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# taz.de -- Klassiker nicht nur für Mittelstufenschüler: Bankrotterklärung a…
> Am Schauspielhaus inszeniert Michael Thalheimer Heinrich von Kleist „Der
> zerbrochene Krug“. So präzise und intensiv kann man das Stück selten
> sehen
Bild: Für Carlo Ljubek als Dorfrichter Adam ist der Weg vom Animalischen zum a…
HAMBURG taz | Glatzköpfig, nackt, blutverschmiert und in scheußlichen
schwarzen Socken kriecht Dorfrichter Adam (Carlo Ljubek) über die Bühne.
Gehetzt wirkt er und man hat Angst vor ihm in dieser kurzen Zeit, bis die
Zivilisation einbricht, in Form seines gut gescheitelten Schreibers Licht
(Christoph Luser) und des Gerichtsrats Walter (Markus John), jener
Puritaner aus Utrecht, der die Korrektheit der Urteile von Adam überprüfen
soll.
Die klaustrophobische Einstiegsszene ist ein würdiger Einstieg für die
erste Inszenierung Michael Thalheimers seit längerer Zeit und seiner ersten
für das Schauspielhaus in Hamburg. Zahlreiche Inszenierungen Thalheimers
waren unter der Intendanz von Ulrich Khuon am Thalia-Theater zu sehen:
„Woyzeck“, „Lulu“, oder „Liliom“, dessen Vorstellung der ehemalige
Bürgermeister Klaus von Dohnanyi mit den Worten verließ, man könne dieses
Stück doch auch „anständig“ inszenieren – ein Klassiker des
Theater-Nerdismus.
Beim Begriff „Klassiker“ ist man auch schon bei einem zentralen Thema: „D…
zerbrochene Krug“, den Thalheimer nun am Schauspielhaus inszeniert, ist
eine Komödie, von der Mittelstufenschüler völlig zu Recht genervt sind.
Adam hat den Krug zerbrochen, als er Eve (Josefine Israel) ein
unmoralisches Angebot gemacht hat, und versucht, das nun Ruprecht (Paul
Behren) in die Schuhe zu schieben.
Es ist leicht, das Stück – die Großartigkeit Kleists unangefochten – so zu
lesen und zu inszenieren, dass ein humanistisches Bildungsbürgerpublikum
sich durch den aufklärerischen und reichlich moralinsauren Impetus
gerechtfertigt fühlt, sich mal hemmungslos auf die Schenkel zu klopfen.
Angenehmerweise hat Thalheimers Inszenierung mit einer Komödie überhaupt
gar nichts am Hut: Sein Krug ist düster und machiavellistisch. Im Gegenteil
liest sich diese auf eindreiviertel Stunden gestraffte Inszenierung eher
wie eine Bankrotterklärung an die Aufklärung: Ist es an der Macht, dann
kann das Tier im Menschen sich straflos entfalten, und das Volk ist zu
eitel und blind, um sich gegen die Willkür der Autoritäten zur Wehr zu
setzen.
Thalheimer kann mathematisch und dabei emotional sein, und das ist ganz
groß, auch wenn die Bühne, als enger Setzkasten mit wenig Spielraum
konstruiert, etwas arg schematisch ist. Auf der linken Seite sitzen die
Bürger: Der enge und niedrige Flur mit den Holzstühlen ist zu flach, um
aufrecht zu stehen (außer für Eve). Rechts der hohe Raum der
Gerichtsbarkeit mit Ledersesseln, dazwischen ein kleines Nadelöhr, durch
dass es nur vermeintlich ein Durchkommen gibt.
Auch ist es seit einiger Zeit Mode, Schauspieler ihre Rollen an der Rampe
stehend ins Publikum sprechen zu lassen, ohne dass es einen Hauch von
Interaktion jedweder Form gibt. Bei einer Gerichtsverhandlung bietet sich
das natürlich an, trotzdem: Ein bisschen mehr Bewegung würde auch dieser
Inszenierung nicht schaden. Überhaupt ist es ein Wermutstropfen, dass es so
gar keine Überraschungen im Regiestil gibt – aber eben auch absolut
verlässliche Qualität, und wenigstens hier darf sich das Publikum in
Sicherheit wiegen, wenn es schon keine Komödie serviert bekommt.
Was es zu sehen bekommt, ist eine überspannte Empörungsgesellschaft aus
neurotisch Überzivilisierten, in der sich jeder wie der korrekteste aller
Bürger fühlt, überzeugt von der Legitimation der Autoritäten und des
Rechtssystems. So unfassbar unsympathisch diese Figuren aber auch sind, sie
tun einem vor allem leid. Jeder misstraut jedem in einer Grundstimmung
unterschwelliger Gewalt. Großartig als Gegenpol dieser Pullunderspießer ist
Carlo Ljubek, dessen Gewaltpotenzial durch gekräuselte Lippen oder
Sichrumwinden im Ledersessel auch dann omnipräsent ist, wenn die Zeugen auf
den billigen Plätzen nach Recht und Ordnung rufen. Er schlüpft aus dem
Animalischen sofort in die aalglatte Strategenrolle, verachtet die Menschen
und kommt durch damit.
Eve ist die einzige Figur, der man so etwas wie Empathie abnimmt, abgesehen
von Frau Brigitte (Ute Hannig), die den Eindruck macht, als wäre sie
ernsthaft an einer Aufklärung des Geschehens interessiert. Auch gibt es
eigentlich keine Liebesgeschichte zwischen Eve und Ruprecht: Der berichtet
von ihrer ersten Begegnung, als sei sie ein besonders tüchtiges Vieh, in
das man sich einfach verlieben müsste. Man kann dies durchaus auch als
feministische Inszenierung lesen. Toll ist auch die detaillierte
Beschreibung des zerbrochenen Kruges durch Frau Marthe (Anja Laïs), die
völlig ironiefrei die zerbrochenen Szenen darauf beschreibt, als wisse sie,
dass nicht nur ein Krug auseinander gebrochen ist, an dem sie festhält,
sondern eine Gesellschaftsordnung.
Dass die Handlung am Ende aufgelöst wird, ist eigentlich egal. Als Eve mit
der Wahrheit herausrückt, steht sie auf der leeren Bühne, während die Wand
mit den Figuren sich immer weiter nach hinten schiebt. Denen ist egal, dass
der Dorfrichter Adam schamlos ausgenutzt hat, dass Eve Ruprecht vor dem
Krieg bewahren wollte. Mit der Aufklärung des Falles steht sie allein auf
weiter Flur. Dort kommt in einer der eindrücklichsten und grausamsten
Szenen der Gerichtsrat Walter, bislang die Stimme der Vernunft, auf Eve zu,
verspricht ihr zu helfen, und nötigt sie zum Kuss und auf die Knie. Das hat
man so schon gesehen, aber wenige Regisseure sind dabei derart präzise, gut
getimt und intensiv wie Thalheimer. Verlässlichkeit hat eben auch etwas
Gutes, gerade dann, wenn sonst alles auseinanderfällt.
7 Apr 2017
## AUTOREN
Hanna Klimpe
## TAGS
Heinrich von Kleist
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Theater
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Serie: Dramatikersterben
Politisches Theater
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