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# taz.de -- Theatermusiker Ingo Günther: Frau Dirigentin in Ekstase
> Ingo Günther ist der langjährige Komponist des Regisseurs Herbert
> Fritsch. Ihr „Pfusch“ ist zum Berliner Theatertreffen eingeladen.
Bild: Ingo Günther als die Dirigentin in roter Robe im „Pfusch“-Ensemble
Tapp, tapp, tapp, hört man die Pfoten von Lotte auf dem Parkett. Sie
umkreist uns im alten Ballettsaal der Volksbühne. Dort treffe ich Ingo
Günther, Theatermusiker, der schon in mindestens 20 Inszenierungen mit dem
Regisseur Herbert Fritsch gearbeitet hat. Lotte schnüffelt an den
ramponiert aussehenden Klavieren, die im Ballettsaal geparkt sind. Wenn
„Pfusch“ gespielt wird, Herbert Fritschs letzte Inszenierung an Castorfs
Volksbühne, eingeladen zum Theatertreffen, dann hauen die Schauspieler
wieder auf die Tasten, wie Wahnsinnige. Jeder an einem Klavier, mit einem
Finger, einen Ton.
Das ist beeindruckend, komisch, verstörend, dieses Konzert von 11
Dilettanten, die mit Haudraufenergie auszugleichen suchen, was ihnen an
Können fehlt. Alle, auch Ingo Günther, tragen Kleider, er steckt in einer
langen roten Robe. Sie toben wie ein entfesselter Kindergeburtstag,
grinsen, halten kurz an, die Arme von Günther, der sie am Dirigentenpult
steuert, verharren kurz in der Luft, und weiter geht es, womöglich noch
wilder. Alles in Achteln, monoton, eng geschichtet.
Günther dirigiert und spielt zugleich die Dirigentin wie eine kindliche
Vorstellung von dieser Autoritätsfigur. Er liebt die Arbeit als
Schauspieler, die Bewegung auf der Bühne. „Musik wird sichtbar so“, sagt
er, und dass das Interesse daran schon mal ein Bindeglied zwischen ihm und
Herbert Fritsch sei.
Ich habe eine Theorie zu dem langen Klavierstück, das hartnäckig kein Ende
finden will. Wie eine Parodie auf Neue Musik kommt mir das vor, deren
Publikum die Kunst meist gesittet und angespannt still sitzend
entgegennimmt. Aber Avantgarde und ihre Rezeption auf die Schippe zu
nehmen, das hat Günther hier eigentlich nicht interessiert. „Spannung,
Bewegung, Energie, Einteilung von Zeit, das ist es eigentlich“, was ihn an
der Musik interessiert.
## Der Sound eines Hochgeschwindigkeitslebens
Das Klavierstück in „Pfusch“ rast, es ist der Sound eines
Hochgeschwindigkeitslebens, das unter Druck steht. So wie das des
Regisseurs Herbert Fritsch, der jedes Jahr sechs, sieben Inszenierungen
macht (nicht nur in Berlin), ein Wahnsinn eigentlich. Und doch liegt in dem
Galopp, in der oftmaligen Wiederholung auch etwas von Beharren, sich eben
die Zeit zu nehmen, die etwas braucht.
Diese „Penetranz, wir behaupten das einfach gnadenlos weiter, erst recht,
wenn man denkt, jetzt müsste etwas anderes kommen“, erläutert Günther, das
hat er auch mit Fritsch zusammen entwickelt. „Um im Idealfall in eine Art
Ekstase zu kommen. In die Extreme zu gehen.“
Aber es liegt dem Gehämmere auch etwas viel Banaleres zugrunde, nämlich
eine Technik zu finden, an der alle Schauspieler, die ja nicht alle auch
Musiker sind, teilnehmen können. Die Finger haben sie sich blau gespielt
beim vielen Proben.
## Wie ein Bild Geräusche annimmt
Schon bevor Günther, Jahrgang 1965, die Zusammenarbeit mit Fritsch begann,
hat er für Theater komponiert, in Bremen, Jena, München. Wenn er heute über
die Entwicklung seiner Theatermusiken redet, dann ist erstens immer von
„wir“, dem gemeinsamen Ansatz von ihm und Fritsch, die Rede, und zweitens
vom Schauen. Wie ein Abend klingt, das sucht er als Augenmensch, der sich
gerne von den Bühnenbildern, die Fritsch entwirft, anregen lässt.
