# taz.de -- Die Volksbühne: Auf die Knie, ihr blasierten Westler | |
> Die Volksbühne wurde zu einem der „Theater des Jahres“ gewählt. Was für | |
> ein Start ist das in die letzte Spielzeit der Ära Frank Castorf. | |
Bild: Der König vor seinem Palast: Frank Castorf | |
BERLIN taz | Ein Renner im Programm von Castorfs Volksbühne sind die | |
witzigen Inszenierungen von Herbert Fritsch, von „Die Fliege“ über | |
„Murmel Murmel“ bis „der die mann“. Eigentlich haben die Kostüme und | |
Masken der Schauspielenden bei Fritsch oft etwas extrem | |
Anachronistisches – wie aus einer eingemotteten Puppenkiste | |
herausgesprungen, zappeln die Komödianten vor den Augen des | |
Zuschauers putzmunter herum, hehehe, glaubt doch bloß nicht, wir sind | |
tot! | |
Die exzessiven Applausordnungen am Ende der Stücke, wenn die | |
Spieler wieder und wieder hervortanzen und gar nicht mehr von der | |
Bühne wollen, sich wieder und wieder verbeugen, unterstreichen | |
diesen Gestus: Tot sind wir noch lange nicht. Und so, wie dort der | |
Abschied jedes Mal zu einem Ritual und die Wiederholung | |
ausgekostet wird, scheint auch der Abschied von der Volksbühne Frank | |
Castorfs ein langes Stück mit Ansage und Wiederholung. Auch dieser | |
Text, zuerst in der Serie „Letzter Sommer“ des Berlin-Teils am 17. August | |
erschienen, wird kein Schlusswort sein. | |
Denn gut eine Woche später wurde die Volksbühne Berlin zusammen mit dem | |
Gorki-Theater zum [1][Theater des Jahres] ernannt. Das ist das Ergebnis | |
einer Kritikerumfrage der Zeitschrift Theater heute. Es ist die erste | |
Auszeichnung für die Volksbühne nach 1993, damals war Frank Castorf erst | |
kurz im Amt. Wenn nun seine letzte Spielzeit beginnt, tourt Castorf erst | |
mal mit seiner Inszenierung der „Brüder Karamasow“ für eine lange | |
Aufführungsserie in Paris. | |
Seit im Frühjahr 2015 bekannt wurde, dass sein Vertrag als Intendant | |
nicht verlängert wurde und der Kultursenator (Michael Müller) samt | |
Kulturstaatssekretär (Tim Renner) sich für Chris Dercon als | |
Nachfolger entschieden haben, wogt der Abschiedsschmerz durch das | |
Haus und durch die Reihen der Volksbühnen-Fans. Das Wogen der Trauer | |
und das Wogen der Wut hat diese Gemeinde der Castorf-Treuen in einer | |
Größe sichtbar und hörbar gemacht wie lange nicht zuvor. Es hat, wie | |
jeder ordentliche Sturm, der auf sich hält, die Bewegung vergrößert | |
und lauter gemacht. Die Wahl zum Theater des Jahres wird diese Gemeinde | |
beflügeln. | |
## Eine Folter für Steiß und Rückenwirbel | |
Aber ganz bestimmt niemand wird der Bestuhlung im großen | |
Zuschauerraum nachweinen, in der letzten Spielzeit eine Folter für | |
den Steiß und die Rückenwirbel. Eigentlich hatte der Zuschauerraum | |
mit dem Bühnenraum zu langen, geteerten Schrägen verschmelzen | |
sollen, nach einem Konzept von Bert Neumann, Bühnenbildner und | |
wichtiger Mitstreiter Castorfs. | |
Teils saß man nun in der Spielzeit 2015/16 auf Sofas und Kissen, die sehr | |
sportliche Rückenmuskulatur verlangen, um nicht in sich | |
zusammenzusacken, teils quälte man sich auf improvisierten | |
Stuhlreihen, die einen schräg nach hinten kippten und Kurzbeinigen | |
(Menschen unter 1,80) die Füße in die Luft hoben – auch nicht einfach. | |
„Schreib mal darüber“, knurrte mich ein krummgesessener Kollege an | |
– ist hiermit erledigt. | |
Abschied nehmen war an der Volksbühne aber auch ein sehr | |
existenzielles Kapitel für die Künstler und Handwerker des Hauses. | |
2009 starb der Regisseur Jürgen Gosch, 2010 Christoph Schlingensief, | |
