| # taz.de -- Debattenserie: Schauspiel ohne Autor (3): Für ein selbstbestimmtes… | |
| > Ein verantwortungsbewusstes Theater muss auch sein eigenes Verhältnis zu | |
| > DramatikerInnen finden dürfen, sagt die Direktorin der Theaterakademie | |
| > Hamburg Sabina Dhein | |
| Bild: Vom Aufstand von 1923 inspiriert malte Heinrich Vogeler in Hamburg kämpf… | |
| Sie hatten die Wahl. | |
| In diesen Wochen zeigen sechs zukünftige Absolventen des Studienganges | |
| Regie der Theaterakademie Hamburg ihre Abschluss-Inszenierungen auf | |
| Kampnagel. Für Stück oder Stoff konnten sie sich gemäß der Prüfungsordnung | |
| frei entscheiden. | |
| Zwei haben einen dramatischen Text gewählt: Katja Brunner, „Von den Beinen | |
| zu kurz“ und Hanns Henny Jahnn, „Der gestohlene Gott“. | |
| Zwei dramatisieren eine Romanvorlage: Iwan A. Gontscharow, „Oblomov“ und | |
| Miguel de Cervantes, „Don Quichotte“. | |
| Eine nimmt Federico García Lorcas Stück „El Público“ zur Grundlage einer | |
| szenischen Collage, und einer entwickelt einen Abend über den Hamburger | |
| Aufstand von 1923. | |
| Einem strengen Plan folgen dagegen die drei Studienprojekte, die | |
| Studierende im Laufe des Studiums erarbeiten. Zweimal steht ein | |
| dramatischer Autor im Zentrum wie William Shakespeare, Friedrich Schiller, | |
| Heinrich von Kleist, Arthur Miller, Heiner Müller … Erforscht werden im | |
| ersten Studienprojekt die Fragen: Wie baue ich eine Figur, aus welcher | |
| Situation heraus agiert die Figur, wo liegt der Konflikt, wie erarbeite ich | |
| mit Schauspielern einen Dialog? | |
| Nur im zweiten Studienprojekt sind die Studierenden nicht an eine | |
| dramatische Vorlage gebunden, sondern arbeiten mit einem freieren | |
| Theaterbegriff. Vorgegeben ist lediglich ein gemeinsames Thema wie zum | |
| Beispiel „Mythos – wie begegnen uns archaische Stoffe im 21. Jahrhundert?�… | |
| Die Studierenden entscheiden, ob sie eine epische Vorlage dramatisieren | |
| oder ob sie selbst szenisches Material generieren wollen durch Recherche, | |
| Textcollagen, Improvisation. Einige unserer Studierenden sind selbst | |
| Autoren. | |
| Im Lehrplan stehen Seminare zu Moderner Dramatik. Gelesen und diskutiert | |
| werden Stücke der letzten zehn, fünfzehn Jahre. Oft werden die Autor*innen | |
| persönlich dazu eingeladen. Dank der Kooperation mit verschiedenen | |
| Stadttheatern gibt es auch direkte Arbeitskontakte mit Autor*innen durch | |
| kleine Uraufführungen. | |
| Der Dramatiker, auch der zeitgenössische, ist also für die Studierenden | |
| kein Unbekannter. Dennoch gibt es bei vielen ein Unbehagen gegenüber seinen | |
| Texten. Denn der eigene Gestaltungswille ist erst mal groß. | |
| Man wolle sich nicht versklaven lassen, sich nicht dem Text unterordnen. | |
| Die Kreativität des Teams werde eingeschränkt, brauche Raum. Die Qualität | |
| der Texte leide, weil die Dramatiker*innen auf einem Markt bestehen | |
| müssten, der sie zwinge, schnell Stücke für presserelevante Uraufführungen | |
| zu produzieren, und der ihnen keine zweite Aufführungs-Chance gewähre. | |
| Politische Autoren wie Heiner Müller, Elfriede Jelinek oder Thomas Bernhard | |
| gebe es nicht mehr. | |
| Aber hätten Heiner Müller, Elfriede Jelinek, Thomas Bernhard oder Peter | |
| Handke und Botho Strauß ihren literarischen Zugriff auf die Welt, die | |
