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# taz.de -- Theater-Abschied mit Frank Castorf: Voodoo in der Métro
> Am Ende seiner Ära inszeniert Frank Castorf an der Berliner Volksbühne
> über sieben kurzweilige Stunden hinweg einen assoziationsreichen „Faust“.
Bild: Unter Beobachtung: die Schauspieler*innen Alexander Scheer und Thelma Bua…
Ganz am Ende, nach sieben Stunden, steigen Martin Wuttkes Faust und Marc
Hosemanns Mephisto in einen Sarg. „Nous sommes immortels“, wir sind
unsterblich, ruft Wuttke, und schon klappt Valérie Tscheplanowas
geheimnisvolle Margarete den Deckel zu. Recht hat er. Der große kleine
französische Satz, der so weder aus Goethes 12.000 „Faust“-Versen stammt
noch aus Émile Zolas nacherzähltem Roman „Nana“, vielleicht eher aus einem
Chanson von Jacques Brel oder einer göttlichen Probeneingebung, ist an
diesem Premierenabend weit mehr als frommer Wunsch und trotzige Behauptung.
Für seine letzte große Volksbühneninszenierung, bevor im Herbst Chris
Dercon die Leitung am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz übernimmt, hat Frank
Castorf Goethes „Faust“ gewählt. Wer die als besonders deutsch geltende
Tragödie um den Teufelspakt des weißen Mannes als Unternehmer, Künstler,
Wissenschaftler, dem Frau und Kind zum Opfer fallen und der sich im zweiten
Teil zur Zivilisationsparabel weitet, wer dieses in einem Zeitraum von über
30 Jahren entstandene Stück als Finale ansetzt, der will es noch einmal
wissen, die Welt und sich selbst darin erklären.
Im Programmbüchlein mit dem ansprechenden Titel „Wie man ein Arschloch
wird“ begründet der Intendant seine Wahl salopp: „Warum soll man das auf
die Bühne bringen? Zunächst einmal, weil man mit dem Faust machen kann, was
man will.“ Tatsächlich betreibt Castorf nicht nur wildes „Faust“-Samplin…
in dem er ständig zwischen Faust I und II springt. Er beschießt Goethe
außerdem mit Motiven und Assoziationen, die ihn schon seit Längerem
beschäftigen.
Auch Bühnenbildner Aleksandar Denić greift sie auf. Seine Pariser Halbwelt,
gegen die Castorf die deutsche Provinz vertauscht, zeigt die historisch
schillernde Kehrseite der bürgerlich-imperialen Metropole. Am Eingang der
Bar L’ ENFER streckt eine riesige Teufelsfratze dem Besucher die
Steinzunge heraus, darauf stapelt sich ein Asia-Puff, im Hinterhof führt
eine schwach befunzelte Treppe zur Métrostation „Stalingrad“. Darüber
Stromkabelsalat, indigene Masken und unzählige Plakate, die für
Kolonialprodukte oder Horrorfilme (Angst vor dem Fremden!) werben. Über dem
Screen, auf den das Schauspiel live aus den Innenräumen übertragen wird,
prangt in Jugenstiltypo: „Exposition Coloniale“.
## Rücksichtsloser Rassismus
Die faustisch gestaltete Welt ist errichtet auf dem Rücken der
Kolonisierten, meint Castorf und schließt seine Goethe-Deutung nahtlos an
seine jüngeren Wagner- und Brechtlektüren an. So scheuchen Faust und
Mephisto in der Métro mit rücksichtslosem Rassismus Passagiere von ihren
Plätzen, obwohl nebenan alles frei ist, ein treffendes kleines Bild für den
Landraub im großen Stil, den die Europäer vor allem im 19. und 20.
Jahrhundert betrieben haben.
Ein liebevoll nachgebauter Métrowaggon im Foyer dient als Setting für
rasante Fahrten durch videopojizierte Stadtlandschaften, auf deren
ergreifendem Höhepunkt Abdoul Kader Traoré Paul Celans „Todesfuge“
rezitiert, auf Französisch, aber im Rhythmus der „négritude“. Schon Goethe
thematisiert die Kosten des Fortschritts in der Szene mit Philemon und
Baucis, die der Landgewinner Faust aus ihrem Heim vertreibt. Bei Castorf
wird aus Baucis (Angela Guerreiro) eine Voodoopriesterin unter
französischen Legionären.
Doch es gibt auch Kolonisierte aus den eigenen Reihen: die Frauen im
Allgemeinen und die Margareten im Besonderen, deren einzige Aufstiegschance
in Prostitution und Schauspielerei besteht – so könnte man jedenfalls Zolas
„Nana“ lesen. Valery Tscheplanowa, Castorfs fantastische Haupt-Margarete,
ist von Anfang an ein gefallener Engel, der in der Höllenbar ihr totes Kind
aus dem Einweckglas von Lars Rudolphs Wagner zu fischen versucht. Sie
wechselt Outfits, steckt zum Schluss in einem busenfreien Varietéfähnchen
(Kostüme Adriana Braga), singt herzerweichend die alten Thule-Weisen und
ruht doch immer mitleidig, wissend, unzerstörbar lächelnd in sich selbst.