Farben, Formen, Materialien, die Fritsch aus einem visuellen Speicher holt,
in dem viel Kunst und viel Trash liegen, sind oft zuerst da. Ein riesiges
Holzsofa war in „Ohne Titel. Nr. 1“ (2014) der Zündfunke, den Abend hölze…
klingen zu lassen, mit braunen Instrumenten und knarzenden Geräuschen, die
mir erschienen, als würde die ganze Theatermaschinerie vor sich hin
seufzen. Die Farbigkeit in „der die mann“ (2015) führte dagegen zu
elektronischen Instrumenten.
Man spürt, hört und sieht den Abenden oft die offene Bauart an, wie mal
einer Bewegung ein Geräusch folgt, wie Räume auf Farben reagieren, wie
Musik eine Figur antreibt. Nicht zuletzt dafür erhält Fritsch den Berliner
Theaterpreis. „Das macht eben auch das Theater von Herbert Fritsch aus“,
sagt Günther, „die Elemente Text, Schauspiel, Licht, Bewegung, Sprache sind
nicht hierarchisch geordnet. Mal ist das eine Element vorne, mal das
andere; sie bewegen sich alle frei im Raum.“
## Abschied von der Volksbühne
Das heißt beim Proben auch, dass so lange gesucht wird, bis jeder
Schauspieler auch die Figur, die Farben, Geräusche gefunden hat, die ihm
Spaß machen. Das ist ein Prozess, der Zeit braucht bei den Proben. An der
Volksbühne haben Fritsch und er dafür gute Bedingen gefunden, Günther
schätzt die gute Zusammenarbeit mit allen Gewerken.
Am Sonntag überreicht der Berliner Bürgermeister Michael Müller Herbert
Fritsch den Berliner Theaterpreis. Die Zeit von Fritsch und Günther an der
Volksbühne endet trotzdem mit dieser Spielzeit. Wenn Castorf geht, gehen
sie auch. Die Entscheidung für Chris Dercon als Intendanten, ausgerechnet
für dieses große Flaggschiff von Theater, kann Günther nicht
nachvollziehen. Das war kulturpolitisch ein großer Fehler, denkt er, wie
viele an diesem Haus. Klar, dass es schmerzt, dass ihre Inszenierungen hier
nicht mehr gespielt werden. In Berlin erarbeiten sie ihr nächstes Stück an
der Schaubühne.
Dass im Theater sehr viel Musik verwendet wird, die es schon gibt, also
über Songs Zeithorizonte und Milieus angespielt werden, das ist Günthers
Sache nicht. „Die Realität möchte ich gerne draußen lassen“, kommentiert…
erstaunlicherweise und meint damit sowohl die Realität allgemein als auch
die des Musikbusiness.
## Ein Schwamm voller Erinnerungen
„Das ist ja das Verrückte an Musik“, denkt er, „jeder verbindet etwas
damit. Musik ist wie ein Schwamm, kann sofort etwas annehmen, eine
Erinnerung, speichert die Zeit.“ Er sucht dann gerade die Klänge, wo die
Verbindung noch zu spüren ist, etwas Vertrautes aufscheint, aber nichts
eindeutig wird.
Als sie 2014 an „Ohne Titel Nr.1“ arbeiteten, las er von der Raumsonde
Voyager, an deren Bord sich auch eine Schallplatte mit berühmten Titeln
befand für den Fall, dass die Aliens mal reinhören wollen. Das hat ihn sehr
beschäftigt, vor allem die Möglichkeit, dass das ferne Sternenpublikum sich
vielleicht auch einen ganz anderen Zusammenhang denkt.
Fehler interessieren Günther. „Fehler haben etwas“, sagt er, „gäbe es s…
nicht als Möglichkeit, wäre jedes Fußballspiel langweilig.“ Dass Fehler
passieren können, ist etwas, was Fritsch und er im Theater ständig
wachhalten, nicht zuletzt, durch die vielen Situationen des Scheiterns und
Stolperns.
Lotte, der Theaterhund, läuft beim Verlassen des Ballettsaals voraus,
schaut überall in offene Türen und wird begrüßt. Da ist diese familiäre
Vertrautheit spürbar, die Künstler, Handwerker und Techniker hier jetzt zu
verlieren befürchten. Klar wird das auch Günther fehlen.
6 May 2017
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
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