# taz.de -- Tanzstück auf Kampnagel: Zottelwesen tanzt nicht | |
> Der französische Choreograf Christian Rizzo bezieht sich ohne Nostalgie | |
> in „Le syndrome Ian“ auf die Klubkultur der späten 70er | |
Bild: Erst tanzen schöne, junge Menschen – dann übernehmen archaisch-albtra… | |
HAMBURG taz | Man könnte sich diesem Abend so annähern: Mit dem Stück „Le | |
syndrome Ian“ bringt der franzözische Choreograf Christian Rizzo eine | |
Trilogie zum Ende, in der er sich mit dem Verhältnis von „anonymen“ oder | |
vielleicht eher: sozialen Tänzen und dem „Autoren“-Tanz auf der | |
(Theater-)Bühne beschäftigt hat. Handelten „D’apres une histoire vraie“ | |
(2014) im Weiteren, und „Ad noctem“ (2016) dann im engeren Sinne von | |
Paartänzen, nehme Rizzo sein Publikum nun mit in den Klub, heißt es. | |
Genauer gesagt geht es dem als Teenager selbst damit in Berührung | |
gekommenen Rizzo um eine kurze Phase Ende der 1970er-Jahre, als Disco und | |
der neu aufkommende Post-Punk dort aufeinandergetroffen seien, aus | |
denselben Lautsprechern kommend und von denselben Plattenspielertellern. | |
Den Titel des Stückes erklärt das zumindest teilweise: Der Ian, von dessen | |
„Syndrom“ da die Rede ist, das ist Ian Curtis, früh und zudem durch eigene | |
Hand aus dem Leben geschiedener – und also umso legendärerer Sänger der | |
Band Joy Division, aus der später – dann ohne Curtis – New Order wurden, | |
und die wiederum hatten nun wirklich sehr viel zu tun mit dem | |
Aufeinandertreffen von (im weitesten Sinne) Rockmusik und Dancefloor. | |
Aber das ist eine andere Geschichte. | |
Joy Division gehören zunächst zeitlich dahin, wo die Idee des Stückes ihren | |
Ausgang nimmt: Zusammengefunden hatten sich die vier Musiker, so will es | |
der Gründungsmythos, beim Konzert der Sex Pistols in Manchester, 1976. Ob | |
freilich der scheppernd in Szene gesetzte Existentialismus, die aus den | |
Ruinen der sprichwörtlichen Kapitalismus-Wiege Manchester hervorhallende | |
Verzweiflung des Quartetts je irgendwo dieselben Tänzerinnen und Tänzer in | |
Bewegung zu bringen suchte wie, sagen wir: der ultrageschmeidige | |
Disco-Sound eines Giorgio Moroder? Und – heißt es, Rizzo und sein Stück | |
misszuverstehen, überhaupt solch eine Frage zu stellen? | |
Man könnte es auch andersherum versuchen: Im Schein mal mehr, mal weniger | |
unruhig blitzender, sternförmig angeordneter Lampen (und nein, es sind | |
keine Neonröhren, auch wenn die zum Thema passen würden) tanzen da anfangs | |
etliche junge, schöne Menschen. Mal alle zusammen, dann vereinzeln sich | |
welche, Paare bilden sich und Dreiergruppen, manchmal auch aus Anhängern | |
derselben Geschlechter. Das mag sich lesen lassen als Variation auf jene | |
Utopien, die seinerzeit mancher an Disco geknüpft hatte (und später wieder | |
andere an die Rave-Kultur): Auflösung starrer Geschlechterkategorien, | |
queer, camp, also ein Aufweichen von vielem, das der Rock mit seinem | |
Sechs-Saiten-Machismo eher zu zementieren schien. | |
Irgendwann im Verlauf der knappen Stunde, die Rizzos Stück dauert, fällt | |
einem dann zunächst eine, dann immer mehr dieser archaisch-albtraumhaft | |
wirkenden, zotteligen Gestalten auf, die am Rand des Dancefloors aus dem | |
Dunkel sich hervorschälen – ein wenig erinnern sie an die bulgarischen | |
Dämonenaustreiberfiguren, an die zuletzt auch der viel beachtete Spielfilm | |
„Toni Erdmann“ erinnerte. Zumal im Kontrast zur Lebensfreude, die da kurz | |
zuvor noch zur Schau sich stellte, sind die Zottelwesen politisch gedeutet | |
worden: Eine französische Rezensentin fühlte sich an „die jungen gefallenen | |
Gäste des Bataclan“ erinnert „oder an die Besucher des Pulse in Orlando“… | |
die Opfer spektakulärer islamistisch grundierter Terroranschläge also, aber | |
auch an „diejenigen, die in den 80ern und 90ern Opfer von Drogenräuschen | |
und Aids wurden“. | |
Nimmt man, nochmals, den Titel des Abends ernst, dann könnte es sich da | |
genauso gut um eine Manifestation jener inneren Dämonen handeln, die so | |
gern als Metapher für die Depression herhalten müssen. Denn an solchen litt | |
auch Curtis – und war damit im britischen Gesundheitssystem der späten | |
Siebziger sicher schlechter dran, als er es heute wäre. Irgendwann sind | |
dann nur noch diese Dancefloor-Wookies zu sehen, am Boden liegend, bis sich | |
aus einem Gezottel eine Frau hervorpellt – in Rottöne gekleidet, eigentlich | |
der erste Farbklecks nach viel Schwarz-Weiß (und noch mehr Schwarz). Und | |
die tanzt dann wirklich noch eine kurze Weile so, wie man es von einem | |
Tanzstück mit Ian-Curtis-Bezug erwartet haben könnte: zuckend, elektrisch, | |
vermeintlich ungelenk – so wie der Sänger damals selbst. | |
Einen naheliegenden Fehler, den ein solches Stück machen könnte, haben | |
Rizzo und die seinen übrigens vermieden: Sie verwenden keine Musik, weder | |
Disco noch Post-Punk oder New Wave, und entgehen damit jeder irreleitenden | |
Nostalgie. Stattdessen haben Pénélope Michel und Nicolas Devos einen | |
technoiden Sound beigesteuert, der sich allenfalls klanglich an jenen | |
Jahren bedient, aber eben nicht einfach bloß aufwärmt. Bei der Hamburger | |
und also Deutschland-Premiere von „Le syndrome Ian“ wippte trotzdem so | |
mancher Kopf. | |
Letzte Vorstellung: Samstag 20 Uhr, Kampnagel | |
24 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Alexander Diehl | |
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