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# taz.de -- Neo-viktorianischer Roman: Frau ohne Eigenschaften
> Jeffrey Eugenides zeigt, wie schwierig es ist, im 21. Jahrhundert einen
> viktorianischen Roman zu schreiben. "Die Liebeshandlung" versteht die
> zeitgenössische Frau nicht richtig.
Bild: Nichts für lüsterne Gemüter: In der viktorianischen Storyline war die …
Will man der Literatur Glauben schenken, so müssen die Menschen im
viktorianischen England vor erotischer Spannung fast geplatzt sein.
Die strikte gesellschaftliche Geschlechtertrennung und Rollenverteilung,
die räumliche und geistige Beschränkung des weiblichen Geschlechts auf den
Haushalt sowie die Bedeutung, die man der Wahrung des Anstands beimaß,
führten dazu, dass es Angehörigen unterschiedlicher Geschlechter fast
unmöglich gewesen sein muss, sich zwang- und absichtslos zu begegnen.
Das wissen wir aus den Romanen Jane Austens, Elizabeth Gaskells oder der
Schwestern Brontë. Lebt man einsam auf dem Land, müssen sich junge Mädchen
zwangsläufig in den einzigen anwesenden jungen Mann schicksalhaft
verlieben, was zu einem dramatischen Erzählanlass werden kann, wenn dieser
kein standesgemäßes marriage material ist ("Sturmhöhe" der Pastorentochter
Emily Brontë).
Auch in einer Kleinstadt sind die Gelegenheiten dünn gesät. Der jährliche
Offiziersball gerät da zum Riesenereignis, ist jedoch tendenziell
gefährlich, weil mitunter auch erster Anlass zur Unzucht - wie in Austens
"Stolz und Vorurteil", worin die leichtlebige Lydia mit einem Offizier
durchbrennt, während die tugendhafte Elizabeth sich mit spitzen Bemerkungen
über den hochmütigen Mr. Darcy begnügt.
## Anständige Frauen wollen keinen Sex
Elizabeth und Darcy werden, wenn sie am Ende des Romans zum Ehepaar
geworden sind, nicht einmal Händchen gehalten haben. Körperliche Formen
geschlechtlicher Zuneigung sind etwas für die Lydias jener Welt. Anständige
Frauen aber wollen keinen Sex, sondern geheiratet werden. Und das will erst
einmal geschafft sein. Es dauert meist einen ganzen Roman lang. Das, in
Kurzform, ist der klassische marriage plot.
"The Marriage Plot" heißt nun Jeffrey Eugenides neuer Roman im Original,
kaum zu übersetzen und daher mit dem deutschen Titel "Die Liebeshandlung"
(aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Rowohlt, 624
Seiten, 24,95 Euro) auch nicht ganz getroffen. Das macht aber nichts, denn
ebendiese Übersetzungsunschärfe spiegelt das Spannungsfeld wider, in dem
der Roman sein Zuhause sucht.
Auch seine Protagonisten, kaum ihren Elternhäusern entsprungene
Collegestudenten, suchen ein Zuhause in dieser Welt - und, darin den
Viktorianerinnen nicht unähnlich, irgendwie auch gleich einen Partner fürs
Leben.
Eugenides hat eine saubere Dreierkonstellation aufgebaut, mit Eltern,
Geschwistern und Bekannten als unverzichtbarem gesellschaftlichem Beiwerk.
Da gibt es die junge Madeleine, ein Mädchen aus wohlhabendem akademischem
Hause, das Literatur im Hauptfach belegt hat, da sie schon immer gern
Bücher las. Dann den jungen Mitchell, der, wie sein Nebenbuhler findet,
aussieht wie der junge Tom Waits, vor allem aber Christ ist und
herauszufinden versucht, wie er mit seinem Glauben in dieser Welt umgehen
soll.
## Durch die Schablone lesen
Mitchell hat sich in den Kopf gesetzt, dass Madeleine die Frau sei, die er
einmal heiraten werde. Doch da kommt ihm der brillante Leonard zuvor, in
den Madeleine sich heftig verliebt. Leider stellt sich bald heraus, dass
der Auserwählte manisch-depressiv ist, doch es ist zu spät. Madeleine hat
zu lange in Barthes "Fragmente einer Sprache der Liebe" gelesen, als dass
sie jetzt noch zurückkönnte.
LeserInnen viktorianischer Romane wissen, wie sich diese Konstellation
weiterentwickeln müsste. Die Heldin würde ihren Liebesirrtum erkennen, wäre
jedoch in der unglücklichen Ehe zu dem Kranken gefangen, bei dem sie aus
Mitleid und menschlicher Größe bleiben müsste. Der jedoch, von der späten
Einsicht geschlagen, dass eigentlich sein Nebenbuhler vom Schicksal für die
von beiden geliebte Frau bestimmt sei, würde großmütig auf sie verzichten,
worauf doch noch die wahren Liebenden zueinanderfinden könnten.
