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# taz.de -- Roman über das Aufwachsen: Das Dorf und der Abgrund
> Jan Brandt aus Leer hat es mit seinem Debutroman "Gegen die Welt" auf die
> Auswahlliste für den Deutschen Buchpreis geschafft. Nun folgt eine
> Lesereise.
Bild: Dunkle Geheimnisse: Hinter adretten Fassaden geschieht bisweilen Unfassba…
HAMBURG taz | Auf der Shortlist stand er, aber für den Deutschen Buchpreis
hat es am Ende doch nicht gereicht. Keine Tragödie: Eine Sensation haben
weite Teile der mit Literatur befassten Landschaft in diesem Jahr trotzdem
erkannt in Jan Brandts Debüt "Gegen die Welt".
Was sich nicht so sehr im Stoff begründen dürfte. Zum leicht PR-befeuert
wirkenden Raunen vom ambitionierten Erstlingswerk oder gar monumentalen
Wurf haben wohl eher die Eckdaten beigetragen: Je nach Zählweise bis zu
zwölf Jahre hat der Autor an "Gegen die Welt" geschrieben, und
herausgekommen sind stolze 927 Seiten, von denen, so war hie und da zu
lesen, keine einzige zu viel sei. Schon das hebt so ein Buch ja heraus aus
dem Meer der Bahnhofsbuchhandelsware im praktischen Mitnehmformat.
Einen Roman über das Aufwachsen zu schreiben dagegen, erst recht über eines
abseits des Großstädtischen, wo sich die Verlage konzentrieren - gerade
auch die der Zeitungen und Magazine, in denen "Gegen die Welt" solch eine
Resonanz erfuhr -, das ist heutzutage alles andere als Neuland;
Originalität bei der Themenwahl andererseits ja auch nicht die einzig
relevante Kategorie. Es gehe ihm um den Untergang der Provinz, hat Brandt
in einem Interview gesagt, und verarbeitet habe er einerseits
Recherchiertes, andererseits die eigene Biografie.
## "Jericho" klingt nach Bibel
Der Autor, Jahrgang 1974 und heute in Berlin zuhause, ist selbst unweit von
Leer aufgewachsen und hat daraus, mal mehr, mal weniger verklausuliert, das
Örtchen Jericho gemacht. Das klingt nach Jerichow, einem zentralen Ort in
Uwe Johnsons "Jahrestagen", ja auch so eine ausufernde Erzählung vom
flachem Land an norddeutscher Küste (und vom Gegenteil, der ganz großen
weiten Welt). Aber mehr noch klingt es nach der Bibel: "Verflucht vor dem
Herrn sei der Mann, der sich aufmacht und diese Stadt Jericho wieder
aufbaut", lässt Brandt dann auch, ziemlich zu Beginn, Volker Mengs
zitieren. "Wenn er ihren Grund legt, das koste ihn seinen erstgeborenen
Sohn, und wenn er ihre Tore setzt, das koste ihn den jüngsten Sohn!" Dieses
Zitat "kannte jeder im Dorf", heißt es weiter, "aber kaum jemand sprach es
laut aus".
Dieser Volker ist die wohl wichtigste Nebenfigur des Romans, der sich nicht
ausschließlich, aber doch vor allem um Daniel Kuper dreht: den ältesten
Sohn des lange Zeit einzigen Drogisten im Ort. Dieser steht für eine ganze
Reihe örtlicher Ladenbesitzer und sonstiger Geschäftemacher, die Jerichos
Kaufkraft unter sich aufzuteilen gedenken, bis irgendwann - in Gestalt
eines ersten Supermarkts und später der marktmächtigeren Filialunternehmen
- der richtige Kapitalismus einbricht in das vermeintliche Idyll.
