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# taz.de -- Theaterfestival FIND in Berlin: Kulturaustausch statt Kunst-Mix
> „Demokratie und Tragödie“ an der Berliner Schaubühne: 14 Künstlergrupp…
> aus aller Welt waren beim Festival für Neue Internationale Dramatik zu
> Gast.
Bild: Ästhetisch eindrucksvoll: „Tristesses“ von Anne-Cécile Vandalem
Als „Tragödie“ bezeichnet man eine Situation, in der beide Seiten recht
haben – das wurde Schaubühnen-Chef Thomas Ostermeier in den vergangenen
Wochen nicht müde zu betonen. „Auf unsere heutige Lage bezogen heißt das:
Menschen, die sich für Demokratie einsetzen, haben recht, und solche, die
an ihr zweifeln, haben ebenfalls recht.“
Dieser Gedanke trägt das Festivalmotto „Demokratie und Tragödie“. 14
Künstlergruppen aus Europa, den USA, aus Iran und Südamerika waren
eingeladen, elf Tage lang Arbeiten zu diesem Themenkomplex zu präsentieren.
Nun kann ein einzelnes Motto so viel Kunst aus unterschiedlichen Ländern
nur unzureichend bündeln. Im Nachgang lässt sich aber ohne Übertreibung
sagen: Die Sorge um die globalen politischen Verhältnisse treibt
Theatermacher auf der ganzen Welt um.
Vielleicht ist das FIND auch deshalb ein guter Seismograf für das, was
Theaterleute bewegt, weil die eingeladenen Regisseure stets auch die
Autoren ihrer Produktion sind. Die Schaubühne präsentiert „Neue
Internationale Dramatik“ – keine Klassiker mit zeitgenössischer
Überschreibung. In den vergangenen Jahren hat das Festival immer wieder
erfolgreich Künstler gezeigt, die in Berlin noch völlig unbekannt waren,
die irische Gruppe Dead Centre etwa oder den Amerikaner Richard Nelson.
Auch von der spanischen Extrem-Performerin Angélica Liddell hatte man in
Berlin noch wenig gesehen, als sie 2014 beim FIND gastierte.
## Uraufführung in Berlin
Alle drei hat die Schaubühne 2017 enger an sich gebunden – die
Theatermacher zeigen diesmal die Uraufführung ihrer Stücke in Berlin oder,
wie Richard Nelson, deren Europa-Premiere.
Liddells Eröffnungs-Opus ist mit Spannung erwartet worden – zum ersten Mal
arbeitet sie mit einem deutschen Ensemble, dem der Schaubühne. Umso größer
dann die Enttäuschung: Was die Spanierin präsentiert, ist alles andere als
künstlerisch furios, gleicht eher einem routinierten Griff in die
Mottenkiste des Performance-Theaters. Schon der kryptische Titel klingt
verdächtig nach Bedeutungshuberei: „Toter Hund in der Chemischen Reinigung:
die Starken“ heißt das Stück, in dem Liddell eine Horrorvision für Europas
Zukunft herbeifantasiert.
Der Kontinent hat sich abgeschottet, alle äußeren Feinde sind umgebracht.
Doch das Monströse in den Menschen sucht sich andere Ventile. Jetzt bringen
sie sich gegenseitig um – oder töten aus purer Mordlust einen Hund. Liddell
zitiert dazu Diderot und Rousseau und versteigt sich zu der fragwürdigen
These, in der französischen Aufklärung liege schon die Ursache für das
Europa von heute, das sich gegen Flüchtlinge abriegelt.
## Stühle werden zerhackt
Liddell, die sich früher live die Beine blutig schnitt und öffentlich
masturbierte, steht nicht selbst auf der Bühne. Leider, denn die
Schauspieler können jene exzessiven Ausbrüche der Performerin nicht
annähernd imitieren. Zu sehen sind nichts als Pseudo-Provokationen: Stühle
werden zerhackt, es wird im Dreck gewühlt, den Zuschauern der nackte
Hintern entgegengestreckt. Ach je.
Erfrischend sind allein die Reaktionen des jungen, internationalen
Publikums. Noch bevor der „Hund“ alle „scheiß Zuschauer“, die das „s…
Stück“ nicht mehr sehen wollen, zum „Abhauen“ auffordert, geht manch
Gelangweilter Richtung Tür und kommentiert: „Ist halt ne scheiß Regie.“
Lässig auch der Besucher, der, als das Ensemble in Protest-Pose minutenlang
hinter der Bühne verschwindet, ruft: „Wir wären dann so weit!“
Publikumsbeschimpfung funktioniert 2017 mit derart coolen Zuschauern
schlicht nicht mehr.
Ein größerer Kontrast als der zwischen Liddells ausgelaugter Effektshow und
den wachen, leisen Konversationsstücken von Richard Nelson (taz vom 31. 3.)
lässt sich kaum denken. Der Amerikaner begleitet in seiner Trilogie „The
Gabriels: Election Year in the Life of One Family“ eine fiktive
Mittelstandsfamilie durch das Wahljahr 2016 – bis hin zur Stimmabgabe für
Hillary Clinton.
