| # taz.de -- Erster privater Radiosender in Westberlin: „Wie die taz, nur mit … | |
| > Mit Radio 100 ging 1987 ein linksalternatives Projekt on air und sendete | |
| > vier Jahre. Freitag und Samstag wird das Jubiläum gefeiert. | |
| Bild: Bandsalat: chronisch unterfinanziert beeinflusste Radio 100 dennoch nachh… | |
| taz: Frau Kay, Radio 100 gründete sich als basisdemokratisches Projekt in | |
| einer Altbauwohnung in der Potsdamer Straße – und sendete auch daraus. | |
| Passte es in die Zeit? | |
| Manuela Kay: Radio 100 war ein heute fast nicht mehr denkbares | |
| Medienprojekt, das aus so einer Aufbruchstimmung in Westberlin heraus | |
| entstanden ist. Es war schon ein echter Knüller, dass so ein bunter, | |
| linksalternativer Haufen die Frequenz für den allerersten Privatsender in | |
| Berlin zugesprochen bekam. Der damalige Kabelrat hat gesagt, es ginge | |
| darum, die Vielfalt Berlins und die große Subkultur mit den politischen | |
| Bewegungen dort abzubilden. Das würde heute niemandem mehr so einfallen, da | |
| man damit nicht viel Geld verdienen kann. Das spielte in Westberlin aber | |
| damals keine große Rolle. Keiner hatte Geld – und es gab auch keine | |
| Aussicht auf welches. | |
| Sie waren von Anfang an dabei. Wer noch? | |
| Das waren ganz viele unterschiedliche Gruppen mit verschiedenen politischen | |
| Ansätzen und Vorstellungen – aber alle mit einer gemeinsamen Idee: Wir sind | |
| links, alternativ, wir wollen Medien machen, bestimmte Strömungen in der | |
| Stadt darstellen, wir senden für West-, aber auch für Ostberlin. Und vor | |
| allem sind wir sehr feministisch. Frauen spielten eine ganz große Rolle, | |
| das war in allen Sendungen klar. | |
| Also vergleichbar mit der Grundidee der taz. | |
| Ja, auf jeden Fall. Nur dass wir immer schon sehr viel mehr Humor hatten. | |
| Die Sendung, in der Sie von Anfang an mitgewirkt haben, hieß Eldoradio. Sie | |
| war queer, bevor es diesen Begriff überhaupt gab. | |
| Ja, Eldoradio kam aus dieser 80er-Jahre-Aufbruchstimmung. Vor allem auch | |
| aus der Westberliner Schwulenszene, wo das Magazin Siegessäule fast | |
| zeitgleich entstand. Das war erst eine reine Schwulengruppe, und dann kamen | |
| ganz langsam Lesben dazu. Wir mussten uns da am Anfang sehr hart | |
| durchbeißen. Schwule und Lesben haben in Berlin noch nie wirklich viel | |
| zusammen gemacht. Und der schwule Kern war zwar total offen und total nett, | |
| aber völlig ahnungslos – da musste man wirklich bei null anfangen. Wir | |
| Lesben haben den Schwulen einen Grundkurs in Feminismus gegeben. Und darin, | |
| was Frauen überhaupt sind und über Lesben aufgeklärt. Das war sehr hart, | |
| hat aber funktioniert. | |
| Sehr modern für diese Zeit?! | |
| Damit haben wir Dinge getan, die schon damals weit ihrer Zeit voraus, | |
| revolutionär waren. Schwule haben über Lesben berichtet, Lesben über | |
| Schwule, und vor allem haben sie miteinander gesprochen, nicht nur | |
| übereinander. Und bestimmt 50 Prozent der Radio-100-Belegschaft waren | |
| schwul oder lesbisch. Das war sensationell und hat sich in den Inhalten, | |
| aber auch im Umgang miteinander widergespiegelt. Ein kleines Paradies, ein | |
| kleines queeres Ökotop. | |
