# taz.de -- Hamburgs Stadtschreiberin und eine Frau ohne Vergangenheit: Schreib… | |
> Hamburgs Stadtschreiberin Doris Konradi wird an drei Orten arbeiten: dem | |
> Bergedorfer Schloss, dem Ohnsorg-Theater und der Kulturwerkstatt in | |
> Harburg. | |
Bild: Der Computer ist eigentlich pfui, und im Hintergrund äugt mahnend der Do… | |
HAMBURG taz | In der Stille wird das Museum laut. Das hört ein | |
Museumsleiter vielleicht nicht gern, aber wir reden jetzt mal von der | |
Realität. Und da ist es eben so, dass täglich fünf, sechs Besucher | |
vorbeikommen bei Doris Konradi. Die sitzt nicht irgendwo: Mitten im | |
Bergedorfer Schloss arbeitet Hamburgs Stadtschreiberin, genauer: im | |
Soltau-Zimmer – als lebender Teil der Ausstellung. | |
Insgesamt drei Monate lang, noch bis Ende Oktober, bekleidet die 55-jährige | |
Kölnerin dieses Amt, das im Mittelalter eins der mächtigsten war, und gar | |
den Bürgermeister in Politik- und Rechtsfragen beriet. Hochdotiert war es | |
außerdem. Das ist heute anders: Stadtschreiber sind Stipendiaten mit eher | |
kreativ-seismografischen Talenten. Sie kommen von außen, haben den Blick | |
des Fremden, und genau das motiviert etliche Städte, Vereine und Sponsoren, | |
das Amt regelmäßig auszuschreiben. | |
## Bloß keine idyllische Abgehobenheit | |
Die Geschichte des Hamburger Stadtschreiber-Stipendium begann 2010 mit | |
einem Literaturwettbewerb des Fördervereins Kulturelle Initiativen. 2013 | |
wurde daraus dann ein Stipendium im Bergedorfer Schloss: Einen Monat lang | |
durfte ein Stadtschreiber dort im Turmzimmer sitzen, finanziert teils von | |
der Hamburger Kulturbehörde, teils durch Sponsoren. | |
Das war idyllisch und schön, aber eben nur eine Facette. Und damit der | |
Stadtschreiber nicht abgehobener Schloss-Schreiber blieb, erweiterte man | |
das jährlich vergebene Stipendium zuletzt auf drei Monate an drei Orten: | |
zunächst, wie bisher, das Schloss. Es folgt eine Station als | |
„Mittenmang-Schreiber“ im Foyer des Ohnsorg-Theaters. Zum Schluss geht es | |
als „Binnenhafen-Schreiber“ in die Kulturwerkstatt im Stadtteil Harburg, in | |
den Hamburger Süden also. | |
Aus der Region kommen die Eltern von Doris Konradi, die sich unter 130 | |
Bewerbern durchsetzte, und das, der Ausschreibung gemäß, mit einem Essay | |
über Fassaden. Fassade stellt sie selbst keine zur Schau, spricht offen | |
lächelnd über ihre Arbeit. Erwähnt auch, freundlich und gelassen, dass in | |
ihrer Wohnung Köln-Porz, wo sie mit Mann und Töchtern wohnt, oft die | |
Flugzeuge übers Dach dröhnen. Und dass es im Bergedorfer Turmzimmer | |
manchmal eng wird, weil man die Fenster nicht öffnen darf. | |
In Hamburg möchte sie unter anderem ihrer Familiengeschichte nachspüren: | |
Den Großeltern, die aus Polen nach Hamburg einwanderten, genauer: | |
Wilhelmsburg, um in einer Ölfabrik zu arbeiten. Als Kind hat die Enkelin | |
sie manchmal besucht. Das ist lange her, geblieben sind Puzzleteile: Worte, | |
Mythen, Geschichten, die sie jetzt mit der Realität abgleichen möchte. | |
Ein Beispiel? „Ja, es hieß immer, die Eltern hätten sich zum Tanz immer bei | |
‚Stüben‘ getroffen“, sagt sie. Das Lokal gebe es heute nicht mehr, den O… | |
vielleicht schon. Oder die Geschichte vom Vater, der sich als Kind während | |
des Zweiten Weltkriegs im finsteren Wilhelmsburger Bunker verirrt habe: „Er | |
muss während des Bombenalarms eingeschlafen sein“, vermutet Konradi, „und | |
wieder aufgewacht, als alle schon weg waren.“ Ein Trauma muss das gewesen | |
sein, durchs viele Erzählen irgendwann zur Anekdote geworden, vermeintlich | |
verarbeitet und doch stets präsent. „Es ist interessant, wie sich so eine | |
Geschichte vom realen Erlebnis entfernt“, sagt Konradi. | |
## Eine Autodidaktin, im Großen und Ganzen | |
Oder wie es zu Kunst wird, zu einer den Schmerz umhüllenden Gattung: Die | |
Literatur ist Konradis Metier, das sie, von ein paar Drehbuch-Kursen | |
abgesehen, autodidaktisch gelernt hat – nach angefangenem Studium der | |
Germanistik- und Romanistik sowie einem abgeschlossenen der | |
Volkswirtschaftslehre. Inzwischen kann Konradi zwei Romane und einen | |