| Dichte ihrer Sprache so meisterlich zuspitzen können ohne die fördernde | |
| Beharrlichkeit von Dramaturgen wie Dieter Sturm, Hermann Beil, Wolfgang | |
| Wiens, Joachim Lux, Stephanie Carp und ohne die richtungsweisenden | |
| Inszenierungen von B.K. Tragelehn, Claus Peymann, Peter Stein, Dimiter | |
| Gotscheff, Nicolas Stemann und anderen? | |
| Was die szenische Phantasie der Studierenden heute freisetzt, ist zu | |
| allererst „das Thema“. In welchem Genre sich das Thema anbietet, ob als | |
| Drama, Roman oder Film, oder ob es, wie der Hamburger Aufstand, nur als | |
| historisches Archivmaterial existiert, ist erst in zweiter Linie wichtig. | |
| Das Theater hat sich vom dramatischen Autor emanzipiert, und die | |
| Regiestudierenden wagen sich mit großer Ernsthaftigkeit und selbstbewusst | |
| ins Abenteuer – ohne Netz. Und häufig stürzen sie ab. | |
| Aber dafür studieren sie: um scheitern zu dürfen. Um scheiternd in der | |
| Vielzahl der möglichen Theaterformate ihre individuellen Themen und ihre | |
| Gestaltungsmittel zu finden und zu schulen. | |
| Spätestens gegen Ende des Studiums stellt sich dann aber doch die Frage, ob | |
| Handwerk und künstlerische Begabung reichen, um nur aus sich und dem Team | |
| heraus eine Inszenierung zu erarbeiten, die nicht in selbstreferentieller | |
| Beliebigkeit stecken bleibt. Selten gelingen Regieteams frei entwickelte | |
| Theaterabende, in denen sich nicht nur die eigene „Community“ feiert. | |
| Bietet ein dramatischer Text nicht auch produktiven Widerstand, erreicht | |
| man in der Auseinandersetzung mit einem Autor nicht doch eine andere | |
| inhaltliche Tiefe? | |
| Der Dramatiker ist heute nicht mehr alleiniger Dreh- und Angelpunkt der | |
| Szene. Die Fülle der unterschiedlichen Formate, Erzähl- und Spielweisen, | |
| die in einem Haus, manchmal sogar in einer Inszenierung nebeneinander | |
| stehen, spricht für die Lebendigkeit des Theaters. | |
| Doch die Dramatiker*innen werden die Bühne nicht verlassen. Wie sehr wir | |
| sie brauchen, ahnt Kathrin Röggla in ihrer Saarbrücker Poetik-Vorlesung: | |
| „Vielleicht aber ist das „Theater ohne Drama“ auch etwas übergelaufen, | |
| brandig geworden in Zeiten der Krise? Vielleicht reicht es nicht aus, im | |
| Theater über Kommunikationsformen nachzudenken, über Arten des Sprechens? | |
| Der Konflikt und der gesellschaftliche Widerspruch drängen ja nach vorne, | |
| nach all den Jahren, in den man ihn an die Ränder Europas erfolgreich | |
| outgesourct und so unsichtbar und scheinbar unerfahrbar gemacht hat.“ | |
| Eine Ausbildungsinstituation kann Angebote machen, begleiten, auf das | |
| Berufsfeld Theater vorbereiten. Gestalten werden die Studierenden die | |
| Zukunft des Theaters selbst. Vielleicht schmieden sie mit den Autoren | |
| Allianzen wider den Mainstream der inhaltlichen Vereinfachung und für eine | |
| Präzision der Sprache. Ganz sicher werden sie für ein Theater eintreten, | |
| das seine Verantwortung ernst nimmt. | |
| 3 Feb 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Sabina Dhein | |
| ## TAGS | |
| Serie: Dramatikersterben | |
| Dramatiker | |
| Freies Theater | |
| Regie | |
| Thalia-Theater | |
| Heinrich von Kleist | |
| Kampnagel | |
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| Schauspieler | |
| Theater | |
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