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# taz.de -- Generationswechsel im freien Theater: Aufmüpfiger Größenwahn
> Die Flensburger Pilkentafel,Polit-Theater seit 33 Jahren, hat mit
> Berufung des 28-jährigen Regisseurs Peer Ripberger den Generationswechsel
> eingeleitet
Bild: Flirtet lieber mit dem Kapitalismus, als sich ihm zu verweigern: Peer Rip…
FLENSBURG taz | Schlupflöcher finden: Vielleicht ist das das Geheimnis, wie
die Flensburger Pilkentafel es geschafft hat, als Zwei-Mann-Off-Theater
seit 1983 anarchisches und politisches Theater zu machen. Vom
Goethe-Institut wurden sie zu Gastspielen bis nach Südkorea oder Mexiko
eingeladen, bei einer jährlichen Förderung von 50.000 Euro, die gerade mal
die Instandhaltungskosten des Theaters abdeckt – ohne Budget für Kunst oder
Lohn für die Betreiber Elisabeth Bohde und Torsten Schütte. Aber was macht
man in Zeiten, in denen der Neoliberalismus eifrig ein Schlupfloch nach dem
anderen zuhäkelt und man langsam merkt, dass einem die Puste ausgeht?
Bohde und Schütte haben beschlossen, ihr Theater radikal zu öffnen, damit
es überleben kann. Seit Juni gehört Theaterregisseur Peer Ripberger, 28
Jahre, mit zur künstlerischen Leitung. Die Unterscheidung zwischen
Stadttheater und freier Szene ist für ihn nicht relevant, und lieber
flirtet er mit dem Kapitalismus, als sich zu verweigern.
Die Frage nach dem Generationenwechsel stellt sich für viele freie
Theaterstätten mit Minimalbesetzung, die in den 1980er-Jahren gegründet
wurden, wie etwa das Theater Wrede in Oldenburg oder das Theater Combinale
in Lübeck. Elisabeth Bohde, gebürtige Flensburgerin, kam mit 25 Jahren nach
einem Schauspielstudium in Aix-en-Provence und einem Jahr in Nürnberg als
Theaterpädagogin allein, schwanger und ohne konkrete Zukunftspläne in ihre
Heimatstadt zurück, „um sich hier abzuparken“.
Ihre Mutter, eine verhinderte Tänzerin, kaufte kurzerhand ein Haus in der
Straße „Pilkentafel“. „Ich glaube, meine Mutter hatte immer das Bild ein…
Ballettschule vor Augen: Unten ist der Probenraum, und oben wohnt die
Lehrerin. Plötzlich war mir klar: Ich bin jetzt doch wieder in Flensburg.“
Elisabeth Bohde, meinungsstark, unbeeindruckt und pragmatisch, wirkt nicht
wie jemand, der sich ein Konzept vorsetzen lässt. Und so wurde aus der
Pilkentafel auch keine Ballettschule, sondern ein Theater, in der es nicht
nur um Kunst und Politik, sondern grundsätzlich immer um alles ging. Die
feministische erste Inszenierung, die auch ins Rahmenprogramm des Berliner
Theatertreffens eingeladen wurde, hieß „Wir werden uns leidenschaftlich
lieben“.
„Es waren eben die 1980er“, so Bohde. „Da machte man kein Projekt mit
Leuten, sondern man gründete immer gleich ein Kollektiv, das ein ganzes
Leben miteinander verbringen wollte und sich dann mit aller Vehemenz
verstritt.“ So ganz stimmt das aber nicht: Bei der ersten Inszenierung
stieß Torsten Schütte mit dazu, der gerade mitten in seiner
Tischlerausbildung steckte, mit 21 Jahren seine Begeisterung für das
Theater entdeckte und nach einer Zeit Bohdes Partner wurde und blieb.
Bohde und Schütte machten sich als Tourtheater vor allem mit Performances
für Kinder einen Namen. In Flensburg wurde eigentlich nur geprobt und die
Premiere gefeiert. Schütte fuhr bis zu 100 Auftritte im Jahr: „Das war
eigentlich wahnsinnig. Man spielt dauernd für andere Kinder und sieht die
eigenen nicht.“ Mit Lotta und Anton war die Familie mittlerweile
fünfköpfig.
1998 nahmen Bohde und Schütte einen Kredit auf, um eine alte Schlosserei
hinter ihrem Haus zu kaufen und zur Spielstätte mit 50 Plätzen aufzubauen.
Ruhe kehrte dadurch aber nicht ein. „Es war eigentlich eine widerliche
Zeit, in der ständig Rechnungen im fünfstelligen Bereich kamen, mit denen
niemand gerechnet hatte“, erinnert sich Bohde an diese Krisenphase. „Aber
irgendwann war uns klar: Wir können gar nicht raus, weil wir dafür viel zu
viele Schulden haben.“
Theater wie die Pilkentafel fallen aus vielen Förderungsstrukturen heraus,
weil sie zu klein sind, um die geforderten Eigenmittel stemmen zu können.
Hinzu kommt, dass die Fördermöglichkeiten zum Teil auf kommunaler und zum
Teil auf Länderebene angesiedelt sind und sich in den Förderbedingungen
häufig widersprechen.