Erzählungsband vorweisen, bekam Stipendien der Kunststiftung NRW und der | |
schleswig-holsteinischen Gemeinschaft der Künstlerinnen und Kunstförderer | |
(Gedok). | |
Ihre Bücher handelten ausdrücklich vom Vergangenen: Der Roman „Fehlt denn | |
jemand“ (2005) von einem NS-Großvater, „Frauen und Söhne“ (2007) von der | |
früheren Liebesbeziehung einer Mutter, die das heutige Verhältnis zu ihrem | |
Sohn prägt. Nebenher erarbeitet Konradi mit anderen Künstlern eine | |
Performance über eine Frau ohne Vergangenheit. | |
Und jetzt, auch im Schreiben: „Ich will eine Frau ohne Vergangenheit | |
erfinden“, sagt Konradi. Eine, die neu anfängt, aus dem Früher weder Leid | |
noch Stolz bezieht. Ein bisschen wie Konradi selbst, geworfen in eine | |
Umgebung, wo sie niemand kennt. „Mich interessiert, wie jemand ohne | |
vordefinierte Identität die Gegenwart wahrnimmt. Wie ein Kind, aber nicht | |
mit Kinderblick.“ „Dass ich die Welt durchs Schreiben besser verstehe, | |
behaupte ich nicht“, sagt Konradi. Wohl aber kann sie reale Eindrücke zu | |
einem fiktiven Mosaik zusammenfügen, per Hand oder Computer, je nach | |
Situation. | |
Im Zimmer im Bergedorfer Schloss von 1705 steht zum Beispiel kein Computer, | |
da muss es der Papierbogen sein. Das ist ungewohnt, anderseits: „Es fällt | |
mir leichter, einen handgeschriebenen Text umzubauen. Das ist noch so offen | |
und variabel, man kann durchstreichen und drüberschreiben“, sagt Konradi. | |
„Wenn der Text erst mal im Computer ist, bekommt er durch das gedruckte | |
Schriftbild eine Autorität. Wobei das ja eigentlich Quatsch ist“, sagt sie | |
und lacht. „Man kann ja löschen.“ | |
Aber es geht hier auch um Intuition. Die bestimmt, ob eine Geschichte von | |
Hand oder per Computer entsteht. „Das entscheide ich gar nicht selbst“, | |
sagt sie. „Ich gehe danach, was sich besser anfühlt.“ Und dann gibt es | |
diese Momente, „wo ich im Café sitze, plötzlich einen Satz habe und dann | |
sofort die ganze Geschichte aufschreibe“, erzählt sie. „Das ist wunderbar, | |
passiert aber nicht immer.“ | |
An anderen Geschichten arbeitet sie sich lange ab, sucht nach dem richtigen | |
Stoff, Ton, Detail. „Die Protagonistin der Erzählung ,Die Hühneresserin' | |
war für mich lange eine gestandene Frau in den Vierzigern mit sechs | |
Kindern“, sagt sie. „Aber es funktionierte einfach nicht. Irgendwann habe | |
ich gemerkt: Das ist ein junges Mädchen.“ | |
Und wie fühlt es sich an, in diesem geschichtsbeladenen Schloss zu | |
schreiben, wo ihr Dietrich Soltau, 1827 verstorbener | |
Don-Quichote-Übersetzer, vom Porträt über die Schulter schaut – schüchtert | |
das nicht ein? Nein, Doris Konradi sieht es ganz gelassen. Sie ist froh, | |
dass sie in den drei Monaten nicht unbedingt einen Hamburg-Text schreiben | |
muss – oder überhaupt einen: Die Lesungen zum Schluss ihrer Amtszeit darf | |
sie auch mit früheren Texten bestücken, und für Eindrücke ihrer täglichen | |
Streifzüge hat sie ihren Blog: [1][hamburger-gast.de]. | |
Und wenn ihr mal nichts einfällt und auch kein Besucher vorbeikommt? Dann | |
läuft sie im Haus herum wie ein Kind, das auf dem Dachboden stöbert, gerät | |
in eine Märchenwelt. „Als ich einmal kurz vor Museumsschließung in die | |
nachgebaute Bauernkate ging und es aus dem Alkoven plötzlich schnarchte, | |
habe ich mich unglaublich erschrocken“, sagt sie und lacht. Und wenn sie | |
die Trachtenfiguren sieht, stellt sie sich vor, da sprängen Menschen herum, | |
tanzten Geister und Ahnen. | |
## Schreiben nur über andere | |
„Es stimmt schon: Wenn man allein ist, wird das Museum lebendig“, sagt | |
Doris Konradi. Trotzdem, der Museumschef braucht sich nicht zu sorgen. Das | |
sagt ja nur eine dieser verrückten KünstlerInnnen, die mehr in der Fantasie | |
hausen als in der Realität. Über ihr eigenes Leben zum Beispiel würde sie | |
nie schreiben, sagt sie. „Das fände ich nicht spannend genug. Da erfinde | |
ich lieber und frage mich: Was wäre, wenn?“ | |
19 Aug 2016 | |
## LINKS | |
[1] http://hamburger-gast.de | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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