# taz.de -- Protest in der Berliner Volksbühne: Dissidenten bis zum Schluss | |
> Die Belegschaft des Hauses protestiert gegen den neuen Intendanten Chris | |
> Dercon: Die Identität des Hauses werde geschleift. Was heißt das? | |
Bild: Die Volksbühne: Noch ein letztes Konfliktfass, bevor sie sich in Boykott… | |
Zum Ende der vorletzten Spielzeit der Ära Castorf kocht noch einmal alles | |
hoch: die Hysterie, das Ressentiment und die Angst. In einem offenen Brief | |
hat sich ein Großteil der Belegschaft der Berliner Volksbühne noch einmal | |
gegen die schon vor einem Jahr gefällte und bereits heftig diskutierte | |
Entscheidung der Berliner Kulturpolitik ausgesprochen, Chris Dercon, den | |
Noch-Direktor der Londoner Tate Modern Gallery, als Nachfolger von Frank | |
Castorf zu berufen. | |
Dercons in einer Ensemblevollversammlung Ende April vorgestellte Pläne | |
seien alter Wein in neuen Schläuchen, gleichzeitig fürchte man, dass bei | |
einer internationaleren Ausrichtung des Theaters die Gewerke – die | |
theatereigenen Werkstätten für Bühnenbau, Kostüme usw. – nicht mehr | |
gebraucht würden. Vor allem aber rechne man mit der „historischen | |
Nivellierung und Schleifung von Identität“. | |
Offiziell ist über Dercons Pläne kaum mehr bekannt als vor einem Jahr. Das | |
ist nicht weiter ungewöhnlich: Normalerweise stellen neue Intendanten ihre | |
Pläne auch erst im März oder April vor der neuen Spielzeit vor. Die | |
Befürchtung, dass die Gewerke geschleift und das Haus strukturell | |
maßgeblich umgebaut werden soll, hat die ansonsten wenig | |
vermittlungsfreudige Senatskanzlei in einer Antwort auf den Brief klar | |
dementiert. | |
Was übrigens nicht heißt, dass die Stadt eine grundlegende Strukurdebatte | |
nicht nötig hätte: Da Berlin zwar über vier größere und ein kleines | |
Ensemble-Sprechtheater und obendrein eine große Freie Szene verfügt, mit | |
dem Hebbel am Ufer aber nur über ein Produktionshaus, wäre ein | |
international und interdisziplinär ausgerichtetes, vor allem aber auch | |
erstmals finanziell anständig ausgestattetes Künstler- und Produktionshaus | |
in der Tat ein diskussionswürdiges Novum. Ob dafür architektonisch, | |
historisch ausgerechnet die Volksbühne geeignet ist, steht auf einem | |
anderen Blatt. | |
## Von Streitlust schwärmen | |
Der tatsächlich wunde Punkt aber bleibt die „Identität“, die nun angeblich | |
auf dem Spiel steht. Sie ist an ein Selbstverständnis von Dissidenz und | |
Dissens gebunden, für die die Volksbühne symbolisch einsteht. Darauf können | |
sich sogar zwei so weit auseinanderdriftende Milieus wie die teilweise | |
altproletarische Ostbelegschaft und das urbane Hipster-Publikum einigen. | |
Noch 27 Jahre nach der Wende scheint nämlich das Theater am | |
Rosa-Luxemburg-Platz der einzige Ort zu sein, der nicht im Konsens der | |
Wiedervereinigung und kapitalistischer Berliner Republik aufgegangen ist, | |
von neurechten wie altlinken Enklaven in Ost und West einmal abgesehen. Ein | |
gallisches Dorf im neurömischen Imperium, von Don Castorf mal mehr, mal | |
weniger willkürherrschaftlich regiert wie ein Mafiaclan und schon in den | |
1990er Jahren – auch dank Schlingensief – mit mehr Diversität auf der Büh… | |
ausgestattet als manches Diskurstheater heute. | |