## Hyperrealistisches Kammerspiel
Nelson inszeniert die Geschichte als hyperrealistisches Kammerspiel. Die
Gabriels kochen in Echtzeit ein Abendessen auf der Bühne und sprechen übers
Gemüseschnippeln, über Emanzipation und über die reichen New Yorker, die
den Vorort Rhinebeck, in dem sie leben, immer mehr zu einem überteuerten
Luxuswohnort machen.
Auch wenn man vergeblich auf die großen politischen Auseinandersetzungen um
Trump & Co wartet – Nelson porträtiert hier doch mit viel Gespür die
Verlierer von Gentrifizierung und Globalisierung.
Ästhetisch eindrucksvoller, dafür inhaltlich flach ist „Tristesses“: In
einer Mischung aus Grusel-Comic und Dogma-Film erschafft die Belgierin
Anne-Cécile Vandalem ebenfalls eine Dystopie eines abgeriegelten Europas –
jedoch mit deutlich mehr Humor als Liddell.
## Ideal einer reinrassigen Gesellschaft
Auf einer imaginären dänischen Insel leben, nach der Pleite des örtlichen
Schlachthofs, noch acht Menschen. Als sich Ida Heiger mit der dänischen
Flagge erhängt, setzt ihre Tochter, die Chefin einer rechtsextremen Partei,
vom Festland über, um den Selbstmord zu vertuschen – und den Bewohnern ihre
Häuser abzuluchsen. Die Insel soll zum Ideal einer reinrassigen
Gesellschaft werden und politischen Imagekampagnen dienen.
In fahlem Licht stehen vier Häuschen, darin terrorisieren die ärmlichen
Gestalten ihre Mitmenschen. Im Innenraum spielen sie Film, die Bilder
werden auf eine große Leinwand projiziert. Sobald sich die Türen öffnen,
beginnt das Live-Theater auf der Bühne. Die Schauspieler beherrschen diesen
Wechsel ebenso perfekt wie die Musiker ihre Rolle als Untote, die
zombiehaft umher schlurfen und die Inszenierung mit atmosphärischen Bass-,
Keyboard- und Harmonium-Klängen erst zum Grusical machen. Doch es gilt: So
intensiv die ästhetische Handschrift, so plakativ die politische Botschaft.
Wenig bis gar nichts mit „Demokratie und Tragödie“ hat die neue Arbeit von
„Dead Centre“ zu tun. „Hamnet“ heißt das Stück, in dem ein irischer J…
den früh verstorbenen Sohn Shakespeares spielt und aus dem Totenreich die
Frage stellt: Sein oder Nichtsein?
## Brechungen und Doppelbödigkeiten
Der elfjährige Ollie West meistert sein einstündiges Solo grandios – das
ist umso beachtlicher, als der Abend vor Brechungen und Doppelbödigkeiten
nur so strotzt. Die Zuschauer blicken auf eine Leinwand, in der sie sich
selbst gespiegelt sehen. In dieser Spiegelung erscheint auch der Regisseur
Bush Moukarzel als Hamnets Vater und interagiert mit dem Jungen. Der tote
Hamnet bewegt sich also real über die Bühne – die lebenden Zuschauer sind
in den Spiegel verbannt. Zueinander können sie nicht kommen.
„Dead Centre“ sind zwar sehr ins Theater als technische Zaubermaschine
verliebt – doch alle Tricks verfolgen stets große philosophische Fragen um
Realität und deren Überschreitung, um Vergänglichkeit und Loslassen.
Man mag „Hamnet“ zu pathetisch finden – und das eine oder andere Gastspiel
sogar misslungen. Dennoch: Das FIND als internationales und politisches
Theaterfestival ist aus Berlin nicht mehr wegzudenken. Das liegt auch
daran, dass es inzwischen ein Solitär in der Stadt ist – spätestens seit
das Performance-Festival „Foreign Affairs“ der Berliner Festspiele 2016
eingestellt wurde. Man muss Thomas Ostermeier beipflichten, wenn er mit
Blick auf die Kulturpolitik fragt: „Wo ist das internationale Theater in
Berlin? Wo gibt’s die großen Gastspiele?“
Nicht der für den globalisierten Markt zugeschnittene Kunst-Mix, den
womöglich Chris Dercon bald an die Volksbühne holen wird, fehlt. Es mangelt
an internationalen Kultur-Patenschaften, die Unterschiede und
Gemeinsamkeiten markieren. Internationaler Austausch bei gleichzeitiger
Kontinuität des deutschen Ensemble-Theaters – mit diesem Konzept steht die
Schaubühne in der Hauptstadt allein auf weiter Flur.
9 Apr 2017
## AUTOREN
Barbara Behrendt
## TAGS
Theater
Schaubühne Berlin
Festival für Neue Internationale Dramatik
Schwerpunkt Syrien
Theatertreffen 2017
Heinrich von Kleist
Chile
Münchner Kammerspiele
Thomas Melle
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