# taz.de -- Kolumne Stimmen für Aslı Erdoğan: Schaut her, hierher! | |
> Ein Blick in die Geschichte zeigt: Es ist einfach, seine Menschlichkeit | |
> abzulegen, aber es ist es ebenso schwer, sie aufzugeben. | |
Bild: Man kann Krieg führen. Oder man kann tanzen | |
Oft wurde davon gesprochen, es wurden Filme darüber gedreht, Bücher | |
geschrieben. Sie erzählen die Geschichten von Soldaten, den Soldaten der | |
Schlacht von Gallipoli, die in den Feuerpausen, im Schützengraben liegend, | |
die Ohren gespitzt, den Liedern ihrer Gegenüber auf der anderen Seite | |
lauschten. Die einander Schokolade, Zigaretten und andere Dinge zuwarfen. | |
Die übereinander fluchten und miteinander scherzten, und wenn der Morgen | |
anbrach, am Abzug bereit, jenen Mann töteten, dessen Lied sie voller Wehmut | |
noch vergangene Nacht gehört hatten. Es ist ein Sinnbild, die berühmte | |
Metapher der zwei Kugeln, die sich in der Luft trafen und miteinander | |
verschmolzen – für einen grausamen Krieg und dessen Bedeutungslosigkeit. | |
Wieder der Erste Weltkrieg: Deutsche und französische Soldaten klettern an | |
Heiligabend aus ihren Schützengräbern, um gemeinsam zu feiern. Sie spielen | |
Fußball. Es heißt, die Deutschen hätten 5:4 das Spiel gewonnen, es heißt | |
auch, dass sich die Soldaten so gut verstanden, dass einige von ihnen nicht | |
wollten, dass ihre Gegner sterben. So täuschten sie ihre Aufklärungstruppen | |
und gaben falsche Meldungen weiter, damit den anderen genug Zeit zum | |
Fliehen und vielleicht zum Überleben blieb. | |
Dies sind einige der wenigen ermutigenden Beispiele dafür, dass nicht nur | |
Krieg, sondern auch Frieden in der Natur des Menschen liegt. Jene, die | |
Verwundete auf ihrem Rücken tragen, die die religiösen Bräuche eines Toten | |
lernen und sich bemühen, diesen den Regeln nach zu bestatten, die einen | |
Liebesbrief in der Tasche „ihres Feindes“ finden und sich abmühen, diesen | |
um jeden Preis dem Empfänger zuzustellen. | |
Es gibt viele Beispiele von modernen Kriegen, in denen versklavte Soldaten, | |
gegen jedes internationale Abkommen verstoßend, zu Tausenden ermordet | |
wurden. Allerdings sind auch Geschichten wie eben beschrieben möglich, die | |
den Krieg innerhalb nur eines einzigen Moments der Bedeutungslosigkeit | |
preisgeben können. Denn egal wie einfach es ist, seine Menschlichkeit | |
abzulegen, ist es doch ebenso schwer, sie aufzugeben. Ein Mensch trägt den | |
Mörder und den Heiligen zu gleichen Teilen in sich, manchmal beschützt er | |
seinen Feind, und manchmal tötet er einen geliebten Menschen. | |
Die einzige Form des Krieges, die nicht in die Zuständigkeit von | |
internationalem Recht fällt, heißt Bürgerkrieg. In ihm stehen sich | |
Nachbarn, Geschwister, ein ganzes Volk, die erfundene und unheilvolle | |
Gesellschaft namens Nation, einander im Kampf gegenüber. Dabei gehen ihnen | |
die Motive zu streiten nicht aus. Egal ob jemand zu viel oder zu wenig | |
spricht, gut oder schlecht gelaunt ist. Manchmal kommt es so weit, dass so | |
ziemlich alles ein Grund dafür sein kann, sich an die Gurgel zu gehen. | |
Und manchmal kommt der Moment, da erhältst du die seltene Gelegenheit, die | |
Bekanntschaft mit Schmerzen zu schließen, die du dir nicht im Leben hättest | |
vorstellen können. Dieser Moment ist die Schwelle zu einer Brüderlichkeit, | |
der Anfang eines heiligen Friedens. | |
In diesem kannst du die Geheimnisse ergründen von Kindern, deren Alter zur | |
Volljährigkeit erhoben wurde, um sie zu hängen; von Generationen, deren | |
Wille in Folterkammern gebrochen wurde; von Menschen, die in | |
Kellergeschossen bei lebendigem Leib verbrannt wurden. | |
## Wir sind es, die weinen | |
Du wirst das Bewusstsein, das Selbstvertrauen und die Dreistigkeit | |
verstehen, mit der blutrünstige Traditionen wie das Erschießen | |
unbewaffneter Menschen praktiziert werden. Und während sie mittellose | |
Rekruten auspeitschen und in ihre jungen Gesichter treten, könntest du für | |
einen Moment innehalten und dich daran erinnern, dass zu Zeiten auch du | |
anstelle des Rekruten stehst. | |
Jeder von uns hat Schmerzhaftes zu berichten. Wir sollten zumindest eine | |
Idee davon haben, wer die Verantwortung für diese Qualen trägt. Wir | |
sollten, und wenn auch nur ein kleines bisschen, ein Gefühl für die | |
dreckigen Geschäfte bekommen, die über unsere Köpfe hinweg abgewickelt | |
werden, die uns hin und her schleudern und dafür sorgen, dass wir nach dem | |
Leben des anderen trachten. | |
Jene über uns interessieren sich nicht für uns. Ihnen sind unsere Leben und | |
unsere Werte nicht wichtiger als das Geld in ihren Kassen oder ihre Aktien. | |
Sie werden schon ihren Weg finden, und sie würden dafür jede Art von | |
Streich spielen. Um keinen Preis wollen sie, dass wir wissen, dass es weder | |
die Monster noch die Sünder gibt, deren Existenz sie uns weismachen wollen. | |
Denn sie sind es, die zum Tode verurteilen. Wir sind es, die weinen. | |
Es geht darum, nicht nur gegen einen, sondern gegen jeglichen Putsch zu | |
sein. Es geht darum, zu erkennen, dass auf dem sinkenden Schiff, auf dem | |
wir uns alle befinden, nur wenigen das Rettungsboot zugänglich ist. Es geht | |
darum, zu begreifen, dass jene, die Auftragsmörder auf uns ansetzen, uns | |
weder Leben noch Freude gönnen. | |
Schaut her, hierher! Hier lebt ein gewaltiges Volk, das würdevoll, mit | |
Gebet, Tanz und Liebe, mit seinen Kindern, gleichberechtigt, erhobenen | |
Hauptes und geschwisterlich zusammenleben will. Egal, was ihr noch mit | |
euren Auftragskillern, durchgeknallten Putschisten oder mörderischen | |
Faschisten vorhabt, wir werden gewinnen, der Frieden wird siegen! | |
Aus dem Türkischen von Canset Icpinar | |
26 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Murat Uyurkulak | |
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