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# taz.de -- Festival Internationale Neue Dramatik: Von ganz unten
> „Acceso“ ist die erste Theaterarbeit des preisgekrönten Filmregisseurs
> Pablo Larraín. Es zeigt die Wirklichkeit der unteren
> Gesellschaftsschichten.
Bild: Roberto Farías alias Sandokan fordert gesellschaftliche Teilhabe: „Acc…
Roberto Farías alias Sandokan schleicht im dunklen Zuschauerraum umher. Ich
höre sein stoßartiges Atmen, das Schlurfen seiner gehetzten Schritte. Ich
spüre seine extreme Präsenz, der ich die nächsten 60 Minuten nicht mehr
entkommen werde.
Denn Roberto Farías lädt in diesen ersten Minuten der Inszenierung
„Accesso“, eingeladen zum F.I.N.D.-Festival (Festival Internationale Neue
Dramatik) in der Schaubühne, den Raum mit seiner aggressiven Energie auf.
Er stellt sich direkt vor die erste Zuschauerreihe, zieht aus seiner Tasche
ein zerfleddertes Heft und preist es als „Verfassung der Republik Chile“
an. Ein spanischer Wortschwall ergießt sich in den Raum, in dem das Wort
„Accesso“ – auf Deutsch „Zugang“ – die Hauptrolle spielt. Die Verfa…
Chiles garantiert offiziell jedem seiner Bürger „Accesso“, also Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben, preist er das Heftchen an, um dann die nächste
knappe Stunde das Gegenteil zu beweisen und immer wieder lautstark
„Accesso“ einzufordern.
Roberto Farías hat Sandokan schon in Pablo Larraíns Film „El Club“, der
2015 den Silbernen Bären gewann, verkörpert. Nun lässt Larraín Sandokan in
einem langen Monolog zu Wort kommen, in der ganzen Unmittelbarkeit und
Verletzlichkeit des Theaters. Roberto Farías ist ein Ausnahmeschauspieler.
Larraín setzt bewusst auf eine ungefilterte Darstellung, nimmt zusätzlich
die vierte Wand weg und entwirft eine bis an die Schmerzgrenze gehende
Anklage gegen die chilenische Gesellschaft.
Larraíns Sandokan entspringt dem Bodensatz dieser Gesellschaft. Gehetzt
läuft Farías zwischen den Reihen umher, lässt Sandokan vom systematischen
Missbrauch im katholischen Waisenhaus erzählen, erzwingt in seinem Spiel
immer wieder den direkten Blickkontakt. Die Anspannung in diesem Körper
überträgt sich auf den Raum, auch in der vollkommenen Stille, unterbrochen
nur durch das stoßartige Atmen des Schauspielers.
Plötzlich die Explosion: Farías dreht sich mit einer dermaßen ruckartigen
Bewegung in meine Richtung, dass ich mit dem ganzen Körper abwehrend nach
hinten schnelle, er aber bohrt seinen Blick in meine Augen, um dann mit
harter Lexik weiter aus dem Leben eines chilenischen Parias zu berichten.
Instinktiv möchte ich weghören, wenn Farías Sandokan von Heroin,
Vergewaltigung durch Priester und Pornofilmaufnahmen, erzählt. Dann kommt
die Sprache auf den Gerichtsprozess, in dem die Mitglieder des
Pädophilenrings verurteilt werden sollen. Sandokan soll aussagen. Er
bestreitet den Missbrauch. Er packt nicht aus.
## Neue Identität mit Hilfe von Perücke und Oberlippenbart
Farías lässt Sandokan nun nicht mehr schreien, seine Worte werden nun zu
einer einzigen Beschwörungsformel. Sandokan fleht um Gnade für seine
Peiniger, die er nicht als solche erkennt. Ganz im Gegenteil: Er spricht
von Liebe. Die Küsse der Vergewaltiger sind die einzigen zärtlichen
Annäherungen, die er in seinem Leben erfahren hat.
Der Mexikaner Gabino Rodriguez ist Filmschauspieler und künstlerischer
Leiter des Theaters Lagaritijas tiradas al sol in Mexico City. In seinem
Einpersonenprojekt „Tijuana“ versucht er, wie Pablo Larraín eine
Annäherung an die Wirklichkeit derer, die am unteren Rand der Gesellschaft
leben.
Der erfolgreiche Kulturschaffende legt sich mithilfe einer Perücke und
eines Oberlippenbarts eine neue Identität zu. Er zieht in die
nordmexikanische Grenzstadt Tijuana und verdingt sich dort sechs Monate
lang in einer Textilfabrik. Im Rahmen von F.I.N.D. wird nun der
theatralische Rückblick auf diesen Selbstversuch, mit dem Mindestlohn von
73 Pesos pro Tag (ca. 3,50 Euro) auszukommen, gezeigt.
Rodriguez hat auf die Studiobühne ein paar Ziegel gelegt, einen fetten
Bildschirm hingestellt und ein paar leere Bierflaschen. Auf dem Bildschirm
sind wacklige Filmaufnahmen vom Anflug auf Tijuana zu sehen,
abfotografierte Tagebuchseiten und ein Zettel, auf dem er notiert hat, dass
er während einer Schicht über 1.300 Kleiderpäckchen lieferfertig gemacht
hat.
Als Fazit bleibt bei Rodriguez allein die Verwunderung, dass den Menschen
dort das Bewusstsein fehlt, die Ungerechtigkeit wahrzunehmen. Es bleibt bei
der distanzierten Außensicht auf ein gesellschaftliches Phänomen, während
sich Pablo Larraín und Roberto Farías auf die Innenperspektive einlassen.
6 Apr 2017
## AUTOREN
Katja Kollmann
## TAGS
Chile
Verfassung
Theater
Schaubühne Berlin
Theater
Herbert Fritsch
Schaubühne Berlin
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