Die einzige Sicherheit für die Pilkentafel waren die jährlich 50.000 Euro
von der Stadt Flensburg. In der Leistungsvereinbarung mit der Stadt
erklärten sich Bohde und Schütte bereit, unbezahlte Arbeit im Wert von
90.000 Euro im Jahr zu leisten. „Wir haben zum Teil unser Eltern- und
Arbeitslosengeld in die Produktionen gesteckt“, sagt Schütte. „Dazu würde
ich heute niemandem mehr raten.“
Wie kann es weitergehen mit diesen mit viel Idealismus und Willen zum Chaos
betriebenen Spielstätten, deren Gründer mittelfristig den Betrieb nicht
mehr stemmen können oder wollen? Bohde und Schütte haben zusammen mit dem
jungen Regisseur Peer Ripberger so etwas wie ein Mehrgenerationenhaus
geschaffen: Ripberger ist in die Leitung mit eingestiegen, hat zusammen mit
seinem Ehemann Dieter Ripberger, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter im
Deutschen Bundestag und freiberuflicher Kulturmanager tätig ist, eine neue
Corporate Identity entwickelt. Und er macht sich Gedanken um neue
Zielgruppen, wie zum Beispiel die 9.300 Studierenden der Europa-Universität
und der Fachhochschule.
Peer Ripberger ist gebürtiger Flensburger, vor zehn Jahren kam er das erste
Mal mit der Pilkentafel in Berührung, als er in der Stadtteil-Inszenierung
„Ein ganzes Viertel unter Verdacht“ einen Gartenzwerg spielte. „Es gibt e…
Bewusstsein in der Stadt dafür, dass die Pilkentafel ein Ort ist, an dem
Regeln gebrochen werden“, findet Ripberger. Er hat in Hildesheim angewandte
Theaterwissenschaften studiert und inszeniert sowohl am Stadttheater als
auch in der freien Szene, hat zum Beispiel in Trier in „Marx Eins: Manifest
der Kollaborativen Gemeingüter“ dessen Texte als Oper mit Bürgerchor
inszeniert. Am jungen Theater Göttingen führte er Regie bei „Tschernobyl.
Eine Chronik der Zukunft“ nach den dokumentarischen Monologen der
Nobelpreisträgerin für Literatur von 2015 Swetlana Alexijewitsch. Und er
inszenierte im Hamburger Gängeviertel die queere Ein-Mann-Kollage „Herakles
oder die Kunst der Unzulänglichkeit“.
Was hat ihn dazu bewogen, in die künstlerische Leitung eines Hauses
einzusteigen, bei dem er nicht sicher sein kann, dass auch nur ein Kollege
seine Arbeit zu sehen bekommt – was gerade für Nachwuchsregisseure
unumgänglich ist, um Engagements zu erhalten? „Ganz klar die Erkenntnis,
dass ich an jedem anderen Haus als Regisseur einen Intendanten habe, dem
ich mich verkaufen und dessen Vorlieben ich bedienen muss“, so Ripberger.
„Ich habe hier einen Ort, der nahezu außerhalb eines Marktes funktioniert.“
Die abgelegene Lage ist eben auch ein Freifahrtschein: „Wenn ich hier ein
Experiment mache, das nicht funktioniert, ist es okay. Und wenn es
funktioniert, kann ich Gastspiele machen, um es bekannt zu machen.“
Mittelfristig wollen Bohde, Schütte und Ripberger verlässliche Netzwerke zu
anderen Künstlern etablieren, die den utopischen Raum der Pilkentafel
mitgestalten wollen. Bohde und Schütte ziehen aus dem Wohnhaus aus, so dass
die Künstler neben einer Probebühne auch Wohnungen haben – für die freie
Szene ist das ein Luxus.
Vor allem wollen sie erstmals einen regelmäßigen Spielbetrieb etablieren.
Sechs Premieren, regelmäßige Bespielung von Donnerstag bis Samstag. Dafür
wurden zwei neue Mitarbeiter eingestellt, der Techniker Manuel Melzer und
Esther Sievers als PR-Referentin.
Das kostet, wenn man die Mindestgage des Theater-Standardvertrags NV Bühne
von 1.765 Euro brutto als Grundlage nimmt, zusammen mit der regelmäßig
beteiligten Schauspielerin Anaela Dörre nochmal 50.000 Euro im Jahr. „Wenn
die nicht gewährleistet werden, müssen wir sehen, wie groß unsere
Motivation ist und wie weit wir mit Drittmitteln kommen“, sagt Ripberger.
Immerhin: Gerade wurde der Pilkentafel im Rahmen des erstmals
ausgerichteten Koproduktionsfonds des Goethe-Instituts die
grönländisch-isländisch-deutsche Produktion „Added ValEUropa broke down (so
we go looking for utopia in Greenland)“ gefördert.
Die kommende Spielzeit wird mit einem Projekt von Peer Ripberger, Elisabeth
Bohde und ihrer Tochter Lotta eröffnet: „Fett. Mein BMI ist höher als dein
IQ, Bitch!“ ist eine Performance auf Basis autobiografischer Texte von
Bohde und ihrer Tochter Lotta sowie politischen Pamphleten über
Diskriminierung. Elisabeth Bohde und ihre Tochter stehen auf der Bühne,
Peer Ripberger inszeniert. Die nächste Spielzeit wird zeigen, wie der
Generationenwechsel in der freien Szene funktioniert. Auf der Website gibt
man sich aufmüpfig schon mal als FlensBurgtheater. Wenn die Schlupflöcher
weniger werden, braucht man eben Größenwahn.
13 Sep 2016
## AUTOREN
Hanna Klimpe
## TAGS
Freies Theater
Subventionen
Kiel
Theater
Theater
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