# taz.de -- Theater in München: Bling-Bling statt Sinn | |
> Psychotrip ohne Bewusstseinserweiterung: Susanne Kennedys „Die | |
> Selbstmord-Schwestern“ an den Kammerspielen München. | |
Bild: Dass sie von vier Männern gespielt werden, ist den geschlechtslosen Wese… | |
„Turn off your mind“, also „Schalte deinen Verstand aus“ – diesen Bef… | |
hört man zu Beginn dieses Stückes. Es ist ein Satz des LSD-Gurus Timothy | |
Leary. Später zitierten ihn die Beatles in ihrem epochalen Song „Tomorrow | |
Never Knows“. Als braver Theaterzuschauer denkt man sich: Klar doch, wird | |
gemacht. Hirn aus, Augen auf. | |
Denn man bekommt einiges zu gucken in diesem spektakulären | |
Pop-Art-Bühnenbild von Lena Newton: massig Bling-Bling, zahlreiche | |
Bildschirme, grellbunte Discofliesen – eine Top-of-the-Pops-Kulisse. Das | |
Scannen der Kulisse nimmt schon mal die erste halbe Stunde des | |
Theaterabends ein. Was kein Problem darstellt, denn einer Spielhandlung | |
muss man hier nicht folgen. | |
Stattdessen führt ein computeranimierter Avatar durch diesen Theatertrip | |
und zitiert Learys „The Psychedelic Experience“, das Handbuch für den | |
Gebrauch bewusstseinserweiternder Drogen. Leary hat darin seinerseits ein | |
tibetisches Totenbuch, eine steinalte buddhistische Schrift, verwurstet und | |
kommt bedeutungsschwanger daher: „You are now about to begin a great | |
adventure, the journey out of your mind.“ | |
Was dann folgt, orientiert sich lose am „Selbstmord-Schwestern“-Roman von | |
Jeffrey Eugenides (1993) und der Film-Adaption von Sofia Coppola (1999). | |
Ein Foto von Schauspielerin Kirsten Dunst in der Bühneninstallation | |
referiert auf Coppolas tragisch-schönen ersten Langfilm: die Geschichte der | |
fünf Schwestern Cecilia, Lux, Bonnie, Mary und Therese. Diese bildhübschen, | |
adoleszenten Geschöpfe entfliehen der Enge ihres biederen Elternhauses in | |
einer amerikanischen Kleinstadt, indem sie sich selbst töten. „Cecelia, die | |
Jüngste, erst dreizehn, war als Erste gegangen, indem sie sich im Bad die | |
Pulsadern aufgeschlitzt hatte“, berichtet uns eine Stimme aus dem Off. | |
## Simulation von Tiefgang | |
Die Jungfrauen sollen also vier grotesk maskierte Manga-Figuren mit | |
Bambi-Glotzaugen sein, die sich um eine nackte, in einem Glaskasten | |
aufgebahrte weibliche Leiche scharen. Dass sie von vier Männern des | |
Kammerspiel-Ensembles (Hassan Akkouch, Walter Hess, Christian Löber und | |
Damian Rebgetz) gespielt werden, ist diesen geschlechtslosen Wesen nicht | |
anzusehen. Ihre weißen Nachthemden versinnbildlichen Jungfräulichkeit; die | |
Plastikblumen als Haar- und Halsschmuck erinnern an die Hippie-Blumenkinder | |
der 1960er Jahre. | |
In ihrer erstarrten Mimik spiegeln sie die Ratlosigkeit wider, die ihre | |
schockgefrosteten Bewegungen bei den Zuschauern auslösen. In einer Szene | |
wird eine Colaflasche herumgereicht, jede/r trinkt einen Schluck, was in | |
Zeitlumpentempo zelebriert wird. Irgendwann stößt ein ebenso gekleideter | |
weißhaariger Methusalem (Ingmar Thilo) dazu, sitzt ein bisschen rum, wirkt | |
sehr weise und hält ein rotes Plastikherz in den Händen. | |
Gewiss bleibt Kennedy, die unter Intendant Chris Dercon demnächst auch die | |
Neugestaltung der Berliner Volksbühne maßgeblich prägen wird, ihrem | |
eigensinnigen Regiestil treu. Man erkennt ihre Handschrift aus ihren | |
Vorgängerstücken „Warum läuft Herr R. Amok?“ und „Fegefeuer in Ingolst… | |
Alle Inszenierungen sind formal strenge Installationen, in denen die | |
Akteure ihrer Sprache beraubt und zur Tatenlosigkeit verdammt sind. Stets | |
explodiert dazu ein Ausstattungsfeuerwerk, bei dem Kostümbild und Maske | |
sich austoben dürfen. | |
„Hyperrealismus“ nannte es Kennedy in einem Interview mit der Zeitung Die | |
Welt kürzlich selbst. Doch dieses Mal ist da mehr Hülle als Inhalt, mehr | |
Wichtigtuerei als Ernsthaftigkeit. Tiefgang wird simuliert und kratzt die | |
Inszenierung doch nur an der Oberfläche. | |
## Kritik am Internet | |
Einige von Kennedys Ideen wirken mätzchenhaft-banal: etwa die | |
undifferenzierte kulturpessimistische Kritik an den | |
Selbstdarstellungs-Tools des Internets, die mit der Einblendung sich | |
schminkender und performender YouTube-Mädchen suggeriert wird. Ganz so, als | |
habe man damit eine Erklärung für die Schwierigkeiten pubertierender | |
Mädchen parat. An anderer Stelle wird – warum, erschließt sich nicht – ein | |
bisschen Gossip über Lux-Lisbon-Darstellerin Kirsten Dunst nacherzählt. | |
Schlussendlich geht dieses Medley aus Rauschlyrik, fernöstlichem | |
Religions-Klimbim und Discokulisse nicht auf. Eine überzeugende Botschaft | |
kann Kennedy mit dieser Inszenierung nicht vermitteln. Man ist enerviert | |
von der Fülle von Reizen, die in diesem Stück auf einen einprasseln, und | |
vermisst eine kritische Distanz zu den Leary-Buddhismus-Texten, diesen | |
Texten über die Erlösung von den Leiden des Todes. | |
Am Ende heißt es prophetisch: „Ich, die ich die Welt verlasse. Dunkelheit | |
ist verschwunden und Licht ist erschienen.“ | |
2 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Annette Walter | |
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