Es geht viel um Söhne in "Gegen die Welt", manchmal auch um die
erstgeborenen, und ihre Väter; es geht auch um die Mütter, aber nicht in
der gleichen Weise. Das Religiöse - auch davon kündet die erwähnte
Textpassage - hat seinen Platz, sei es als der Handlung merkwürdig fremd
bleibender Konfirmandenunterrichts-Dialog über Fragen der Bibelauslegung,
sei es als wiederkehrende Befassung mit der Schuld und der Sühne. Es geht
ums Hineingeboren-Werden in eine ostfriesische Kleinstadt in den 70er und
80er Jahren und ums Ihr-fremd-Bleiben, um Anpassung und versuchten
Ausbruch. Und darum, wie beides für die einen tragisch, ja tödlich enden
kann - und für die anderen mit Blut an den Händen oder doch wenigstens mit
kaum mitteilbaren Geheimnissen im Herzen.
Ganz so frei von Klischees, wie es der eine oder andere Rezensent gelobt
hat, geht das auch bei Brandt nicht vonstatten. Kaum einem der hier
auftretenden Typen glaubt man nicht auch schon anderswo begegnet zu sein:
mobbende Mitschüler und ihre für die Welt gar zu empfindsamen Opfer, ihrer
Ambitionen verlustig gegangene Lehrer und übergriffige Pastoren, angesehene
Mittelständler mit zweifelhaftem Moralgefüge und ihre in Sinnleere sich
wiederfindenden Ehefrauen.
Und dass hinter den gutbürgerlichen Fassaden die Abgründe lauern, dass sich
gerade hinter den ordentlichsten Vorgärten und saubersten Gardinen
Undenkbares abspielt: Das ist hinlänglich beschrieben worden, ja man darf
es wohl längst als Gemeinplatz empfinden.
## Brüche in Form und Inhalt
Was "Gegen die Welt" auszeichnet: Brandt belässt es nicht bei der bloßen
Beschreibung einer leicht als deprimierend zu bezeichnenden Kleinstadt und
ihres Personals. Interessant machen das Buch die Brüche in der Form und im
Inhalt: Da werden plötzlich über etliche Seiten oben und unten zwei
separate aufeinander zu laufende Stränge erzählt, durch Linien voneinander
abgesetzt. Da sind dem Plot erst nach und nach ihren Sinn preisgebende
Formate vor- und zwischengeschaltet, darunter merkwürdige Schreiben an den
Bundeskanzler, die vor einer dräuenden Invasion von Außerirdischen warnen.
Überhaupt, Außerirdische: Dass neben Heavy-Metal-Spielarten gerade auch
Science Fiction ein nahe liegender Fluchtweg eines mit sich und dem Sein
hadernden, adoleszenten Provinzlers sein wird, liegt nahe. So ists auch in
Brandts Jericho, und in den entsprechenden Bezugnahmen und Verweisen fußt
auch die Assoziation, es könnte sich bei "Gegen die Welt" um eine Art
verspäteten Vertreter der einst so hochgejazzten Popliteratur handeln.
Aber hier hat dann plötzlich der Protagonist eine tatsächliche Begegnung
der dritten Art - zumindest glauben das die Ufologen, die daraufhin in das
Örtchen einfallen. Und so unklar der wahre Charakter des befremdlichen
Vorfalls in einem frühwinterlichen Maisfeld auch bleibt: Einen SF-Roman hat
Brandt ebenso wenig geschrieben wie einen Pop-Roman (mancher freilich mag
finden: ebenso sehr).
Als der Deutsche Buchpreis zumindest noch eine Möglichkeit darstellte, hat
Brandt von der Sorge gesprochen, dass es ihm nicht gelingen könnte, je in
einem weiteren Buch nachzulegen, je wieder "diesen Grad der Konzentration,
der Dichte und der Besonderheit der Darstellung zu erreichen, ohne mich zu
wiederholen". In der Tat und auch wenn man nicht zwingend "Die Gebrüder
Karamasow" heranziehen muss, wie es in einem Großfeuilleton geschah: Ein
besonderes Buch ist ihm da gelungen.
## Jan Brandt: Gegen die Welt, DuMont 2011, 927 Seiten, 22,90 Euro.
Lesungen: 18. 10., Worpswede, Buchhandlung Friedrich Netzel; 19. 10.,
Buchholz, Buchhandlung Slawski; 24. 10., Hamburg, Cohen + Dobernigg
17 Oct 2011
## AUTOREN
Alexander Diehl
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