| Gab es Gegenwind gegen dieses Ökotop? | |
| Es klingt, als würde ich es schönreden – aber Gegenwind jetzt wegen schwul | |
| oder lesbisch gab es überhaupt nicht. Natürlich hatten wir politischen | |
| Gegenwind, weil wir zu links waren. Aber gegen Schwule oder Lesben, würde | |
| ich sagen, gab es das nicht. | |
| Und trotzdem stellte Radio 100 nach nur vier Jahren den Sendebetrieb ein. | |
| Aus finanziellen Gründen? | |
| Es war überhaupt nicht das Geld. Es war eine politische Intrige, es war | |
| Hochverrat, wenn man so will. Unser damaliger Geschäftsführer hat hinter | |
| dem Rücken der Belegschaft mit einigen wenigen Mitwissenden unseren Sender | |
| und unsere Seele an den französischen Sender NRJ verkauft. Die haben sich | |
| damals in ganz Europa auf diese Weise ausgebreitet. Sie wollten | |
| Sendefrequenzen bekommen, ohne offizielle Vergabeverfahren durchlaufen zu | |
| müssen. Und sie haben wahrscheinlich – das lässt sich nicht beweisen – | |
| Leute mit diversen Mitteln überzeugt, für sie bestimmte Sender einfach | |
| pleitegehen zu lassen. Wir waren zwar immer mal wieder ziemlich pleite, | |
| aber nicht Konkurs. Als der Konkurs angemeldet wurde, wussten wir alle, | |
| dass auf dem Spendenkonto noch Geld ist. Das wurde aber nicht transferiert, | |
| um den Sender gezielt pleitegehen zu lassen. | |
| Habt ihr euch Vorwürfe gemacht? | |
| Wir waren zu jung, zu blöd und zu naiv, um uns mit den Finanzen des Senders | |
| zu beschäftigen. Wir haben das einigen Wenigen und offenbar den Falschen | |
| überlassen. Wir wollten Inhalte, Politik, Medien und Sendungen machen – | |
| Geld war uns egal. Und dann wurden die Schlösser im Sender ausgetauscht, | |
| und wir konnten nicht mehr senden. | |
| Man liest aber auch immer wieder, dass der Sender einfach damit überfordert | |
| war, als er 1989 die Vollfrequenz bekam und sich den Platz nicht mehr | |
| teilen musste. | |
| Das halte ich für Quatsch. Nur mit einer Vollfrequenz wirst du als Sender | |
| ernst genommen. Für mich hat es eigentlich erst richtig mit der | |
| Vollfrequenz angefangen. Mir hat das wahnsinnig viel Spaß gemacht, morgens | |
| zu senden. Wir hatten irrsinnig viele Hörer*innen und haben das sehr gut | |
| geschafft. Es war sehr viel Arbeit, ja, und es hätten auch gern mal ein | |
| paar Leute mehr morgens früh aufstehen können, um für die Sendungen zu | |
| arbeiten. Aber daran sind wir nicht gescheitert. Wir sind an der Profitgier | |
| einiger Weniger gescheitert. | |
| Also daran, wogegen Radio 100 eigentlich gegründet worden war? | |
| Wir waren halt so naiv, dass wir glaubten, alle, die in unserem Team sind, | |
| werden auch 1991 noch das gleiche politische Interesse haben. Und dass | |
| manche Angst um ihre Zukunft hatten und endlich mal Geld verdienen wollten, | |
| das wäre mir nie eingefallen. Heute würde ich da vorsichtiger sein und auch | |
| viel mehr Kontrolle ausüben wollen innerhalb so eines Ladens. Das haben wir | |
| damals einfach total unterschätzt. | |
| Nun lebt Radio 100 am Freitag und Samstag wieder auf. Live auf Sendung für | |
| einen Tag, dazu Diskussionen, Panels und eine Ausstellung. Wozu das Ganze? | |
| Ich gebe zu, es ist ein bisschen absurd, den Geburtstag von etwas zu | |