Dass die Konfliktlust und Streitfreude, von der Dramaturg Carl Hegemann so | |
schön schwärmen kann, sich mittlerweile zu einem guten Teil auch selbst | |
mythologisiert hat und in den Kunstwerken eher sporadisch aufflackert, | |
gehört zum Leben „im Selbstwiderspruch“ (Hegemann), mit dem auch das links | |
fühlende und liberal lebende Publikum bestens vertraut ist. Nirgends | |
herrscht jedenfalls mehr Konsens zwischen Bühne und Publikum als bei | |
Pollesch-Inszenierungen, kein Künstler hat sich resoluter vom Auftrag | |
„künstlerischer Verarbeitung gesellschaftlicher Konflikte“ (offener Brief) | |
befreit als Herbert Fritsch, dessen Inszenierungen – auch das mittlerweile | |
vergessen – der Hausherr anfangs mit demonstrativem Desinteresse strafte. | |
Bleibt Castorf, der hinter allem Klamauk stets ein tragisches | |
Geschichtsverständnis in Szene setzt: Angesichts der historischen | |
Gewissheit, dass alle Systeme endlich sind und hinter jeder noch so süßen | |
Utopie eine hässliche Fratze lauert, kann auch die Bundesrepublik | |
bestenfalls einschläfernde Scheinidyllen bieten. Kein Wunder, dass der | |
Dialektiker da gerne mit etwas Stalinismus oder Schlimmerem die Ruhe stört. | |
## Was, wenn Dercon erfolgreich wird? | |
In dieser Hinsicht wird „Der arme Herr Dercon“, wie die Zeit gerade | |
titelte, vermutlich kaum mithalten wollen. Bisher kennt die Berliner | |
Theaterschickeria (inklusive -kritik) allerdings kaum mehr von ihm als | |
seinen Auftritt bei der Pressekonferenz im Frühling 2015: Da war das | |
„Boss-Senior-Model“ (Die Welt) eloquent, dosiert ironisch, um Respekt und | |
Ausgleich bemüht, lobte alle und jeden. So viel geschmeidiger Charme gilt | |
im rauen Berlin schnell als aalglatt, „neoliberal“ und rückgratlos. | |
Etliche Künstler der Volksbühne, mit denen der „Kulturmanager“ das Gespr�… | |
suchte, ließen ihn abblitzen – vielleicht aus Treue zur | |
Volksbühnenidentity, vielleicht, weil ihnen der Stil des Neuen nicht | |
behagte. Über sein Theater jedoch lässt sich schlicht nichts sagen, solange | |
nichts davon zu sehen ist. Die ganze Anti-Dercon-Kampagne, von den kleinen | |
Gehässigkeiten und Gerüchten bis zum offenen Brief, grenzt mittlerweile an | |
massive Verleumdung. | |
Mag sein, dass die Volksbühne damit noch ein letztes Konfliktfass aufmacht, | |
bevor sie sich in Boykott und Sabotage flüchtet. Mit ihrem Beharren auf | |
„Identität“ macht sie sich jedoch deutlicher kleiner als nötig. Was soll | |
schon passieren? Wenn Dercon sein Projekt in den Sand setzt, werden die 25 | |
Jahre Castorf-Ära rückblickend noch mehr vergoldet. All diejenigen, die | |
sich mit dem Geist des Hauses, mit Konflikt und Abweichung identifizieren, | |
genießen in der Theaterwelt den besten Ruf und könnten ihre | |
Dissens-Kompetenz missionarisch in die Welt hinaustragen – was sicher | |
subversiver wäre, als sie in einer ewig fortdauernden Castorf- oder | |
Pollesch-Intendanz zu musealisieren. | |
Und was, wenn Chris Dercon erfolgreich wäre? Dazu muss er zunächst vor | |
allem starke Nerven zeigen. Aber wer weiß, vielleicht hat der Mann ja mehr | |
Lust auf Konflikt als erwartet. Das wäre dann für die Volksbühne wirklich | |
hart. | |
24 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Eva Behrendt | |
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