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# taz.de -- Start der Spielzeit Volksbühne Berlin: Heilige Scheiße!
> Frank Castorf beginnt seine vorletzte Spielzeit an der Volksbühne in
> Berlin. Das Stück: Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“.
Bild: Schauspieler Alexander Scheer turnt über das Dach der Volksbühne.
Berlin taz | „Holy Shit“ ist einer der Slogans, mit denen Bert Neumann, im
Juli verstorbener Bühnenbildner und Gestalter der Volksbühne in Berlin,
kleine Streichholzschachteln bedrucken ließ. Und heilige Scheiße gibt es
eine Menge in der ersten Inszenierung, die Frank Castorf nach Neumanns Tod
in Berlin zeigt: „Die Brüder Karamasow“ in einem noch von Neumann
konzipierten Bühnenraum.
Das liegt natürlich an dem intensiven Verheddern von Dostojewskis
Romanfiguren in Mystizismus und Orthodoxie, ihrem Schlingerkurs zwischen
Gott und Teufel auf der einen und der Angst vor dem Verlust dieser
Richtungsweiser auf der anderen Seite. Mehr aber noch liegt es an einem
Russland der Gegenwart, der unheimlichen Allianz zwischen orthodoxer Kirche
und staatlicher Macht, und der hartnäckigen Wiederkehr der Gespenster des
20. Jahrhunderts.
Heilige Scheiße! Das sieht gefährlich aus. Der Schauspieler Alexander
Scheer turnt über das Dach der Volksbühne, umkreist die übermannshohen
Buchstaben „Ost“, die dort seit Jahren einen Erinnerungsraum und eine
Blickrichtung markieren. Das Publikum sieht ihn per Videoübertragung,
hinter dem schmalen Körper den Abgrund und dann die beleuchteten Straßen
der Stadt.
Er redet direkt in die Kamera die wütenden, höhnischen, strafenden Worte
des Großinquisitors an den gefangenen Jesus, eine in den Roman
eingeschobene Erzählung. Er ist voller Vorwürfe an diesen Jesus, der
gekommen ist, ihm Ärger zu machen, weil er den Menschen die Freiheit habe
bringen wollen; eine Freiheit, die sie völlig überfordere und unglücklich
mache. Der Großinquisitor setzt dagegen „Wunder, Geheimnis und Autorität“
als drei notwendige Instanzen des Glaubens, die den Menschen von der
„Freiheit“ befreien. „Freiheit“, was für ein von Illusionen vernebeltes
Konzept, spottet er.
## Demagogische Auftritt
Dieser demagogische Auftritt, dem Scheer ganz besondere Schärfe verleiht,
gehört zu den großartigen Szenen der Inszenierung. Der Text von Dostojewski
liefert dabei eine argumentative Unterstützung für die Szenen, die nach
einem Buch des russischen Autors DJ Stalingrad, „Exodus“, in die Gegenwart
springen, von Drogensucht und Straßenkämpfen zwischen neonazistischen
Fußballfans und linken Hools erzählen und Gewaltfantasien ausreizen.
Die Brüder sind dann plötzlich Angehörige einer postsowjetischen
Generation, die vom Kommunismus die Autoritätshörigkeit, vom Stalinismus
den Gedanken der Ausrottung und vom Mystizismus den Glauben, dass der Trieb
zum Bösen die Essenz des Menschen sei, geerbt haben und zu einer neuen
Mixtur aufkochen. In der Sauna hält einer von ihnen einen Vortrag über
Reinigungsprozesse und meint damit den Krieg als idealen Schauplatz,
Grausamkeit auszuleben.
Mag zwar im Stil der Inszenierung, in der Verausgabung der Schauspieler
viel an die früheren Dramatisierungen der Romane Dostojewskis durch Castorf
erinnern (an „Erniedrigte und Beleidigte“ und „Dämonen“ vor fast 15 Ja…
etwa), so hat sich doch das Verhältnis zum Romanautor gewandelt. Oder
scheint mir das nur so?
Damals jedenfalls kam mir das Irrlichternde, Irrationale der Figuren, ihr
Mit-nichts-zu-Potte-Kommen, ihr steter Zweifel an endlich gefassten
Entschlüssen ebenso wie das Energien verschwendende Spiel auch vor als ein
Widerstand gegen die Tugenden des Liberalismus, gegen das Smarte, Tüchtige
und Angepasste, gegen das rückstandslose Aufgehen in der Identität des
vereinigten Deutschland.
Jetzt dagegen ist in der Bearbeitung des Romans das Erschrecken viel größer
über das Wiedererkennen der vergangenen Muster in der Gegenwart. Was
Markierungen des eigenen Widerstands waren, ist besetzt von neuen
Ideologien. Und plötzlich steht man als Regisseur mit leeren Händen da;
nichts mehr zu geben außer trauern. Und weil das mutlos und müde macht,
setzt man ein bisschen mehr auf Tricks und Methoden, die früher den Laden
doch auch zum Laufen brachten und den Funken überspringen ließen.
