige heliozentrische Weltbild
infrage. Und als Geologe kam er zu Erkenntnissen, die für spätere
Auffassungen von Evolution maßgeblich sein sollten. Aus Untersuchung von
Gesteinen und Fossilien schloss al-Biruni, dass die Entwicklung des Lebens
schon lange vor dem Menschen eingesetzt haben und so langsam abgelaufen
sein müsse, dass der Mensch diese nicht ohne Weiteres beobachten könne.
## Platz auf Noahs Arche
Wie viele andere Gelehrte des „Goldenes Zeitalter des Islam“ richteten sich
al-Dschāhiz und al-Biruni damit gegen die Vorstellung eines
abgeschlossenen, zeitlich begrenzten Schöpfungsakts. Ihm setzten sie die
Idee der kontinuierlichen Entwicklung des Lebens entgegen. Das mag aus
heutiger Sicht banal klingen aber zur Erinnerung: Im christlichen Europa
bestand der „wissenschaftliche“ Konsens der damalige Zeit in der
Bestätigung der biblischen Schöpfungsgeschichte, wonach die Artenvielfalt
allenfalls durch den Platz auf Noahs Arche determiniert wurde.
Eine These, mit der sich auch heutige Kreationisten – gleich ob christlich
oder muslimisch – nicht anfreunden können, stellte im 13. Jahrhundert ein
persischer Philosoph auf: die Verwandtschaft zwischen Mensch und Affen. In
seinem Werk „Akhlaq-i Nasiri“ (Arbeit über die Ethik) ergründet Nasir
al-Din al-Tusi die moralische, wirtschaftliche und politische Dimension des
Menschen. In Anlehnung an die antike Vorstellung von einer stufenartigen
Rangordnung des Lebens, ging auch al-Tusi von einer kontinuierlichen
Entwicklung des Lebens aus: von den kleinsten Bausteinen der Welt bis hin
zur spirituellen Perfektion des Menschen. Seine Erkenntnisse kulminieren
unter anderem in diesem Satz: „All diese Fakten belegen, dass das
menschliche Wesen auf die mittlere Stufe der evolutionären Treppe gesetzt
wurde. Seiner ihm innewohnenden Natur zufolge, ist der Mensch verbunden mit
niederen Wesen und nur mit der Hilfe seines Willen kann er ein höhere
Entwicklungsstufe erreichen.“
Wiederum rund 100 Jahre später erblickte ein Mann die Welt, der bis heute
als Superstar islamischer Gelehrsamkeit gilt: Der nordafrikanische
Philosoph Ibn Khaldun war überzeugt, dass sich der Mensch „aus der Welt der
Affen“ entwickelt habe. In seinem 1377 fertiggestellten Hauptwerk „Die
Muqaddimah“ (Einleitung) ordnet er die menschliche Existenz in eine
kontinuierliche Entwicklung des Lebens ein, ein „stufenweiser Prozess der
Schöpfung führte schließlich zum Menschen, der zu denken und zu
reflektieren vermag.“
## Ibn Khalduns Gedanken in Europa
Auch in Europa blieben die islamischen Theorien über die Entstehung des
Lebens nicht unbekannt. Noch 1874 schrieb der britische
Naturwissenschaftler John William Draper in seinem Werk „History of the
Conflict between Religion and Science“ von einer „Mohammedanischen Theorie
der Evolution“, nach der sich „der Mensch von niederen Formen … zu seinem
heutigen Zustand im langen Zeitverlauf“ entwickelt habe. Gemeint hatte
Draper wahrscheinlich die Lehre Ibn Khalduns.
15 Jahre zuvor hatte Charles Darwin sein „On the Origin of Species“
veröffentlicht, das gemeinsam mit den Vererbungslehre Gregor Mendels bis
heute unsere Vorstellung von der Entwicklung des Lebens prägt. Es wäre
irreführend, die empirisch akribische Arbeit dieser beiden
Naturwissenschaftler mit den eher philosophischen Evolutionslehren
islamischer Denker gleichzusetzen.
Doch es waren es islamische „Aufklärer“ wie Ibn Khaldun und viele andere,
die Europa aus seiner religiös-mittelalterlichen Lethargie hinein in die
wissenschaftsfreundliche Neuzeit verhalfen. Ob in Philosophie, Medizin,
Mathematik oder eben auch Biologie: Europäische Denker bedienten sich
ausgiebig am Wissensschatz der mittelalterlichen islamischen Welt, die
wiederum vom antiken Erbe Europas profitierten. Und noch etwas vereint die
Geschichte der Evolutionstheorie diesseits wie jenseits des Bosporus:
Wissenschaft und Philosophie konnten immer nur in dem Maße erblühen, wie
die jeweiligen politischen und geistlichen Herrscher dies zuließen.
Politiker, die dieses gemeinsame Erbe leugnen, um ungeliebte
wissenschaftliche Erkenntnisse zu stigmatisieren, stehen deshalb eher in
der Tradition des religiös-bornierten Mittelalters Europas als des
wissenschaftsfreundlichen Mittelalters der islamischen Welt. Der osmanische
Großwesir Reşit Pascha hatte das vor rund 150 Jahren zum Glück erkannt.
Seinen Nachfolgern in der heutigen Türkei wäre dies auch zu wünschen.
16 Jul 2017
## AUTOREN
Fabian Köhler
## TAGS
Charles Darwin
Islam
Schwerpunkt Türkei
Türkei
Islam
Geschlechterrollen
Aslı Erdoğan
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