# taz.de -- Kolumne Stimmen für Aslı Erdoğan: Geduldige Verse | |
> Der Tag, an dem die vergangene Parlamentswahl in der Türkei stattfand, | |
> war ein schöner. Viele pflanzten einen Baum. Dieser Tag ist lange her. | |
Bild: Irgendwo über Istanbul fliegt sie noch, die Taube | |
„Behalte den Flug im Gedächtnis. | |
Der Vogel ist sterblich.“ | |
Forough Farrokhzad | |
Der 7. Juni war ein schöner Tag. Ein schöner Tag in einem heißen Sommer. | |
Ich saß mit einem Freund bei Kebap und Raki. Viele pflanzten einen Baum an | |
diesem Tag. Eine kleine, zarte Pflanze. Die Hoffnung gesellte sich als | |
junge Taube zu uns an den Tisch. Was wird nun geschehen?, fragte ich. Der | |
Freund trank einen Schluck und sagte: Er wird das Land ins Chaos stürzen. | |
Die nächsten Tage streifte ich durch Kasımpaşa und lauschte den Gebetsrufen | |
der Simitçi. Sie trugen alle dasselbe karierte Sakko. Sie blickten | |
freundlich, aber sobald man ihnen die 50 Kuruş in die Hand gedrückt hatte, | |
schrien sie. Brüllten, dass die Katzen sich in Hauseingängen versteckten | |
und die Glühbirnen flackerten. Es schien, als hätten sie sich verschworen. | |
Man gab ihnen, was sie wünschten, sie stillten einen kurzen Hunger – doch | |
dann verschwand das freundliche Lächeln ganz schnell. Ich mochte ihre | |
Simits. | |
Aber ach, wie sehr man sich in Menschen täuschen kann. Ihre Geschäfte | |
liefen gut. Man sah sie bald überall. Am Taksim, auf Heybeli, sogar in | |
Beşiktaş. Als ich einen dürren, armen Hund mit einem Simit fütterte, bauten | |
sie sich drohend vor mir auf. Sie wurden mehr, sie fühlten sich stärker. | |
Sie wollten, dass auch ich mich kariert kleide, sie drohten mir. | |
Ich esse seither kaum noch Simits. Haltlos zog ich durch Istanbul. Ich | |
suchte in ihr die einstige Geliebte, und manchmal erblickte ich etwas von | |
ihr. Aber sie war nicht mehr dieselbe. Am Ende jeder Gasse Absperrgitter | |
und tief in die Stirn gezogene Mützen. | |
Einige Mutige gruben mit ihren Händen ein kleines Loch in den Straßenstaub | |
und legten Saatkörner hinein. Aber die Simitçi sahen es und nahmen sie mit. | |
Für jeden, den sie mitnehmen, stehen an genau der Stelle Verse von | |
Gedichten an den Wänden der Häuser, auf den Planken der Parkbänke, auf den | |
Pflastersteinen, auf den Blättern vertrocknender Bäume. | |
## Verzweifeltes Schrubben | |
Ich habe nie gesehen, wie jemand eines dieser Gedichte schrieb, aber sie | |
sind da, und es werden mehr. Sie sind nicht abwaschbar. Wer die Gedichte | |
löschen will, müsste die Mauern einreißen. Aber sie stehen auch auf den | |
Wänden der Häuser der Simitçi. | |
Sie schrubben verzweifelt, sie wüten und poltern dabei, sie nehmen jeden | |
mit, der über sie lacht, und das führt zu neuen Versen und immer neuen | |
Versen. Die Verse sind da. Niemand kann sie einsperren, niemand kann sie | |
anklagen. Nur sie wissen, wer sie geschrieben hat. Sie warten. Sie sind | |
geduldig. | |
Der 7. Juni war ein schöner Tag. Er ist lange her. Den Baum hat jemand | |
ausgerissen. „Hey“, sagte er, als er es tat. Und die Taube hat seither | |
niemand mehr gesehen. Aber sie ist da irgendwo, hoch oben. Ich weiß es. Sie | |
wirft einen Schatten. Sie fliegt. | |
9 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Gerrit Wustmann | |
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