| # taz.de -- Zeichentrick-Oper: Aufwendiger Jux | |
| > In Kiel und Lübeck inszeniert Pier Francesco Maestrini Rossinis Oper „Die | |
| > Reise nach Reims“ als Mix aus Performance und kauziger Live-Animation. | |
| Bild: Die Inszenierung ist vor allem eine Spielwiese für Effekte | |
| Sie haben Druck, stehen in der Öffentlichkeit und können in ihrer Eitelkeit | |
| einfach nicht anders als etepetete Versuche der Selbstdarstellung | |
| darzubieten; sind alle auch unerwidert verliebt und durch ihre Hormone | |
| genötigt, amourös tätig zu werden. Zudem reizt Stress die Nerven der | |
| Event-Touristen, die doch alle pünktlich zur Krönung Karl X. in Reims sein | |
| wollen. Aber das dafür notwendige Verkehrsunternehmen hat im Stil der | |
| Deutschen Bahn verkündet, dass das gebuchte Gefährt auf unbestimmte Zeit | |
| verspätet ist – 1825 mangelte es an Kutschen, Pferden und Kutschern. | |
| Und dann existiert auch nur ein einziges Klo weit und breit, vor dem die | |
| exaltierte Reisegruppe zum Druckablassen Schlange stehen muss. Bis einem | |
| Mann fast die Blase platzt. Er schleicht sich an die Bühnenrückwand, eine | |
| Leinwand, lässt die Hose herunter und es erhebt sich in aller | |
| Springbrunnen-Pracht ein pissgelb gezeichneter Fontänenstrahl der | |
| Erleichterung. | |
| Irgendwann öffnet ein Herr exhibitionistisch seinen Mantel vor der | |
| angebeteten Italienerin – nur echt mit Papier-Kolosseum auf dem Kopf –, da | |
| ploppt per Rückprojektion ein Arm mit großer Blumenstrauß-Geste aus seiner | |
| Lendenregion, gefolgt von einer Flasche Champagner und einem „Je t’aime“ | |
| schreibenden Füller. Da das Objekt der Begierde aber einfach nicht entzückt | |
| sein will, zaubert der Liebestolle noch ein Kanonenrohr aus dem Mantel, das | |
| zum Elefantenrüssel mutiert, der wiederum sogleich als Lunte funktioniert: | |
| Frisch entfacht bringt sie ein Feuerwerk zur Explosion. | |
| ## Aufwendige Ästhetik | |
| Urheber dieser kauzigen Ergänzungen und Karikaturist all der schrägen Vögel | |
| ist der italienische Cartoonist Joshua Held. Er zeichnete nicht nur die | |
| Bühnenrequisiten, so wie Maler David Hockney 1987 bereits Strawinskys | |
| „Rake’s Progress“ am Theater Bremen ausgestattet hat, sondern animierte m… | |
| sicherem, kräftigem Strich auch die Hintergrundszenerie und skizzierte keck | |
| kommentierende Szenen dazu. | |
| Der Mix aus Live-Performance und -Animation, mit der auch Suzanne Andrade | |
| an Berlins Komischer Oper experimentiert, ist eine aufwendige neue | |
| Musiktheater-Ästhetik. Held hat über 500 vorgefertigte Bildelemente zur | |
| Verfügung, die er in Echtzeit zur Musik in Bewegung versetzen und auf der | |
| Leinwand inszenieren kann. Angenehm dosiert setzt er die Mittel ein, sodass | |
| die Zeichenpointen durchweg Zeit zum Zünden und Verpuffen haben. | |
| Regisseur Pier Francesco Maestrini lässt die Comicwelt zudem mit dem | |
| Geschehen interagieren. Darsteller können Strichmännchen aufblasen und | |
| platzen lassen – oder mit einem Staubsauger aus dem Bild entfernen. | |
| Bühnenbild 4.0 – wenn auch noch auf einem grob-motorischen Niveau wie in | |
| frühen Computerspielen. Wobei charmant Brecht-isch die Produktionsmittel | |
| offengelegt werden. Zuschauer werden also nicht von einer Virtual Reality | |
| überwältigt, sondern sehen der Illusion beim Werden zu – in dieser | |
| Koproduktion der Kieler und Lübecker Stadttheater mit der Arena di Verona. | |
| Das Stück ist eine prima Spielwiese für Effekte aller Art. Handlung? | |
| „Keine“, antwortet das Programmheft. Also öffnen sich Freiräume für höh… | |
| Bühnenblödsinn. Definiert ist lediglich eine Grundsituation, in der | |
| Spottbilder nationaler Typologie zu groteskem Miteinander verquickt werden | |
| – mit der Dramaturgie des aufgeregten Auf-der-Stelle-Tretens. | |
| „Die Reise nach Reims“ war ein Auftragswerk, das Gioachino Rossini für die | |