2013 Dimiter Gotscheff, 2015 Bert Neumann. Nun ist die Erfahrung vom | |
Sterben und vom Ende in der Kunst oft gegenwärtiger als im Alltag, | |
die Künstler sind gewissermaßen Routiniers im Umgang mit den | |
Gespenstern, aber all diese Verluste müssen den Betrieb auch viel | |
Kraft gekostet haben. Fehlstellen, die keine sichtbaren Lücken | |
hinterlassen durften. | |
## Ein Abschiedsgeschenk an den Regisseur | |
Ende Juli hat der Verlag Theater der Zeit sein jährliches Arbeitsbuch | |
herausgebracht, schlicht „Castorf“ benannt. Deutsche und | |
internationale Künstler erzählen, welche Zündfunken von dessen | |
Theater auf sie übersprangen – es ist ein Abschiedsgeschenk an den | |
Regisseur. | |
Unter denen, die sein Theater als eine Offenbarung von Kraft, Energie | |
und Zukunfts-Potenzial erfahren haben, ist auch der polnische | |
Regisseur Jan Klata, Intendant in Krakau. Er schreibt: „Meine | |
deutschen Freunde beklagen sich gelegentlich, dass Castorf viel | |
mache, die Inszenierungen lang seien, einander ähneln … Dann denke | |
ich mir: Verdorbene, blasierte Vertreter des dekadenten Westens, | |
geht in euch, fallt nach einem Augenblick reiflicher Überlegung | |
zunächst auf die Knie, dann auf das Gesicht, klatscht Beifall, schlagt | |
euch in der Horizontalen in einem Akt der Sühne gegenseitig ins | |
Gesicht. Denn wahrlich, ich sage euch, ihr habt Glück, in der Ära Frank | |
Castorf leben zu dürfen.“ | |
Die Inbrunst, mit der Klata schreibt, hat, wenn auch vielleicht ein Hauch | |
von Ironie darüber schwebt, etwas von sakraler Verehrung und von | |
jenem östlichen Märtyrergeist, dem zufolge die Kunst durchaus etwas | |
zu Durchleidendes ist. Etwas davon macht eben auch das Theater | |
Castorfs aus, der sich nicht nur in der Beschäftigung mit | |
Dostojewski in den russischen Mystizismus hineinstürzt, sondern | |
das Banalste im Leben und das tiefste Leiden immer eng | |
nebeneinander anzusiedeln weiß. | |
## Ein Becken voll Erniedrigter und Beleidigter | |
Was mit seiner Volksbühne enden wird, ist das Arbeiten aus einer | |
Ost-West-Spannung heraus, die in den Jahren seines Antritts eine heiße | |
Glut war, ein Becken voll Erniedrigter und Beleidigter, von den | |
Verlierern der Wende zuerst, aber bald auch von vielen anderen auf | |
Seite geschobenen und vergessenen Stimmen, darunter die der | |
Schriftsteller maudit wie zum Beispiel Louis-Ferdinand Celine, Curzio | |
Malaparte, vielleicht sollte man sein Interesse für Wagner, den er | |
in Bayreuth erledigte, auch dazuzählen. | |
Dieses Hineinhorchen mit deutschen Ohren in einen Echoraum der | |
Geschichte, in dem die Verheerungen von Faschismus, Nationalismus, | |
Kommunismus und Kapitalismus widerhallen, wurde zu seiner Passion | |
und Castorf zu ihrem Spezialisten. Das wird es so nicht mehr geben. | |
Dass Frank Castorf nicht nur in Deutschland, sondern in der | |
Theaterwelt international zu einer Leitfigur aufgestiegen ist, | |
muss ein Trost gewesen sein für die Nachfahren der DDR. Er war | |
spannender als das Ampelmännchen, herausfordernder, | |
kopfzerbrechender, lustiger, anstrengender. Deshalb bleibt das | |
Ende seiner Ära eine Kränkung, die gar nicht so viel damit zu tun hat, ob | |
man seine Inszenierungen nun gut verstand und mochte oder man doch | |
lieber nur zu Pollesch- und Fritsch-Stücken in sein Haus am | |
Rosa-Luxemburg-Platz ging. | |
25 Aug 2016 | |
## LINKS | |
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Theater_des_Jahres | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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