| feiern, das es seit 26 Jahren nicht mehr gibt. Das ist ein bisschen gewagt, | |
| ein bisschen skurril. Aber Radio 100 war nun mal so ein Leuchtturm damals | |
| und ist bis heute das Vorbild für alle linken freien Radiosender, für | |
| Piratensender und für alternative Medienprojekte. Radio 100 hat Hunderte | |
| von späteren Journalist*innen hervorgebracht und die Medienlandschaft | |
| zumindest in Berlin sehr nachhaltig beeinflusst. Es hat die Geschichte und | |
| den Zustand von Berlin und von Deutschland zu dieser Zeit sehr gut | |
| widerspiegelt. Das muss man immer wieder hervorheben. Und natürlich ist es | |
| auch eine Art Selbstreflexion, ein bisschen Therapie vielleicht. Außer für | |
| die Verräterbande, die das angezettelt hat, kam das Ende ja sehr | |
| überraschend und gegen unseren Willen. Wir haben das, glaube ich, nie | |
| wirklich aufgearbeitet. | |
| Bräuchte es wieder mehr von Radio 100? | |
| Auf jeden Fall. Keine Ahnung, ob man das finanzieren könnte. Es wäre | |
| sicherlich eine sehr geile Bereicherung der Radiolandschaft. Aber natürlich | |
| fragen sich alle, wie das heute klingen würde, was da passieren würde. Und | |
| ich denke, wenn es die taz gibt, könnte es auch Radio 100 noch geben. | |
| Bestimmte linke Positionen und bestimmte basisdemokratische Projekte werden | |
| hoffentlich nie aussterben. Man muss nur mit der Zeit gehen. | |
| 2 Mar 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Fabian Franke | |
| ## TAGS | |
| Ostberlin | |
| Sender | |
| Radio | |
| Queer | |
| Westberlin | |
| Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
| Radio | |
| Tuareg | |
| Kampnagel | |
| taz.gazete | |
| Serie | |
| Martin Heidegger | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Queere Presselandschaft in Deutschland: Wie Rotlichtbars mit Samtvorhängen | |
| Das Aus der gedruckten „Männer“ beendet die Ära der Schwulenmagazine. Und | |
| es macht deutlich, was hierzulande fehlt. | |
| Revival von „Radio 100“: Selbstgemachte Subkultur | |
| Ein ehemaliger linker Sender aus West-Berlin macht Klassentreffen. Unsere | |
| Autorin war in den Neunzigern dabei und erinnert sich. | |
| Musik der Tuareg: Konfliktlösung mit Gitarren | |
| Tinariwen stammen aus der Region zwischen Algerien, Mali und Niger. Auf dem | |
| neuen Album „Elwan“ thematisieren sie ihre Exil-Erfahrung. | |
| Tanzstück auf Kampnagel: Zottelwesen tanzt nicht | |
| Der französische Choreograf Christian Rizzo bezieht sich ohne Nostalgie in | |
| „Le syndrome Ian“ auf die Klubkultur der späten 70er | |
| Interview über LGBTI-Filmfestival: „Konflikte gibt es überall“ | |
| Seit sechs Jahren gibt es in der Türkei das Filmfestival Queerfest. Ein | |
| Gespräch mit Organisatorin Esra Özban über Zensur und die Filmindustrie. | |
| Web-Serie „Wishlist“: Öffentlich-rechtlich goes jugendlich | |
| Die Web-Serie „Wishlist“ des Jugendsenders Funk senkt den | |
| Altersdurchschnitt des Öffentlich-Rechtlichen. Und sie hat Aussichten auf | |
| den Grimme-Preis. | |
| 150 Jahre Schreibmaschine: Geliebte Erika | |
| Vor 150 Jahren wurde die erste Schreibmaschine vorgeführt. Eine | |
| Liebeserklärung an „Tippsen“, Drucktypen und „Texis“. |