Ob es sich bei Eugenides genauso entwickelt, sei hier dahingestellt. Die
häufigen inhaltlichen Bezüge auf den viktorianischen Roman und den marriage
plot an sich - und überhaupt der stets im Hintergrund mitlaufende,
zitatselige akademische Diskurs - zwingen aber einerseits offensiv dazu,
auch den Eugenides-Plot durch diese Schablone zu betrachten.
Auf der anderen Seite allerdings ist die Durchführung dieses Plots - das
"Verfahren", um es rein akademisch mit den Formalisten zu halten -
reichlich unviktorianisch. Das liegt nicht einmal an den zahlreichen
Sexszenen, die es bei den Viktorianerinnen nicht gegeben hätte. Immerhin
ist dies ein amerikanischer Collegeroman. Und man könnte so weit gehen,
zuzugestehen, dass es Eugenides sogar gelingt, die Liebe zu feiern, ohne
den Trieb zu verdammen.
## Behagliche Geradlinigkeit
Das wirklich und eigentlich Unviktorianische an Eugenides Liebesvariationen
aber sind die behagliche Geradlinigkeit und unbekümmerte Gesprächigkeit
seiner Prosa, die nichts, aber auch gar nichts an seinen Figuren
unbeleuchtet lässt, es dabei aber dennoch versäumt, ihre wesentlichen Züge
so deutlich zu umreißen, dass sie als Personen fassbar würden.
Ein großer Drang, innere Vorgänge in Worte zu fassen, treibt den Autor, uns
seine Figuren, statt sie für sich selbst sprechen zu lassen, so lange zu
erklären, bis wir ihrer beinahe überdrüssig werden. Einige Nebencharaktere,
Madeleines Eltern etwa oder einzelne Typen aus der Collegewelt, sind mit
wenigen Strichen prägnant und lebendig gezeichnet. Nur bei seinen
Hauptfiguren scheint Eugenides beherrscht von einem narrativen Übereifer,
der die Schwächen in der Konstruktion des grundlegenden Beziehungsdreiecks
nur umso deutlicher zutage treten lässt.
Im Falle des manisch-depressiven Leonard gelingt Eugenides immerhin die
beeindruckend erzählte Schilderung einer manischen Phase, und auch die
Gottsuchereien des sensiblen, selbstkritischen Mitchell lassen sich
nachvollziehen. Überhaupt ist Mitchell so etwas wie das geheime Zentrum des
Romans, der differenzierteste Charakter, an den wir dadurch auch am
nächsten herankommen (was möglicherweise auch daher rührt, dass er vom
Autor mit so manchen autobiografischen Zügen ausgestattet wurde).
Aber ausgerechnet jene Person, um die alles kreist, die Frau, die beide
Männer wollen, bleibt fast ganz ohne Eigenschaften. Wer zum Teufel ist
Madeleine? Sie liest Romane, spielt toll Tennis, versteht sich gut mit
ihren Eltern und ist ziemlich intelligent (aber längst nicht so brillant
wie ihre beiden Verehrer). Ein nettes Mädchen: eine Dutzenderscheinung. Was
für ein Segen, dass der Autor uns bereits zu Beginn wiederholt mitgeteilt
hat, wie überdurchschnittlich bildschön sie ist, sonst hätten wir gar nicht
so richtig verstanden, worum es in diesem Roman überhaupt geht.
## Psychologisches Feintuning
"Middlesex", Eugenides letzter großer Roman, der unbestreitbar ein großer
Wurf war, hatte kein vergleichbares Problem; in der opulent angelegten,
epischen Geschichte einer eingewanderten griechischen Familie bestand keine
Notwendigkeit für psychologisches Feintuning. Aber man muss sich jeweils an
den Vorbildern messen lassen, die man so großartig vor sich herträgt; und
wenn man die Chuzpe besitzt, die viktorianischen Meisterinnen der
feinsinnigen Menschenbeobachtung auf ihrem Gebiet herauszufordern, so kann
es passieren, dass man an der eigenen Kühnheit scheitert.
Ein Roman, der sich so sehr auf lediglich drei Personen konzentriert, trägt
nicht über mehr als 600 Seiten, wenn auch nur eine einzige dieser Personen
langweilig ist. Dass die fade Person dann noch ausgerechnet die Frau sein
muss, ist auch deswegen furchtbar traurig, weil es zeigt, wie wenig
Eugenides letztlich von den Viktorianerinnen verstanden hat.
Oder ist das ein ganz und gar ungerechter Eindruck? Hat im Gegenteil die
Rezensentin den Autor falsch verstanden? Ging es ihm vielmehr darum, den
überempfindlichen viktorianischen Roman auf links zu drehen und eine eher
grobschlächtige männliche Sichtweise auf den komplizierten Tanz der
Geschlechter umeinander auszustellen?
Wenn das seine Absicht gewesen sein sollte, dann ist sie ihm womöglich eher
geglückt als das zunächst unterstellte Vorhaben, einen viktorianischen
Roman mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts zu imitieren. Denn das kann er
ja eigentlich gar nicht gewollt haben. Das wäre doch sowieso, bei allem,
was Frauen und Männer heutzutage voneinander wissen sollten, fast
unmöglich.
21 Oct 2011
## AUTOREN
Katharina Granzin
## TAGS
Literatur
Münchner Kammerspiele
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