| Krönungsfeier Karl X. schreiben sollte. Da zur Uraufführung ein | |
| Starsängerensemble zur Verfügung stand, komponierte er die Arien als | |
| Virtuosennummern. Nicht für zwei Protagonisten, sondern für zehn. Die auf | |
| gleichem Niveau zu besetzen, ist bei der Kieler Premiere annähernd | |
| gelungen. Umso erstaunlicher, da bei so viel Witz- und millimetergenauer | |
| Präzisionsarbeit fürs Zusammenspiel der 3-D-Gesten mit den 2-D-Animationen | |
| nicht alle Konzentration der Ton-Tour-de-Force gelten kann. | |
| Wobei es Tatia Jiblatze höchst amüsant als nymphomane Marquise Melibea | |
| gelingt, ihre Koloraturen wie Stöhnen zu artikulieren, das dem Orgasmus | |
| entgegenprescht. Während unter Daniel Carlbergs Dirigat am Hammerklavier | |
| ein beschwingter, kammermusikalisch eleganter Umgang mit Rossinis | |
| köstlichem Partitur-Soufflé erklingt. Was dem trubeligen Stillstand auf der | |
| Bühne treibt und erdet. | |
| Besonders putzig, wenn gezeichnete Figuren ausgemalt und beseelt in | |
| schriller Kostümpracht von der Cartoon- in die Opernrealität wechseln. Etwa | |
| die kaufsüchtige Markenmodefanatikerin, naturellement eine Französin, nur | |
| echt mit Eiffelturm-Nachbildung auf dem Hut. In dieser Aufmachung weiß | |
| Mercedes Arcuri mit tolldreister Komik vom größten Schmerz des Lebens zu | |
| singen – nämlich nichts anzuziehen zu haben, da ihre Koffer verloren | |
| gegangen sind. | |
| ## Kaum Reibungsfunken | |
| Aber Rossini treibt nicht nur mit nationalen Charakter- und | |
| Geschlechterklischees des 19. Jahrhunderts seinen Schabernack, auch mit | |
| seinem Metier – und bricht den kunstgesanglichen Umgang mit den üblichen | |
| Gefühlsverknotungen immer wieder höchst ironisch auf. Was die Regie noch | |
| zuspitzt. Während zwei Paare vom Verstand zerstörenden Feuer der Liebe | |
| tirilieren, wappnen sich auf der Leinwand ein Spanier und ein Russe zum | |
| Eifersuchtsduell in Lucky-Luke-Westernmanier. Auch bekommen gerade die ton- | |
| und textlos bleibenden Darsteller Sprechblasen spendiert, mit der sie in | |
| Comic-Symbolen ihre Gefühlsnotlage stumm herausschreien können. | |
| Schade nur, dass aus der Konfrontation der beiden Scheinrealitäten keine | |
| Reibungsfunken geschlagen und nur wenige Politsatireblitze gezündet werden. | |
| Gefeiert wird vor allem die Oper mit und als Comic. Wenn zum Finale die | |
| dahingeschaukelte Huldigungsarie für Karl X. nicht enden will, könnte auf | |
| zeichnerischer Ebene etwas über den Bourbonenkönig erzählt werden – | |
| beispielsweise warum Rossini seine Ehrerbietung für den erzreaktionären | |
| Monarchen schnell peinlich wurde, er sich die Wiederaufführung der „Reise | |
| nach Reims“ verbat und Großteile der Musik in „Le comte Ory“ überleben | |
| ließ. | |
| In Kiel ist die Szene nur mit einer lustig gähnenden und schließlich | |
| zerbröselnden Königsstatue illustriert. Andererseits gelingt ein Brexit-Gag | |
| beim Meistersinger-Wettstreit – inszeniert wie eine Ratssitzung für | |
| EU-Abgeordnete. Während ein Engländer „God save the king“ schmettert, will | |
| sich sein Land von einer eingeblendeten Europakarte hinfortstehlen, wird | |
| aber vom deutschen Vertreter per Lasso eingefangen und mit vereinten | |
| Kräften des EU-Personals wieder nördlich des Ärmelkanals platziert. Das war | |
| es dann aber auch schon mit der Einlassung auf die Malaise Europa. So | |
| bleibt die Zeichentrickoper vor allem ein bestaunenswerter Jux. | |
| Kiel: Di, 7. 2., 19.30 Uhr, Opernhaus. Weitere Aufführungen: Fr, 17. 2., | |
| 19.30 Uhr, So, 26. 2., 20 Uhr | |
| Lübeck: So, 5. 2., 18 Uhr (Premiere), Theater Lübeck. Weitere Aufführungen: | |
| Sa, 11. 2., 19.30 Uhr, Do, 23. 2., 19.30 Uhr | |
| 3 Feb 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Jens Fischer | |
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