## Sitzsäcke & Sitzsacksofas
Die Inszenierung dauert sechs Stunden, mehr als eine Pause gibt es nicht.
Das ist anstrengend, auch wenn man auf den Sitzsäcken und Sitzsacksofas,
die für die meisten Zuschauer in dem von Stühlen befreiten Saal und auf der
Bühne bereitliegen, auch mal schlummern kann.
Anstrengend ist es auch, weil Handlung und Erzählung kaum noch Spannung
liefern. Welcher der Brüder am Ende den niederträchtigen, sie stets
provozierenden und verachtenden Vater (den Hendrik Arnst lustvoll widerlich
gestaltet) ermordet hat, ist letztendlich egal; wer wen vorschiebt und
warum, bleibt verworren.
„Was redest du denn da?“, „Das ist doch schon wieder Philosophie!“;
durchaus vorwurfsvoll werfen sich die Figuren und die Schauspieler das an
den Kopf; der Zuschauer hat womöglich auch gerade den Faden verloren.
Rauszufliegen aus der Argumentationskette gehört dazu. Ja, eigentlich ist
es auch eine der Hauptbeschäftigungen der Brüder, sich nicht zu verstehen;
oder wenn der eine glaubt, sich im Bekenntnis des anderen zur eigenen
Verloren- und Verderbtheit wiederzuerkennen, voller Empörung zurückgewiesen
zu werden.
## Sehnen als Schwäche
So geht es Alexej, der zwischen den Brüdern, dem Vater und den Frauen (um
die Vater und Söhne teils konkurrieren) herumläuft und Konflikte zu lösen
versucht. In einem massigen Körper stattet ihn Daniel Zillmann mit Zartheit
und Zaghaftigkeit und dem tiefen Wunsch nach Verstehen und Anteilnahme aus.
Vielleicht sehnen sich die anderen sogar nach seiner Empathie – aber weil
Sehnen als Schwäche gilt, hassen sie ihn und auch sich wieder dafür.
Einen der Brüder, den illegitimen Sohn Pawel, spielt Sophie Rois, die Frank
Castorf und der Volksbühne seit vielen Jahren die Treue hält. Von allen
herumgestoßen, hat Pawel eine stille Präsenz. Sein Konzept ist die
Beobachtung, Eindrücke zu sammeln; beinahe sanftmütig wirkt das – und ist
doch wieder eine Art, den Hass zu nähren, diesmal den versteckten.
Natürlich bereitet dieses Unheimliche, Unberechenbare der Schauspielerin
eine große Lust.
## Sauna & Sargfabrik
„Die Brüder Karamasow“ ist eine Koproduktion der Volksbühne mit den
Festwochen Wien; dort fand die Uraufführung im Mai auf dem Gelände einer
ehemaligen Sargfabrik statt. In Berlin ist die Inszenierung die erste
Premiere der Spielzeit und Auftakt zu den letzten beiden Jahren von Castorf
als Intendant an diesem Haus. Im September und Oktober stand auf dem
Spielplan „Wir bauen um“: Nach einem Konzept von Bert Neumann wurden im
Zuschauerraum die Stuhlreihen entfernt und mit der Bühne zu einer
ansteigenden Rampe verbunden.
Über die ganze Länge wird nun gespielt und gerannt. Das Raumkonzept ist für
die letzten beiden Spielzeiten Castorfs gedacht. Die holzgetäfelten Wände
sind mit schwarzem Lametta verhängt. Hierhin lud die Volksbühne auch in der
Nacht von Sonntag auf Montag zum Feiern ein, zu Ehren von Bert Neumann, der
am 9. November 55 Jahre alt geworden wäre
Dass sich mit diesem Eingriff in den Raum aber noch einmal etwas am Konzept
des Theaters verändert hätte, wie bei früheren Erfindungen Neumanns, ist
nicht zu sehen. Gespielt wird in vielen verborgenen Nebenräumen, es gibt
eine ordentlich unter Dampf gesetzte Sauna, einen Teich, ein Hippiezimmer
für die Begegnung mit den launischen Liebhaberinnen, eine Mönchszelle und
enge Gänge, durch die die Kamera immer wieder vor den Schauspielern
hertanzt und expressionistische, klaustrophobische Bilder herstellt.
## Filmische Bilder
Überhaupt ist die Dynamik der filmischen Bilder größer als die der Körper
auf der Bühne. Das greift diesmal nicht so ineinander, ist nicht so
kommentierend verschachtelt wie in Castorfs „Baal“, in München inszeniert
und wegen Urheberrechtsverstößen verboten.
Vielleicht bringt man es als Projektion mit, dass all dies, das Einläuten
der letzten Runde, die persönlichen Verluste, auch als Last mitgeschleppt
wird durch diese Inszenierung. Man hat gerade keinen guten Lauf.
9 Nov 2015
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
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