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# taz.de -- Herbert Fritsch an der Volksbühne: Pfeift auf die Erwartungen
> Retro, lustig, verschroben: Zwischen den Jahren sind einige Arbeiten des
> Regisseurs zu sehen, bevor er 2017 das Haus verlässt.
Bild: So sieht es aus, wenn der Original-Bibel-Text in der Luther-Übersetzung …
Albern. Und retro. Das ist Herbert Fritsch – nicht die Person jetzt,
sondern der Regisseur, oder vielmehr seine seit ein paar Jahren in der
Volksbühne inszenierten Stücke. Albern, retro, lustig, schräg, verschroben.
Auf den ersten Blick sind sie völlig unterschiedlich. So hat Fritsch sein
Berliner Comeback – nach seinen ersten Volksbühne-Jahren tingelte er durch
die Lande – mit einem echten bürgerlichen Schwank von 1910 begonnen, der
„Spanischen Fliege“.
Zuletzt hat er den Original-Bibel-Text in der Luther-Übersetzung der
Offenbarung des Johannes inszeniert („Apokalypse“) und ein
Abschieds-Allround-Avantgarde-Kunststück hinterhergeworfen, das auf so
ziemlich alles pfeift, was so an Erwartungshaltungen seitens der Zuschauer
mit ins Theater gebracht werden könnte: „Pfusch“. Vielleicht ein
Meta-Kommentar zur allgemeinen Lage. Vielleicht auch nicht. Denn die
aktuelle Lage, die interessiert Fritsch zumindest nach eigener Aussage
überhaupt nicht.
Nun soll es also bald zu Ende sein. Die Volksbühne wird einstürzen, die
großen Macher haben sich schon abgeseilt, der große Castorf, Intendant,
Regisseur, Ikone, geht in den Ruhestand (oder auch nicht), Christoph
Marthaler hat die Bühne gewechselt, Fritsch auch. Der Einzige, der
anscheinend noch bleibt, vielleicht, weil es ihn reizt, das neoliberale
Theater unter dem kommenden Intendanten Chris Dercon mal von innen zu
dekonstruieren, ist René Pollesch.
Die Volksbühne geht also in seine letzte Runde unter der Ägide von Castorf,
und wer zum Beispiel die Stücke von Fritsch noch nicht kennt, der sollte
sich ranhalten, denn bald könnte es vorbei sein. Zwischen den Jahren
jedenfalls gibt es mehrere gute Gelegenheiten, Fritsch, aber auch Pollesch
kennenzulernen. Pollesch gibt es am Donnerstag, den 29. Dezember, mit
[1][„Keiner findet sich schön“], einer mehr als treffenden
Gegenwartsanalyse einer männlichen Einzelperson kurz nach dem vierzigsten
Geburtstag (mit dem großartigen Fabian Hinrichs).
## Sechziger-Jahre-Futurismus
Von Fritsch gibt es gleich mehrere Aufführungen. Zum Beispiel eben
[2][„Pfusch“], das mit einer nicht enden wollenden E-Musik-Oper auf elf
Klavieren beginnt, während im Hintergrund ein verstörende Geräusche
machendes Rohr hin und her rollt, um schließlich in einer
Schwimmbad-Exegese (ohne echtes Wasser) zu enden. Ein wiederkehrendes
Element ist hier beispielsweise das eingekellerte Trampolin – man kennt es
schon aus der „Spanischen Fliege“.
Das gebiert allein schon die halbe Komik. Oder die „Apokalypse“ – ein etw…
schweres Brett, denn der Originaltext ist eben nicht ohne, um es mal
vorsichtig zu formulieren. Hier ist Ingo Günther die Konstante, denn wie in
„Pfusch“ macht er die Musik – die diesmal schön elektronisch-psychedelis…
ist, während sie sich in „Murmel Murmel“ zum Beispiel am
Sechziger-Jahre-Futurismus abarbeitet.
Im Wesentlichen irrt aber Wolfram Koch über die Bühne, mit der
devot-treuseligen Elisabeth Zumpe im Schlepptau, die gewissermaßen hündisch
und lustig schüchtern hinter ihm her souffliert, und den ganzen, irgendwie
zwischen Schwachsinn und zu viel Drogen pendelnden Originaltext
dahersalbadert. Die Bibel halt.
## Slapstick und Kalauer
Wie überhaupt die Schauspielenden – ähnlich wie bei Pollesch – sich meist
eine Menge Text merken müssen. Persönlicher Favorit ist dabei nicht das
allseits beliebte „Murmel Murmel“, das tatsächlich nur aus diesem einen
Wort in unendlicher Repitition besteht, sondern das unendlich komplexere
Stück „der die mann“ nach Texten von Konrad Bayer.
Fritsch, du bist so retro: Hier zeigt sich der ganze Kosmos, den Fritschs
Inszenierungen ausmacht: die Komik des – dekonstruierten – Alltags; die
Avantgarde der sechziger Jahre – hier: die „konkrete Poesie“ der „Wiener
Gruppe“, zu der neben Bayer auch der österreichische Lyriker und
Schriftsteller H. C. Artmann gehörte; die Schauspielschule des Stummfilms –
das Ensemble, das in sich eigen, also individuell sein darf, im Grunde aber
nur aus verschiedenen Clown-Charakteren besteht.
Wo alle herumwackeln und überdreht spielen wie Charlie Chaplin. Slapstick,
Kalauer, das ganze Potpourri des oft von oben bekrittelten, „einfachen“,
aber eben auch widerspenstigen, subversiven Humors. Eben auch wieder wie in
den sechziger Jahren: über Autoritäten wird sich lustig gemacht.
## Zur Schrägheit bereit
Die SchauspielerInnen können einem dabei manchmal ganz schön leid tun. Sie
entblößen sich, sie müssen Textblöcke lernen, die sich gewaschen haben –
während bei Pollesch aber oft die Souffleuse mit „Text!“ angeschrien wird,
passiert das bei Fritsch so gut wie nie. Und sie müssen aus sich heraus,
gerade auch körperlich. Sophie Rois ist dabei die Einzige, die nicht über
das Trampolin muss. Die Einfälle der Bühne, der Musik, der Kostüme stehen
den Texteinfällen in nichts nach.
Spannend wird sein, wie Herbert Fritsch die nächste Herausforderung angeht.
Während er sich an der Volksbühne immer auf ein junges, aufgeschlossenes
Publikum verlassen konnte – hier ist man grundsätzlich zur Schrägheit
bereit – wird in der Berliner Schaubühne, die er ab der Spielzeit 2017/18
bespielt, ein ganz anderes Publikum sitzen. Gediegener, kritischer. Das
könnte heiter werden.
Dieser Text erscheint im taz.plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg
immer Donnerstags in der Printausgabe der taz
26 Dec 2016
## LINKS
[1] https://www.volksbuehne-berlin.de/praxis/keiner_findet_sich_schoen/
[2] https://www.volksbuehne-berlin.de/praxis/pfusch/
## AUTOREN
René Hamann
## TAGS
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