# taz.de -- Abschied nach zehn Jahren: Wo die weißen Klone wohnen | |
> Markus Poschner lässt mit seiner letzten Premiere als Bremer | |
> Generalmusikdirektor die Philharmoniker im Orchestergraben glänzen | |
Bild: Zum Schluss wälzen sich alle in der konkreten Poesie der Orgie und versc… | |
Auch wenn die Musiker beim Premierenapplaus am Samstag im Graben hocken | |
bleiben: Der Star ist in diesem Fall das Orchester. Und das macht Markus | |
Poschners Entscheidung so schlüssig, für seine letzte Bremer Premiere | |
Hector Berlioz (1803-1869) „La Damnation de Faust“ auszuwählen, „Fausts | |
Verdammnis“. Deren [1][Partitur nämlich setzt], nahezu gleichrangig zu den | |
bloß vier Solopartien des Werks – Faust, Marguerite, Méphistophélès und | |
irgendein Spaßvogel namens Brander – die Instrumente in Szene. | |
Ähnlich wie in einer Jazz-Session hat hier jeder mal seinen Moment, bis | |
sich alle in der konkreten Poesie der Walpurgisnacht-Orgie wälzen und | |
verschmelzen. Und dann ist klar: Ja, die Philharmoniker sind ein richtig | |
gutes Ensemble. Zehn Jahre lang hat Poschner das offizielle Orchester der | |
Stadt als Generalmusikdirektor geleitet, so lange wie keiner seit 1945. | |
In diesen zehn Jahren hat er es zu einem ausbalancierten Klangkörper | |
geformt, der erst den Nuancen und der Farbigkeit der französischen | |
Hochromantik gewachsen ist: Sein Vorgänger Lawrence Renes hatte dafür an | |
Bremen zu wenig Interesse. Und davor hatten sich Orchester und GMD Günther | |
Neuhold zwar weiterentwickelt, aber jeweils in unterschiedliche Richtungen, | |
Tempi und Lautstärken; wer Recht hatte, lässt sich nicht mehr klären. | |
Beim Faust [2][passt hingegen jetzt alles zusammen]: Paul-Georg Dittrichs | |
Inszenierung orientiert sich am ehesten an Cyber-Punk-Dystopien. Gespielt | |
wird in den Raum hinein, ein kreuzförmiger Laufsteg ragt vom Graben, den | |
die Bühne gleichsam umfließt, bis in die Mitte des Parketts. Vierte Wand? | |
Hat das Bühnen- und Kostümbildnerinnenduo Pia Dederichs und Lena Schmid | |
ruiniert: Wir alle atmen dieselbe Luft und dieselbe Musik. | |
Diese Welt ist eine Heimstatt blonder Klone in Weiß. Genauso sind Faust und | |
sein Leibteufel dieselbe Person, auch wenn Méphistophélès Claudio Otellis | |
eine klasse bösartig knarzende Bassstimme hat und die Titelpartie eine | |
jener diabolischen französischen Tenorrollen ist, an deren Höhen alle | |
scheitern müssen, die sich mit zu viel Wagner die Stimme ruinieren, wie | |
Chris Lysack beweist. Tja, verdammt. | |
Marguerite ist ein Ideal, Theresa Kronthaler eine ideale Marguerite: Sie | |
tritt zuerst als schrecklich betörende Vision aus der Ferne auf, unwirklich | |
schön singt sie später, obschon zusammengeknautscht auf dem Boden, dass der | |
Liebe lodernde Flamme das Glück ihrer Tage verzehre. Falls Grenzen zwischen | |
Traum- und Schattenbildern, körperlicher Performance und ihrer | |
klinisch-messtechnischen wie auch televisionären Verdoppelung existieren, | |
lässt Jana Findeklee videokünstlerisch jeden Versuch ins Leere laufen, sie | |
zu bestimmen. | |
Musiktheater als Raumkunst: Das entspricht auch dem, was Poschner an Oper | |
zu interessieren scheint. Denn Gegenwartsmusik, so viel steht fest, ist das | |
nicht: „Mich reizt vor allem das romantische deutsche Repertoire“, hatte er | |
ja schon zu Dienstantritt der taz gesagt. Spezialisten überließ Poschner | |
denn auch fast alle Uraufführungen, die es am Goetheplatztheater bis zur | |
Intendanz von Michael Börgerding regelmäßig gab. Dass deren Frequenz | |
seither von einer pro Spielzeit auf eine alle fünf Jahre eingebrochen ist, | |
hat ihn wenig gestört. Dabei war sein Einfluss aufs Programm gewachsen, | |
seit Hans-Joachim Frey, mit dem Poschner 2007 in Bremen anfing, weg war. | |
„Das Repertoire“, [3][so der Dirigent nun vor der Abschiedspremiere] im | |
Weser-Kurier, „wird sich immer wieder neu für uns öffnen, wenn wir das | |
zulassen.“ | |
Poschners größte Glücksmomente dürften aus der Zusammenarbeit mit dem | |
mittlerweile [4][auf den Luzerner Intendantenposten aufgestiegenen] | |
Operndirektor Benedikt von Peter rühren: Gemeinsam forschten sie, von | |
Schlingensief inspiriert, an der Beziehung von Theater, Raum und Musik, | |
wobei Repertoire oft rabiat neu gedacht wurde: „Les Robots ne conaissent | |
pas l’amour“ war dabei, ein durch Festivaleinladungen geadelter, furioser | |
postkolonialer Einspruch gegen „Die Entführung aus dem Serail“ mit und | |
gegen Mozarts Singspiel, grandiose Erfolge wie die | |
„Mahagonny“-Inszenierung, aber auch Reinfälle wie die mutig missglückte | |
Veroperung von Gustav Mahlers dritter Symphonie. | |
Poschner geht nach Linz: Als Chef des Bruckner-Orchesters wird er auch Frey | |
wieder treffen, allerdings, was ihn kaum stören dürfte, nicht oft. Der | |
Intendant des Bruckner-Hauses haut nämlich zum Jahreswechsel in den Sack, | |
wegen unbotmäßiger Kritik an seiner Arbeit, und geht dorthin, wo es das | |
nicht gibt: In Sotschi hat ihn [5][Freund] Putin neu [6][versorgt]. | |
19 Mar 2017 | |
## LINKS | |
[1] http://imslp.org/wiki/La_damnation_de_Faust,_H_111_(Berlioz,_Hector) | |
[2] http://www.theaterbremen.de/de_DE/spielplan/la-damnation-de-faust.1090424 | |
[3] http://markusposchner.de/poschner-dirigiert-seine-letzte-premiere-weserkuri… | |
[4] https://www.nzz.ch/feuilleton/lucerne-festival/neue-intendanz-am-luzerner-t… | |
[5] http://diepresse.com/home/panorama/oesterreich/4989596/Brucknerhaus_Russisc… | |
[6] http://www.salzburg.com/nachrichten/oesterreich/kultur/sn/artikel/brucknerh… | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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