Klar, eine starke Frau, aber auch: Was für eine Männerfantasie!
## Castorf als Anwalt der Frauen?
Sie erhält Verstärkung („Fünf Margareten sind besser als eine“, so Faust
Wuttke erfreut) von der Afrodeutschen Thelma Buabeng als deftiger
„Nana“-Venus aus der Pariser Unterschicht. Gemeinsam mit Lilith
Stangenberg, Hanna Hilsdorf, Angela Guerreiro und Daniel Zillmann als
Theaterdirektor frisst sie sich durch die Textmassen. Das zieht sich, vor
allem in der zweiten Hälfte des Abends.
Castorf als Anwalt der Frauen? Dass er auch auf den letzten grandiosen
Metern seiner Ära in dieser Rolle nicht ganz glaubwürdig ist, weiß er
natürlich genau. Als Bindeglied zwischen den Unterdrückten dient der
Algerienkrieg. Castorf zeigt längere Passagen aus dem Film „Schlacht um
Algier“ (1966), in dem Algerierinnen sich entschleiern und sich als
Terrorgehilfinnen gegen die französische Besatzung wenden. Er zitiert
Sartres Aufruf zur Gewalt im Vorwort zu Frantz Fanon: „In der ersten Zeit
des Aufstandes muss getötet werden.“ Und am Schluss, wenn Fausts Erlösung
ansteht, lässt er Wuttke auf einem quietschenden Dreirad herumfahren und
hektisch mit der Algerienfahne fuchteln. So leicht ist Absolution nicht zu
haben.
## Zahnlos gemümmelt
Zeit, sich den Männern zuzuwenden. Denn das bleibt „Faust“ natürlich auch,
ein großes, Bilanz ziehendes Selbstporträt des „lebenslustigen, hessischen
Pygnikers“ (Goethe über Goethe), der in seinem Leben selbstbewusst viele
Rollen einnahm vom Dichter bis zum Kriegsminister. Martin Wuttkes
Charakterisierung dieses Goethe-Faust ist wenig schmeichelhaft: Meist trägt
er eine Greisengummimaske, unter der jeder Vers zahnlos gemümmelt klingt.
Und wenn er sie doch mal abzieht, kommt schneidende white supremacy oder
weinerliches Selbstmitleid zum Vorschein. Doch Faust hat auch eine
romantische Seite, die Alexander Scheer als glühender Lord Byron
verkörpert, der mit dem dramatischen Gedicht „Manfred“ eine Art
Schauerantwort auf den „Faust“ schrieb und die Selbstverwirklichung im
Freitod pries.
Bleibt noch Marc Hosemanns Mephisto, an dem die ganze Arbeit hängen bleibt.
Nie sah das Böse genervter aus. Denn der olle Faust hat nicht nur
verstiegene Wünsche, er ist auch ein impotenter alter Sack, der nichts mehr
auf die Reihe kriegt. Nicht mal Sex, weshalb Mephisto und ein Gummidildo
freudlos in die Bresche springen. Ein Job mit Burn-out-Gefahr, zumal auch
noch Sophie Rois, die ihm in einem Kurzauftritt als Hexe zu Hilfe kommt,
den Applaus absahnt.
## Bittere Kröten sind unsterblich
Die ganze Welt zu erzählen, wer traut sich das noch? Die konstruktive Seite
von Fausts Projekteschmiederei oder auch des Kapitalismus westlicher
Prägung, an dessen Ende Goethe die Realo-Utopie vom „freien Grund mit
freiem Volke“ sieht, das sich seine Freiheit täglich verdienen muss – sie
kommt bei Castorf kaum vor. Und doch realisieren der furchtlose
Ideen-Regisseur und sein nicht minder geistesgegenwärtiges Ensemble genau
diese Utopie im Spiel, in der Kunst, mit allen Reichtümern, Widersprüchen,
Verschuldungen.
Die sieben Stunden vergehen diesmal erstaunlich schnell. Dabei erlaubt
Castorf sich keine Sentimentalität: Wie Alexander Scheer anfangs als
Theaterdirektor den umstrittenen Nachfolger Chris Dercon parodiert (und mit
Bier übergießen wird) wirkte fast gutmütiger, als die Wirklichkeit sein
dürfte.
Und jetzt zum Schluss, kurz vor der Erlösung, die es hier sicher nicht
gibt, wird Bob Dylans „It’s all over now, baby blue“ nach wenigen Takten
abgewürgt, spuckt Wuttkes Faust sein „Verweile doch, du bist so schön“ dem
Teufel vor die Füße und giftet vor der Sargbesteigung: „Von dir lass ich
mir nicht auf die Stulle furzen.“ Wie wird man diese bitteren Kröten
vermissen! Ein Glück, dass sie unsterblich sind.
5 Mar 2017
## AUTOREN
Eva Behrendt
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